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PARTEIEN/074: Deutsche und niederländische Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert (spw)


spw - Ausgabe 7/2008 - Heft 167
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Zwei Schwestern in Europa. Die deutsche und niederländische Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert

Von Marc Drögemöller


Doppelgängerinnen sind sie nie gewesen. Aber ihre politischen Parallelen blieben stets unübersehbar: Die deutsche und niederländische Sozialdemokratie, SPD und Partij van de Arbeid (PvdA), pflegen bis heute ein enges nachbarschaftliches Verhältnis zueinander. Durch die Nähe ihrer beiden Länder bot sich den Schwesterparteien eine gemeinsame Kulisse, die sie dank dergleichen ideologischen Herkunft und der langen Tradition der gegenseitigen Kontakte zu beleben wussten.

Die Verbindungen reichen bis in die Gründungsphase der niederländischen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Dem SPD-Bollwerk stand eine ausbaufähige und von jungen Intellektuellen getragene Findungsgruppe gegenüber. Diese fixierte sich mit ihrem missionarischen Eifer zunächst auf das wachsende industrielle Proletariat der niederländischen Großstädte. Die etablierte Schwesterpartei in Deutschland war als inhaltliche und organisatorische Ideengeberin gefragt, während das niederländische Pendant nur als ihr verlängerter Arm galt. Die "deutsche Filiale" in den Niederlanden, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), übernahm bei ihrer Gründung 1894 das kurz zuvor verabschiedete Erfurter Programm der SPD, übersetzte es in die Landessprache und nutze es als Blaupause für die eigene Politik. Großzügig zeigte sich in dieser frühen Phase der Zusammenarbeit die deutsche Partei, die der neuen Organisation nicht nur programmatische, sondern auch finanzielle Schützenhilfe gab. Eine der ersten Spenden erhielt die Amsterdamer Parteizentrale aus Berlin, wo der SPD-Parteivorstand den niederländischen Geistesverwandten 1500 Mark als Startkapital zur Verfügung stellte.

Die Bewunderung für die SPD verwischte erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die niederländische Partei programmatisch neue Wege ging und ideologischen Ballast über Bord warf. Die Niederländer leiteten ihr "Godesberg" bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein, während die SPD ihre Leitlinien erst 1959 modernisierte. Da lag es nahe, dass sich die NiederländerInnen bei ihrer eigenen Neuaufstellung 1945/46 zunächst nicht auf die durch den Krieg geschundene SPD konzentrierten, sondern die erfolgreiche britische Labour Party als Musterbeispiel heranzogen. Sie war zugleich Namensgeberin für die neue gegründete Partei der Arbeit, der sich andere Bewegungen angeschlossen hatten.

Nun war es umgekehrt: Im Verhältnis zur SPD gab die PvdA ihre parteipolitische und programmatische Erneuerung als Vorbild aus. Ihre Wahlerfolge unter der beliebten Vaterfigur Willem Drees, dem ersten sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in den Niederlanden überhaupt, der das Land zwischen 1948 und 1958 stabile zehn Jahre lang regierte, untermauerte ihren Anspruch. Trotz Krieg und Besatzungszeit fanden die beiden Schwesterparteien nach dem Krieg erstaunlich schnell wieder zueinander. Die niederländischen SozialdemokratInnen unterstützen die SPD bei ihrer Rehabilitierung innerhalb der Sozialistischen Internationale und beim demokratischen Wiederaufbau Deutschlands.


Konflikte statt Konsens in außenpolitischen Fragen

Uneins waren beide Parteien allerdings in außenpolitischen Fragen. Hier zeigte sich, dass SPD und PvdA nicht wie häufig gewohnt auf einer Wellenlänge lagen. Eine Schlüsselszene in den ersten Nachkriegsjahren machte dies deutlich. Nicht selten schickte die PvdA Alfred Mozer in das frühere Feindesland: Den in München geborenen Deutschen, der in der niederländischen Sozialdemokratie als internationaler Parteisekretär Karriere machte, nachdem er 1933 vor dem Nationalsozialismus in die Niederlande geflüchtet war. In seiner Funktion traf er 1946 auch mit Kurt Schumacher zusammen, um europäische Grundsatzfragen zu erörtern. Von dem Gespräch in Hannover blieb dem Besucher ein herausragendes Zitat des SPD-Vorsitzenden im Gedächtnis haften: "Umso länger er über Europa spricht", bemerkte Schumacher zum anwesenden Herbert Wehner, "desto schlechter wird sein deutscher Sprachgebrauch." Die ironische Bemerkung des Gastgebers fügte sich in das Bild, welches sich Mozer von Schumacher und seinen Vorstellungen zu machen begann: "Schumacher wollte nichts von Europa wissen." Er sei völlig von der Furcht erfüllt gewesen, Deutschland könne nach allen Seiten hin geteilt werden. Dies charakterisiere auch die Einstellung zu seinem, Mozers Standpunkt, der die europäische Integration unter deutscher Beteiligung nicht nur für wünschenswert, sondern für notwendig hielt. Sicherheit vor, aber mit Deutschland in einem westeuropäischen Kontext war eine Maxime, die sich unter den niederländischen SozialdemokratInnen etablierte. Die Begebenheit im Hannoveraner Provisorium wirkte daher prägend auf die Meinungsbildung Mozers und war als Vorlauf symptomatisch für das, was die Beziehungen der beiden Parteien in den fünfziger Jahren kennzeichnete. Statt Sprachbarrieren gab es ständige Kommunikationsprobleme und scharfe Auseinandersetzungen in der Sache, die bis zu einem Redeverbot Mozers auf SPD-Veranstaltungen führten.

