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REDE/810: Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg zum Haushaltsgesetz 2010, 20.01.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand - 20.01.10

Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 2010 in Berlin


Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Bundeswehr wird Tag für Tag mit vielfältigen Erwartungen, aber auch mit einem sehr breiten Einsatzspektrum konfrontiert. Unsere Soldaten sind da, wenn es bei Schnee und Eis zu größeren Katastrophen kommt; gottlob sind wir heuer weitestgehend davon verschont geblieben. Wir haben mit Blick auf Haiti unverzüglich ein Angebot zur Unterstützung abgegeben. Unsere Soldaten sind da, wenn etwa, wie in Afghanistan, nach Ausbildern gerufen wird.

An den Einsatz unserer Streitkräfte sind hohe Erwartungen geknüpft, und der Einsatz ist gefährlich. Er ist risikobeladen, um etwas aufzugreifen, was heute Morgen diskutiert wurde. Dies hat uns das Jahr 2009 auf schmerzliche Weise gelehrt. Auch im vergangenen Jahr hatten wir Gefallene und Verwundete zu beklagen. Das ist die traurige Wahrheit. Gerade deshalb lasse ich es mir nicht nehmen, diese Wahrheit offen anzusprechen.

Wir denken an ihre Familien, und wir ehren zu Recht unsere Soldaten. In diesem Zusammenhang danke ich Franz Josef Jung von Herzen, der für diese Ehrung Großes geleistet hat.

Wir brauchen gerade für die Ereignisse in den Einsatzgebieten, insbesondere für den in Afghanistan, eine klare Sprache: eine Sprache, die die Menschen verstehen, und eine Sprache, die nicht allein taktisch geprägt ist. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren Dienst. Sie erfüllen ihren gefährlichen, ja auch riskanten Auftrag, und wir können uns auf sie verlassen. Das ist ein leicht gesagtes Wort, aber trotzdem eines mit einer tiefen Bedeutung.

Aber unsere Soldaten haben damit ein Anrecht darauf erworben, dass sie sich auch auf uns verlassen können. Dies muss miteinander in einem Wechselspiel stehen. An dieser Stelle danke ich auch im Namen unserer Soldatinnen und Soldaten Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, für Ihre große Unterstützung gerade bei der Beschaffung des notwendigen Materials, insbesondere geschützter Fahrzeuge, die zunehmend bedeutsamer werden. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtig, überlebenswichtig. Diesen Dank verbinde ich mit der Bitte, hierbei auch weiter auf Ihre Unterstützung zählen zu dürfen.

Zur Verlässlichkeit gehört eine ausreichende Mittelausstattung. Gerade in der Haushaltsdebatte darf ich diesen Hinweis wagen. In diesem Jahr wollen wir für die Bundeswehr etwas über 31 Milliarden Euro ausgeben, ein großer, ein hoher Betrag, aber gleichwohl gut investiertes Geld. Aufgabe politischer Führung ist es, durch den Einsatz dieser Mittel die Bundeswehr als Instrument unserer Sicherheitspolitik zu stärken. Auch hierfür erbitte ich die Unterstützung des Deutschen Bundestages.

In den vergangenen Wochen konnte ich ein facettenreiches, ein sehr breites Bild von der Bundeswehr gewinnen, von ihren Stärken, aber auch von Bereichen, in denen Nachsteuerungsbedarf besteht. Bei meinen Gesprächen und Besuchen habe ich viel von Herausforderungen und Handlungsfeldern gehört, von Optimierungspotenzial, von Effizienzsteigerung, von Entscheidungsbedarf, aber eben auch von Überbeanspruchung und von Überforderung.

Im Kern geht es um zwei prioritäre Aufgabenfelder, die sehr eng miteinander verknüpft sind.

Es sind dies zum Ersten die Einsätze. Seit 1992 befindet sich die Bundeswehr ununterbrochen im Auslandseinsatz.

Zum Zweiten ist es die konsequente Fortsetzung der Transformation der Bundeswehr. Vergessen wir nicht: Mit unseren Entscheidungen sorgen wir dafür, dass Menschenleben geschützt und gerettet werden. Wir haben dafür zu sorgen, dass unsere Soldaten ihren Dienst wirksam so versehen können, dass ihr Leben im Einsatz möglichst wenig gefährdet wird. Das ist unsere Aufgabe.

