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REDE/886: Regierungserklärung - Thomas de Maizière zur Neuausrichtung der Bundeswehr, 27.05.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, zur Neuausrichtung der Bundeswehr vor dem Deutschen Bundestag am 27. Mai 2011 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat begonnen. In der vergangenen Woche habe ich die Eckpunkte dafür und neue Verteidigungspolitische Richtlinien vorgestellt und ausführlich begründet. Am Mittwoch haben wir meine Entscheidungen und Überlegungen in den Verteidigungsausschüssen des Bundestages und des Bundesrates diskutiert. Das werden wir sicher auch weiter tun. Der richtige Ort für die öffentliche Diskussion über die Neuausrichtung der Bundeswehr ist aber natürlich das Plenum des Deutschen Bundestages. Deshalb bin ich für die Möglichkeit dankbar, mit der heutigen Regierungserklärung und der gleich folgenden Aussprache die sicherheitspolitische Debatte in dieses Hohe Haus zu führen.

Wir brauchen diese politische Diskussion; denn ich bin davon überzeugt: Die Neuausrichtung der Bundeswehr geht nicht nur die Bundeswehr an. Gerade eine Armee ohne Wehrpflicht braucht die öffentliche Debatte über sie, und sie braucht öffentliche Unterstützung für die Nachwuchsgewinnung und für die Einsätze.

Die Bundeswehr hat seit ihrer Gründung 1955 einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Friedens in Freiheit im geteilten Deutschland geleistet, aber auch zum Frieden in Europa und in der Welt.

Sie hat auch das Bild eines weltoffenen und seiner Verantwortung bewussten Deutschland mitgeprägt. Dafür war es von Zeit zu Zeit immer wieder notwendig, die sich ändernden Herausforderungen für unsere Sicherheit neu zu bewerten und den Auftrag der Bundeswehr entsprechend neu zu definieren. Jetzt ist es wieder notwendig.

Unsere Bundeswehr ist jetzt so auszurichten, dass sie für die erkennbaren sicherheitspolitischen Herausforderungen von heute gewappnet ist, aber auch für die noch nicht klar erkennbaren Herausforderungen von morgen - so gut es eben geht. Dieses Ziel verbindet uns alle. Es ist eine gute Tradition, dass wir zu den grundlegenden Entscheidungen zur Sicherheitspolitik ein großes Einvernehmen zwischen Regierung und Opposition hatten und haben. Ich will mich auch jetzt darum bemühen - und habe es bereits getan.

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien sind der Ausgangspunkt für die Neuausrichtung. Die Organisation der Bundeswehr folgt ihrem Auftrag und nicht umgekehrt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien formulieren die sicherheitspolitischen Zielsetzungen und die langfristigen Sicherheitsinteressen Deutschlands deutlich und in klarer Sprache. Auf dieser Grundlage werden die Aufgaben der Bundeswehr festgelegt. Unsere nationalen Interessen wahren, internationale Verantwortung übernehmen und die Sicherheit gemeinsam gestalten - das ist der Anspruch an unsere Politik und an unsere Bundeswehr.

Eigentlich sollte es inzwischen eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir uns über unsere nationalen Interessen im Klaren sind und sie offen vertreten. Es sollte ebenso selbstverständlich sein, dass wir in den internationalen Organisationen - in den Vereinten Nationen, in unserem nordatlantischen Bündnis, in der Europäischen Union - die internationale Verantwortung übernehmen, die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man von uns erwartet. Das ist mehr, als es bisher in Deutschland bekannt oder wohl auch akzeptiert ist.

Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, unserer geografischen Lage, den internationalen Verflechtungen unseres Landes und unserer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland und rohstoffarme Exportnation. Auch Bündnisinteressen sind meist zugleich unsere nationalen Sicherheitsinteressen. Sicherheit für unser Land zu gewährleisten, bedeutet heute insbesondere, Auswirkungen von Krisen und Konflikten möglichst auf Distanz zu halten und sich aktiv an deren Vorbeugung und Einhegung zu beteiligen. Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente im Rahmen des Völkerrechts einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften.

Militärische Einsätze ziehen weitreichende Folgen nach sich, auch politisch. Das muss man vor jedem Einsatz bedenken. Auch das Ende muss man bedenken. Daher ist in jedem Einzelfall eine klare Antwort auf die Frage notwendig, inwieweit die unmittelbaren oder mittelbaren Interessen Deutschlands oder eben auch die Wahrnehmung internationaler Verantwortung den jeweiligen Einsatz erfordern und rechtfertigen, aber auch, welche Folgen die Entscheidung hat, nicht an einem Einsatz teilzunehmen. Wir bleiben dabei zurückhaltend und verantwortungsvoll - in jede Richtung.

Unsere Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen sind hervorragende Repräsentanten unseres Landes. Sie sind gerade auch mit ihrer Uniform sichtbarer Ausdruck der Tatsache, dass wir unseren Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Welt leisten.