Das schlechte Klima hellte sich erst auf, als die SPD personell und politisch neue Wege beschritt. Persönlichkeiten wie Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt gaben der Partei am Ende der fünfziger Jahre eine neue Kursrichtung. Sie machten ihre Partei nicht nur für die deutsche Wählerschaft attraktiv, sondern steigerten den Einfluss im internationalen Gefüge und formten sie wieder zu einer bekannten Marke unter Europas SozialdemokratInnen. Die bleiernen und kompromisslosen Jahre der Ära Kurt Schumachers gerieten in Vergessenheit. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg stand die niederländische Sozialdemokratie der SPD in außenpolitischen Fragen wieder näher als der CDU, nachdem sie in den fünfziger Jahren aus dem niederländischen Sicherheitsbedürfnis heraus zu der Anhängerschaft von Adenauers Außenpolitik gehört hatte. Aus der pragmatisch und solidarisch orientierten Interessengemeinschaft der vierziger und den konfliktreichen Beziehungen der fünfziger Jahre war eine strategisch-partnerschaftlich geprägte Kooperationsachse geworden. "Die Niederlande haben keine Angst mehr vor einer sozialdemokratischen Bundesregierung", meldete der deutsche Botschafter Josef Löns bereits Anfang der sechziger Jahre folgerichtig aus Den Haag nach Bonn.

Zum einen waren es die beiden Sicherheitspolitiker Fritz Erler und Helmut Schmidt, die in den Niederlanden verloren gegangenes Vertrauen in die SPD-Politik zurückbrachten. Mit ihrem am atlantischen Bündnis orientierten Kurs erwarben sie sich nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch bei den europäischen NATO-Partnern Respekt und Anerkennung. Zum anderen erkannte man in der PvdA an, dass die SPD mit Willy Brandt und Egon Bahr erste Schritte einer Ostpolitik einleitete, die zu einem realistischen Umgang mit der deutschen Frage führten.


Die PvdA entdeckt die DDR

Erst am Ende der sechziger Jahre wartete wieder eine größere Herausforderung auf das Parteienverhältnis. Ein aufstrebender Parteinachwuchs drängte in der PvdA stärker in den Vordergrund und verpasste der Partei ein zusätzliches Gesicht, ohne die ParteifunktionärInnen in diesem Wandlungsprozess zu verdrängen. Für die Beziehungen zur SPD hatte dies erhebliche Folgen, weil nun eine jüngere und überaus kritische Generation die Kontakte mit der deutschen Schwesterpartei organisierte. Die Auflösung gesellschaftlicher Verkrustungen in den Niederlanden benutzte die Neue Linke, Nieuw Links, als Gelegenheit, um in der Mutterpartei eigene Vorstellungen durchzusetzen. Die Gruppe, die sich in einer Wechselwirkung aus Inszenierung und tatsächlichem Veränderungswillen als frische Alternative präsentierte, forderte mehr Deutlichkeit in der Politik und brach mit alten niederländischen Parteistrukturen. Mit einer Polarisierungsstrategie grenzte man sich vom politischen Hauptgegner, der katholischen Partei, ab und entfachte politische Brandherde, die der eigenen Profilierungssucht nutzen und dem Aufstieg als feste Parteigröße dienen sollten.