In Afghanistan, wo derzeit rund 4.500 Frauen und Männer der Bundeswehr für unser Land in einer sehr schwierigen Mission stehen, sehen wir gerade dies in besonderer Weise.

Dort werden die drei zentralen Eigenschaften der Herausforderungen unserer Sicherheit von heute deutlich:

Das Erste ist das, was man mit Asymmetrie umschreibt. Sie wird viel beschrieben, aber selten korrekt.

Das ist zum Zweiten die globale Natur der Herausforderungen, die keinen Halt mehr vor Grenzen macht, und

zum Dritten die zwingende Notwendigkeit eines umfassenden, ja, vernetzten Ansatzes aller Akteure und deren Mittel. Wie sehr wurde über Jahre über den Begriff "vernetzte Sicherheit" gespottet, und wie wichtig und wie bedeutsam ist gerade dieser Ansatz geworden. Im Verständnis unserer Bündnispartner, aber auch vieler anderer Partner auf dieser Erde hat er sich niedergeschlagen.

Auf der Afghanistan-Konferenz am Donnerstag der kommenden Woche wollen wir die Strategie der internationalen Gemeinschaft notwendigerweise gemeinsam mit unseren afghanischen Freunden anpassen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen dabei die gemeinsamen Ziele. In diesem Verständnis gilt es, mit der afghanischen Regierung die Anpassung an unsere gemeinsame Strategie voranzubringen. Es versteht sich von selbst - das gehört sich -, dass wir den Deutschen Bundestag mit den Wegen und Mitteln des weiteren Engagements befassen. Ich will noch einmal betonen - das habe ich in den vergangenen Wochen oft gesagt -: Wir dürfen uns nicht in einer intellektuell überschaubaren Diskussion, einer reinen Truppenstellerdebatte, verlieren. Das würde den Anforderungen nicht gerecht werden.

Zur Klarheit gehört ohnehin die Erkenntnis, dass Soldaten allein den Frieden und die Sicherheit in Afghanistan nicht wiederherstellen können. Der Schlüssel, gerade im Bereich Sicherheit, liegt in der Ausbildung der afghanischen Kräfte, der Armee, aber auch der Polizei, die in den letzten Jahren stärker, wirksamer geworden sind. Wir sind aber noch nicht an dem Ziel, das wir uns vorstellen. Wir können dies nur gemeinsam auf einer ressortübergreifenden Grundlage erreichen. Wir brauchen dafür klare Benchmarks, wie man das heute neudeutsch nennt. Wir brauchen aber auch klare Zeitlinien und entsprechende Zeitfenster, um den Ausbildungserfolg, aber auch den Aufbauerfolg messen zu können und um daraus die notwendige Abzugsperspektive zu entwickeln. Wir wollen beim Thema Abzugsperspektive nicht hinter anderen zurückstehen, die sich dazu bereits geäußert haben.

Die afghanische Sicherheit braucht - das mag banal klingen - ein afghanisches Gesicht. Wir würden einer Illusion erliegen, wenn wir glaubten, dass die internationale Gemeinschaft das alleine erreichen kann. Dieses afghanische Gesicht der Sicherheit muss klarer erkennbar werden. Dem versuchen wir auch konzeptionell nachzukommen. Gerade mit dem Konzept des sogenannten Partnering wird bereits jetzt in Afghanistan mit unterschiedlicher Intensität dafür Sorge getragen, dass sich die Voraussetzungen für die Sicherheit des Landes kontinuierlich fortentwickeln.

Kerngedanke ist, dass Ausbildung und Schutz zusammengehören und untrennbar miteinander verbunden sind. In dem Sinne heißt Partnering richtig verstanden nicht entweder Sicherheit oder Ausbildung jeweils für sich allein, sondern es bedeutet, dass beides einander bedingt und Teil eines Konzeptes sein soll und muss. Diese Neuerung ist allerdings noch nicht überallhin durchgedrungen. Es ist wichtig, dass wir offen darüber diskutieren.

