Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

PARTEIEN/111: Gründe für den Mitgliederboom bei der Piratenpartei (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012

Was hat sie, das ich nicht habe?
Gründe für den Mitgliederboom bei der Piratenpartei

Von Anna-Lena Wilde



Wenn Meinungsforscher den Piraten Wahlerfolge um die 10% prognostizieren, selbst die Grünen ihnen den Kampf ansagen und in den Medien ein wahrer Hype um die Partei ausbricht, dann stellt sich die Frage: Was haben die Piraten, was andere nicht haben?


Weder Funktionäre, die den Aufstieg der eigenen Partei mit dem der NSDAP vergleichen, noch Vorwürfe der Inhaltsleere, innerparteiliche Denunziationen, rassistische und frauenfeindliche Äußerungen, die selbst von der eigenen Jugendorganisation kritisiert werden, verschrecken die Wähler und Mitglieder der Piratenpartei. Sie gewinnt seit der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin kontinuierlich Mitglieder hinzu. Derzeit sind es rund 28.600 - und es werden wohl noch mehr.

Wie kommt es, dass die Mitgliederzahl der Piratenpartei rasant wächst, während anderen Parteien die Mitglieder davonlaufen und junge Mitglieder meist erst gar nicht gewonnen werden können? Sind es die jüngsten Erfolge im Saarland und in Berlin? Ist es die mediale Resonanz? Oder ist es einfach nur das "Anderssein"?

Zweifelsohne trägt alles davon ein wenig dazu bei, dass die Piraten weiteren Zulauf erhalten, es wäre aber zu kurz gefasst, den Grund des Erfolgs darauf zu reduzieren.

Es gibt zahlreiche Untersuchungen zu politischer Beteiligung junger Menschen. Was wollen sie? Wann engagieren sie sich? Was ist ihnen wichtig? Die Ergebnisse sind nicht überraschend und dürften auch bei anderen Parteien angekommen sein:

Junge Menschen sind nicht per se unpolitisch, aber sie wollen sich dort engagieren, wo sie etwas erreichen können. Sie wollen sich projektbezogen einsetzen anstatt sich dauerhaft zu binden. Und es gibt Themen, die viele junge Menschen interessieren und mit denen sie in ihrer Lebenswelt häufig konfrontiert sind. Themen wie Umweltschutz, soziale Benachteiligung, Bildungspolitik, aber auch Informations- und Kommunikationstechnologien zählen dazu. Wenn die Arbeit dann noch ohne viele Hürden möglich ist und Spaß macht, kann es sogar Parteiarbeit sein, wofür sich junge Menschen interessieren.


Parteiarbeit soll Spaß machen

Die meisten Mitglieder finden den Weg zur Piratenpartei über deren Themen. Viele davon gehen vom Oberbegriff Freiheit aus. Der Bürger soll frei und selbstbestimmt handeln sowie demokratisch teilhaben können. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Liberalisierung des Urheberrechts sind Themenschwerpunkte ebenso wie freier Wissensaustausch und vollkommen transparente Politik. Mit steigender Mitgliederzahl rücken zudem der freie Zugang zu Bildung und die Umweltpolitik in den Fokus der Aufmerksamkeit.

Wer sich dafür interessiert, erhält bei der Piratenpartei nicht nur die Möglichkeit in alt bekannten Parteistrukturen mitzuarbeiten, sondern kann sich auf inhaltlich oder zeitlich begrenzte Betätigungsfelder beschränken. Natürlich, das bieten mittlerweile - mehr oder weniger - auch andere Parteien, aber dank des Internets ist die Mitarbeit bei der Piratenpartei weitgehend ortsunabhängig möglich. In Arbeitsgemeinschaften können sich die Mitglieder in Bereichen wie der Entwicklungspolitik, der Erarbeitung des Parteiprogramms, der Bürgerbeteiligung etc. einbringen oder auch außerhalb der AGen punktuell mitwirken.

Die Forderungen der Piraten sollen ebenfalls vor Ort durchgesetzt werden. Neben Stammtischtreffen wird auch schon einmal zu einem Flashmob aufgerufen, bei dem Piraten nackt über ein Flughafengelände laufen, um gegen Ganzkörperscanner zu protestieren oder im Wahlkampf werden heimische Gewässer - ganz im Sinne der Piratenfolklore - mit beflaggten Booten befahren. Parteiarbeit soll auch Spaß machen.

Viel beachtet ist die besondere Form der Basisdemokratie in der Partei. Relativ unbedarft sitzen Mitglieder des Parteivorstands oder Abgeordnete in Talkshows und sagen, dass die Partei zur Eurokrise noch keine Meinung hat. Ein Beschluss müsse erst noch gefasst werden. Was in der Tagespolitik ein Problem darstellt, ist für die Mitglieder ein wichtiger Grund dabei zu sein.