Eines dieser Themen war das Plädoyer für eine vorzeitige völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Schon das Ansinnen sorgte in einer antikommunistischen Partei wie der PvdA für das provozierte Unverständnis und wurde von etablierten PolitikerInnen wie dem späteren Außenminister Max van der Stoel wegen des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen zurückgewiesen. Als sich die Gruppe mit ihren Vorstellungen jedoch auf einem PvdA-Parteitag 1969 durchsetzte, störte sich niemand daran, dass Parteien keine Staaten anerkennen können und sich Willy Brandt bei seinen ersten Schritten einer neuen Dstpolitik empfindlich gestört sah. Für die SPD, die geschockt und entrüstet zugleich auf diesen Vorgang reagierte, zeigte die Entwicklung, dass die Beziehungen zur PvdA nach einem erfolgreichen Abschnitt wieder in schwierigere Fahrwasser gerieten. Die Neue Linke legte nicht viel Wert auf gegenseitige Solidarität und ließ dies die deutschen Parteifreunde nicht zuletzt in der Anerkennungsfrage spüren. In den Niederlanden, wo man sich in dieser Phase stärker mit der eigenen Vergangenheit als einem von Deutschen besetzten Land beschäftigte, wurde die Bundesrepublik betont kritisch gesehen. Dies galt insbesondere für die Neue Linke in der PvdA, die ihre Haltung und ihren allzu positiven Gesamteindruck von der DDR als sozialistischem Idealbild auf die SPD übertrugen. Während man in Bonn mit den VertreterInnen der etablierten Sozialdemokratie wie dem langjährigen Parteiführer Joop den Uyl weiter gut kooperierte, hatte man für das andere Lager nur noch Antipathie übrig. Eine Entwicklung, die sich unter der Kanzlerschaft Schmidts verstärken sollte.


Willy Brandt - der "gute" Deutsche

Große Einmütigkeit bestand dagegen und dies galt für die gesamte PvdA mit der Person und der Politik des Bundeskanzlers Willy Brandt. Er genoss wegen seiner Reformpolitik nicht nur den Status eines guten Sozialdemokraten, sondern wegen seiner lupenreinen Vergangenheit auch den eines guten Deutschen. Seine Bemühungen in Osteuropa wurden als Politik der Aussöhnung und des Ausgleichs unterstützt. Als sein Weggefährte Den Uyl 1973 als zweiter Sozialdemokrat niederländischer Premier wurde, war es nicht ungewöhnlich, dass er von seinem "Freund Willy Ideen für die eigene Reformpolitik übernahm. Beiden Regierungschefs war es übrigens gleich, dass sie die Reformfähigkeit von Staat und Gesellschaft in ihren Amtszeiten überschätzten - bei allem politischen Veränderungseifer.

Dass es in den Folgejahren erneut zu Streit und Uneinigkeit kam, als Themen wie der Radikalenerlass, der Umgang mit dem RAF-Terrorismus und die Nachrüstung auf die politische Agenda kamen, war kein Sonderfall. Denn die besonderen Beziehungen zwischen PvdA und SPD kennzeichnete vor allem eines - sie waren durch und durch streitlustig. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass persönliche Kanäle dem Parteienverhältnis eine besondere Atmosphäre verliehen haben. Den Phasen mit Streit und Scharmützeln standen durchgehende freundschaftliche Kontakte wie zwischen Alfred Mozer und Herbert Wehner oder zwischen dem zweimaligen Außenminister Max van der Stoel und Helmut Schmidt gegenüber. Sie hielten das Verhältnis ihrer Organisationen über die politischen Grenzen hinweg lebendig. Gegenseitig verstand man diese deutsch-niederländische Verbindung als Ort der gemeinsamen Verständigung über die Ziele der europäischen und atlantischen Politik. Neben der sozialdemokratischen Herkunft ist dies die gemeinsame Perspektive, die die Beziehungen bis heute ausmacht. Die PvdA erkannte nach 1945 früher als die SPD, dass es vor dem Hintergrund des internationalen Klimas und der europäischen wie deutschen Teilung darauf ankam, Partnerschaften zu entwickeln und gemeinsame Verantwortung zu übernehmen. Die deutsche Schwesterpartei identifizierte man als wichtigen Schlüssel für eine notwendig gewordene Gemeinschaftsarbeit auf europäischer Ebene. Dieser Ansatz hat an Aktualität nichts verloren. Beim Bau eines sozialen Europas sind SPD und PvdA auch in Zukunft umso mehr gefragt.

Dr. Marc Drögemöller, geb. 1975, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Bundestagsabgeordneten und lebt in Berlin. Sein Buch über die deutsche und niederländische Sozialdemokratie, eine leicht gekürzte Fassung der Dissertation aus dem Jahr 2005, ist im Verlag Vorwärtsbuch erschienen.

Die im Text verwendeten Zitate sind dem Buch entnommen.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 7/2008, Heft 167, Seite 51-54
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2009