Im Grundgesetz steht: Eigentum verpflichtet.

Das ist, wenn Sie so wollen, die Kurzformel für die soziale Marktwirtschaft. Auf die internationale Politik übertragen, heißt das: Wohlstand verpflichtet. Daraus erwachsen auch internationale Verantwortung und Solidarität, und das kann auch heißen: Beteiligung an internationalen Einsätzen aus internationaler Verantwortung.

Wir haben den Anspruch, ein souveräner, starker und verlässlicher Partner im Bündnis, in Europa und in der Welt zu sein.

Wir erfüllen diesen Anspruch. Das umfassende Engagement der Bundeswehr etwa im Kosovo steht beispielhaft dafür, dass es Deutschland mit seiner internationalen Verantwortung ernst meint. Durch den vernetzten Einsatz von zivilen und militärischen Mitteln haben wir den Menschen auf dem Balkan nicht nur Frieden gebracht, sondern tragen wir auch weiterhin zur Stabilität der Region bei. Der Einsatz im Kosovo zeigt, wie wichtig es ist, Streitkräfte zum richtigen Zeitpunkt und in geeigneter Weise zum Einsatz zu bringen.

Die Wahrung unserer nationalen Interessen und die Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung ist nicht eine Aufgabe für die Bundeswehr alleine. Der Einsatz von Streitkräften muss nicht immer als zeitlich letztes Mittel erfolgen. Er darf aber immer nur dann erfolgen, wenn es keine geeigneteren Mittel gibt, um den Einsatzauftrag zu erfüllen.

Das Konzept der vernetzten Sicherheit setzt konsequent auf einen ressortgemeinsamen Einsatz. Wer zur internationalen Sicherheit beitragen will, kann dies nur, wenn die Instrumente richtig aufgestellt sind und ineinandergreifen. Wer etwa einen von inneren Konflikten geschundenen Staat stabilisieren will, kann nicht in erster Linie nur Soldaten einsetzen, sondern muss vielmehr auch Entwicklungshelfer, Lehrer, Richter und Polizeiausbilder sowie Wirtschaftsförderer zum Einsatz bringen.

Als ich in New York war, hat mich der Satz eines UN-Botschafters eines großen Staates sehr bewegt, der gesagt hat: Wir bekommen heutzutage in der Welt in ein Krisengebiet leichter zwei schwere Kampfbataillone als zehn Richter. - Denken wir einmal über diesen Satz nach, darüber, was dies eigentlich bedeutet und ob wir nicht, was vernetzte Sicherheit angeht, noch etwas weiter denken müssen.

Über die Mandate der Bundeswehr entscheidet der Deutsche Bundestag. Wer einen Auftrag erteilt und ein entsprechendes Mandat beschließt, der übernimmt Verantwortung. Verantwortung zu tragen, heißt dann auch Mitsorge und Fürsorge für die Bundeswehr, ihre zivilen Mitarbeiter und die Soldaten. Die verfassungsrechtlich gebotene Einbindung des Deutschen Bundestages für die Entscheidung über den Einsatz deutscher Streitkräfte bleibt wichtig. Sie stärkt auch die Soldaten im Einsatz. Zu speziell oder zu eng sollten die Mandate allerdings nicht formuliert sein. Die Soldaten vor Ort müssen lageangepasst verantwortlich entscheiden können.

Ziel der Neuausrichtung ist es, dass wir über eine leistungsfähige Bundeswehr verfügen, die der Politik ein möglichst breites Spektrum an Handlungsoptionen bietet und mitten in der Gesellschaft verankert bleibt. Die Aufgaben der Bundeswehr sind vielfältig: die Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO, die internationale Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung im Rahmen der Vereinten Nationen, die militärische Beteiligung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, die Rettung und Evakuierung deutscher Staatsbürger einschließlich der Geiselbefreiung im Ausland, Einsätze im Rahmen der humanitären Hilfe sowie Unterstützung bei heimischen Katastrophen und Heimatschutz. Das ist ein breites Aufgabenspektrum.

Krisen und Konflikte unterscheiden sich in ihren Anforderungen und treten meist kurzfristig und leider oft unvorhergesehen auf. Um sie eindämmen und lösen zu können, müssen wir in der Lage sein, auch über große Distanzen hinweg schnell und variabel einzugreifen. Ein dem entsprechendes Fähigkeitsprofil können unsere Streitkräfte jedoch heute noch nicht vorweisen.

Die Bundeswehr ist zudem strukturell unterfinanziert für die Aufgaben, die ihr gestellt sind. Sie verfügt nicht über ausreichende Mittel, nicht über ausreichende Fähigkeiten und nicht über optimale Führungsstrukturen, um ihre Aufgaben effizient zu erfüllen. Unser Ziel ist deshalb eine Bundeswehr, die ihren Auftrag mit den Mitteln, die sie hat, erfüllen kann, eine Bundeswehr, die nachhaltig finanziert ist, und eine Bundeswehr, deren Personalplanung demografiefest ist, also Rücksicht nimmt auf das, was an Menschen da ist.