Afghanistan ist nur einer von gegenwärtig zehn Auslandseinsätzen. Auch darauf darf man immer wieder hinweisen. Die Bundeswehr ist heute ganz ohne Zweifel eine Armee im Einsatz. Wir haben heute schon einmal an dieser Stelle darüber gestritten, was das heißt. Ist das etwas, was Routine werden darf? Mit Sicherheit nein. Das soll und darf es nicht. Ist es aber Realität? Ja, und dieser Realität haben wir uns zu stellen. Dafür haben wir unsere Verpflichtungen zu erfüllen.

Wir stehen diesbezüglich auch zu unserer Verantwortung, aber wir wollen keine Weltpolizei sein. Das könnten wir auch nicht, weil es ebenso anmaßend wie utopisch wäre.

Es bleibt sicherlich auch ein grundlegendes Dilemma - diesen Ansatz sollten wir vielleicht noch etwas stärker diskutieren -, dass wir, die Maßstäbe unseres Engagements in Afghanistan zugrunde gelegt, uns leider nicht in allen nahezu vergleichbaren Regionen dieser Erde engagieren können. Das ist manchmal auch eine Gratwanderung hin zum Zynismus. Diese Diskussion gilt es zu führen.

Wir haben in diesem Hohen Haus oft von der Notwendigkeit einer sehr breiten sicherheitspolitischen Debatte gesprochen und bisweilen beklagt, dass punktuelle Ereignisse zu überzogenen Reaktionen geführt haben mögen. Heute und im Zuge dieser Debatte bietet sich die Chance zu einer vertieften Diskussion.

Unsere Erfahrungen aus den internationalen Einsätzen zeigen: Die Bundeswehr ist grundsätzlich leistungsfähig, jeder einzelne Soldat sicherlich auch. Von unseren rund 250.000 Soldatinnen und Soldaten sind gegenwärtig rund 7.000 in den derzeit laufenden Einsätzen gebunden, darunter auch etwa 500 Reservisten. Hinzu kommen weitere 1.800 Soldaten, die wir für den kurzfristigen Einsatz im Rahmen der NRF und der EU-Battle-Groups bereithalten. Diese Verpflichtungen stehen im Hinblick auf Vorbereitung und Ausbildung einem Einsatz in nichts nach.

Im internationalen Vergleich fällt dieser Anteil eher bescheiden aus. Auch daran darf man gelegentlich erinnern. Ihn zu vergrößern, heißt freilich nicht, die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee zu machen. Die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr muss aber immer wieder aufs Neue bekräftigt und sichergestellt werden. Auch das ist unser Auftrag.

Aus dem, was wir heute "Denken vom Einsatz her" nennen, gilt es dann auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen: für die Strukturen, die Fähigkeiten und am Ende auch für die konzeptionellen Grundlagen. Das ist eines der strategischen Ziele, an denen die Bundeswehr und sicherlich auch die Bundesregierung sich werden messen lassen müssen.

Mit den bisherigen Strukturen - das ist mein klarer Befund - werden wir die Leistungsfähigkeit unserer Bundeswehr auf Dauer schwerlich sicherstellen können. Die Frauen und Männer unserer Bundeswehr können die vorhandenen Schwächen zwar kompensieren, aber sie sollten es nicht müssen. Das erfährt man immer wieder in besonderer Weise aus den Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten und aus ihren Rückmeldungen.

Deshalb müssen wir uns fragen: Haben wir die richtigen Schlüsse aus diesen Entwicklungen gezogen? Wissen wir, worauf wir uns einstellen müssen? Sind wir auf die schon genannten Herausforderungen richtig und umfassend vorbereitet?

Wir brauchen Strukturen, Prozesse und Verfahren, die dem Ja zum Einsatz, dem Kontinuum des Einsatzes Rechnung tragen: von der Krisenfrüherkennung über die Planung, Mandatierung und Vorbereitung sowie die Führung und Durchführung bis hin zur - was gelegentlich unterschätzt wird - Nachbereitung eines Einsatzes. Auch das wird in Afghanistan sicherlich noch eine gewichtige Rolle spielen müssen. Wir stehen diesbezüglich vor erheblichen Aufgaben.