Es gibt keinen Vorsitzenden, der allein die Richtung vorgibt. Es zählt die Meinung des Schwarms. Und diese "Schwarmintelligenz" bildet sich nicht erst beim Parteitag. Vorher werden im Netz Anträge diskutiert, geändert, verworfen. Jeder Pirat kann zu jeder Uhrzeit von jedem Ort der Welt Einfluss auf die Politik seiner Partei nehmen.


Aufgeweichte Beteiligung

Aber die Mitarbeit ist für Mitglieder dennoch kein ewiger Freudentaumel. Marathonsitzungen und hitzige Debatten vor Abstimmungen gehören eben auch zu dieser Basisdemokratie. Schließlich gibt es kein Delegiertensystem: Jedes Mitglied darf zu Parteitagen kommen, reden, abstimmen. Das verlängert Entscheidungsprozesse oder verhindert, wie auf dem letzten Parteitag in Neumünster, sogar, dass geplante inhaltliche Entscheidungen überhaupt getroffen werden können. Für Inhaltliches blieb nach den Personaldebatten schlichtweg kaum Zeit. Die vielbeschworene Basisdemokratie konsequent durchzuhalten, wird mit wachsender Mitgliederzahl freilich immer schwieriger.

Und auch jenseits von Parteitagen zeigt sich: Wer sich dauerhaft einbringen will, muss viel Zeit aufwenden, um sich durch Mails, Wikiseiten und andere Plattformen zu kämpfen. Die Arbeitsbelastung aktiver Mitglieder wächst drastisch an. Das erklärt auch, warum nicht jedes Mitglied jederzeit mitwirken will. Die direkte Beteiligung wird bereits aufgeweicht, wenn Mitglieder bei Liquid Feedback ihr Stimmrecht an Andere abtreten.

Das Internet hilft zwar dabei, dass viele Mitglieder die Chance zur Teilhabe erhalten, doch es gilt: Je formeller die Abstimmung, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie vor Ort stattfindet. Wer in der Piratenpartei etwa bei Personalentscheidungen mitmischen will, muss vor Ort erscheinen. Die internetbasierte Entscheidungsfindung hat hier ihre Grenzen.

Und im Internet lauern Gefahren: Jeder kann Informationen und Meinungen in den verschiedenen Plattformen kommunizieren. Es gibt tausend Themen hinter einem Link und tausend Links auf ein Thema. Wer kann da noch die Orientierung behalten?

Vielfach war die Partei wegen ihrer sogenannten "shitstorms" in den Medien. Die Hürde, den anderen im Netz zu diffamieren, ist niedrig. Die Anonymität schützt den Kritiker und verhindert häufig eine sachliche Diskussion. Viele Mitglieder sind über den rüden Ton frustriert oder scheuen sich, andere Meinungen zu vertreten und ziehen sich zurück. Neben Frustrationen droht zudem auch Langeweile, denn auch bei den Piraten müssen Gremienarbeit betrieben, Debatten geführt und Parteitage organisiert werden, wie in allen Parteien auch.

Nun kämpft die Partei in letzter Zeit auch noch vermehrt mit rechtsextrem gesinnten Mitgliedern. Sie hat sich zwar auf dem letzten Parteitag klar davon abgegrenzt, wird sich gleichwohl immer wieder fragen müssen, wie weit ihr Freiheitsverständnis gegenüber diskriminierenden Äußerungen von Parteimitgliedern reicht.

Die Piraten bieten viele Anreize für die politische Teilhabe junger Menschen, was davon für andere Parteien nachahmenswert ist und was nicht, bedarf erst noch der kritischen Erörterung. Das meiste davon basiert nicht auf neuen Erkenntnissen. Spätestens seit den 90er Jahren wird in nahezu allen Parteireformdebatten gefordert, die Mitglieder direkter einzubinden und ihnen thematisch und zeitlich begrenzte Mitarbeitsmöglichkeiten zu geben, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg.

Was hat die Piratenpartei, was andere nicht haben? Sie hat ein offenes und partizipatives Politikverständnis. Hierarchien und Hürden sind unerwünscht. Dies verwirklicht sie durch umfassende Nutzung des Internets. Demgegenüber verharren die etablierten Parteien, die eigentlich auch Willensbildung als bottom-up-Prozess versprechen, de facto beim Prinzip der top-down-Entscheidungen. Das gleicht dann manchmal eher einer Partizipationssimulation, als wirklicher Mitwirkung.

Die Piratenpartei bietet ihren Mitgliedern hingegen etwas Einzigartiges: Offline wie online lädt sie - vor allem durch die konsequente Nutzung der technischen Möglichkeiten - zu nahezu grenzenloser Partizipation, Transparenz und Offenheit ein. In welchem Maße sie das am Ende in der Praxis durchhalten wird und wohin das inhaltlich führt, ist freilich heute eine offene Frage.


Anna-Lena Wilde (*1984) ist Politikwissenschaftlerin und promoviert an der Universität Siegen zu innerparteilicher Partizipation.

(anwilde@gmx.de)

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012, S. 20-22
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2012