Ich habe deshalb mein Haus beauftragt, in einer schonungslosen Analyse auch die bestehenden Defizite zu benennen und Vorschläge zu erarbeiten. Dabei wird es keine Tabus geben dürfen. Ich will in diesem Kontext letztlich nichts Geringeres, als dass die Bundeswehr für eine stets erneuerte Kultur der Offenheit und des Vertrauens steht. Wir brauchen auch unkonventionelle Lösungen. Deshalb wird sich unmittelbar nach Vorliegen der Analyse eine Kommission mit den Defiziten befassen, eine Kommission, die politische, militärische, administrative, wirtschaftliche und rechtliche Expertise in sich vereinen wird. Ihr Kernauftrag wird darin bestehen, zügig Vorschläge zu einer effizienten und einsatzorientierten Spitzenstruktur des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundeswehr zu erarbeiten. Zur Überprüfung der Strukturen durch die Kommission wird auch gehören, sich Gedanken über die Rolle, die Funktion und auch die Kompetenzen herausgehobener Spitzenpositionen zu machen. Dazu gehört nicht nur der militärische, sondern gerade auch der zivile Bereich. Der Einsatz ist Richtschnur, wenn wir dann Kompetenzen ressourcensparend zusammenfassen, überlappende Zuständigkeiten beseitigen und unnötige Redundanzen abbauen wollen.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1955 hat sich die Bundeswehr oft solchen Anpassungsprozessen stellen müssen. Dieser Transformationsprozess, der begonnen hat, wird uns sehr fordern. Die bestehenden Strukturen sollen Gegenstand der Betrachtung und nicht Grundlage sein. Dabei wird auch das ambitionierte Ziel der Verkürzung des Grundwehrdienstes auf sechs Monate eine gewichtige Rolle spielen. Wir müssen es schaffen, dass ein Gefühl der Gerechtigkeit des Dienens entsteht und herrscht und dass jeder einzelne Grundwehrdienstleistende das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Das muss weiterhin der Maßstab sein, wenn wir dieses Ziel erreichen wollen. Ich sehe der Debatte darüber und den Ergebnissen dieser Debatte mit einer gewissen Spannung entgegen, insbesondere weil ich alle Fraktionen des Bundestages an dieser Debatte beteiligen will. Ich bin sehr gespannt, welche Vorschläge gemacht werden.

Die Bundeswehr muss ein attraktiver Arbeitsplatz bleiben. Das hängt auch davon ab, inwieweit wir die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ermöglichen, Handlungsfelder identifizieren und entsprechend handeln. Das reicht von Kinderbetreuungsmöglichkeiten bis hin zu einem flexibleren Laufbahnrecht. Das sind ehrgeizige und schwierig zu erreichende Ziele. Aber sie sind richtig und wichtig.

Ich darf mit Blick auf unseren Haushalt einen anderen Punkt nennen, der mir wichtig ist. Einsatzfähigkeit heißt auch, über modernes und leistungsfähiges Gerät zu verfügen. Wir sind hier noch lange nicht am Ziel und haben einen teilweise harten und steinigen Weg zu gehen. Die Einführung einiger Systeme wird nur mit einem enormen Kraftakt möglich sein. In vielen Bereichen haben wir noch Defizite zu verzeichnen. Die Gründe sind vielseitig; das ist bekannt. Ich hoffe und baue hier auf große Gemeinsamkeit und einen klaren Austausch über die Dinge. Nicht alles, was man vorfindet, ist erfreulich, zum Beispiel wenn Vertragsstrukturen offenbar nicht die Geltungskraft entfalten, die sie sollten. Hier ist das Miteinander von Regierung und Parlament von größter Bedeutung.

Insgesamt geht es um nichts Geringeres als um die Zukunft der Bundeswehr; das wurde wahrscheinlich schon oft gesagt. Es geht damit auch um unsere Zukunft und darum, dass unsere Kinder in Zukunft weiterhin in Frieden und Freiheit leben können.


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Quelle:
Bulletin Nr. 06-3 vom 20.01.2010
Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
zum Haushaltsgesetz 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2010