Wir setzen auf ein breites Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Das neue Fähigkeitsprofil gibt eine Antwort auf die Frage, was wir können wollen, nachdem die Sicherheitspolitik die Antwort auf die Frage gegeben hat, was wir wollen können.

Es ist unsere nationale Zielvorgabe, langfristig zeitgleich rund 10.000 Soldatinnen und Soldaten in zwei großen und in mehreren kleineren Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements bereitstellen zu können. Das nennt man den internationalen "Level of Ambition". Für den Schutz der Heimat halten wir ausreichend Kräfte bereit. Zusätzlich setzen wir auf unsere Reservisten. Ihre Aufgabe wird wichtiger denn je. Insgesamt soll die Bundeswehr künftig über eine Personalstärke von bis zu 240.000 Angehörigen verfügen, davon bis zu 185.000 Soldaten und 55.000 zivile Mitarbeiter.

Zur Zahl der Soldaten. Wir planen 170.000 Berufs- und Zeitsoldaten ein, plus rund 5.000 freiwillig Wehrdienstleistende. Es können bis zu 10.000 weitere freiwillig Wehrdienstleistende hinzukommen. Sie kennen die Formel, die ich in der letzten Woche so zusammengefasst habe: 170 plus 5 plus x. Ich freue mich, wenn über die 5.000 eingeplanten weitere 10.000 freiwillig Wehrdienstleistende hinzukommen. Aber ich möchte mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung lieber sicher planen und Erwartungen übertreffen, als Erwartungen nicht erfüllen.

Auch das Ministerium ordnen wir neu. Wir straffen Hierarchieebenen, verringern die Zahl der Ministeriumsmitarbeiter von jetzt über 3.000 auf dann nur noch rund 2.000. Damit wir diese Ziele erreichen, müssen wir gleichzeitig Personal halten, Personal gewinnen und Personal abbauen. Das wird nicht leicht. Das erfordert neue Ansätze und Ideen in der Nachwuchsgewinnung, beim Personalumbau und auch beim Personalabbau. Das gilt umso mehr mit Blick auf die Tatsache, dass wir gleichzeitig den Umbau zu einer reinen Freiwilligenarmee zustande bringen müssen.

Die Neuausrichtung der Bundeswehr beginnt. In den nächsten sechs bis acht Jahren wird sich die Bundeswehr stärker verändern, als dies vielen heute vielleicht schon bewusst ist. Wir wollen, dass die Hauptveränderungen in den nächsten zwei Jahren stattfinden werden.

Die Bundeswehr setzt alles daran, ihre starke Bindung in die Gesellschaft auszubauen. Dazu setzen wir auch auf unsere Reservisten als Staatsbürger in Uniform. Das Angebot des freiwilligen Wehrdienstes ist nur ein Beispiel dafür, dass auch die neue Bundeswehr das vertritt, was unsere Soldatinnen und Soldaten heute schon auszeichnet: die Bereitschaft zum Einsatz für andere und die Bereitschaft zum Dienst für unser Land als Staatsbürger in Uniform.

Vergessen wir nicht: Während wir hier in Berlin über die Neuausrichtung der Bundeswehr diskutieren, erfüllen Soldaten der Bundeswehr gleichzeitig weiterhin die bestehenden Einsatzverpflichtungen - in Afghanistan, im Libanon, auf dem Balkan, in Afrika und an anderen Orten weltweit. Diese Einsätze und das Tagesgeschäft können nicht ruhen, während wir die Neuausrichtung der Bundeswehr planen. Auch das muss gleichzeitig erfolgen.

Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten bei der Erfüllung der von uns erteilten Mandate einen hervorragenden Dienst, häufig unter Einsatz ihres Lebens und Gefahren für ihre Gesundheit. Heute gedenken wir deswegen besonders des vor zwei Tagen gefallenen Kameraden und seiner Angehörigen.

Dass unsere Streitkräfte vollumfänglich in der Lage sind, zu kämpfen, ist auch die Maßgabe dafür, ob unsere Bundeswehr einsatzbereit ist. Die Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr wiederum ist die Maßgabe dafür, ob wir als Deutscher Bundestag unserer Verantwortung nachkommen - gegenüber den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes und gegenüber den Freunden und Partnern in der Welt.

Die Umsetzung beginnt. Der Grund ist gelegt. Die Feinplanung ist in Arbeit. Im Herbst lege ich die Details zu den Fähigkeiten der Bundeswehr im Einzelnen, zum neuen Personalsoll und das Stationierungskonzept vor. Mit der Verabschiedung des Haushalts in diesem Sommer besteht dann auch im Detail Klarheit über die Finanzierung.

Wir können diesen Auftrag am besten erfüllen, wenn wir ihn gemeinsam wahrnehmen: Bundesregierung, Deutscher Bundestag, Bundesrat und die deutsche Öffentlichkeit. Die Bundeswehr reicht der Öffentlichkeit die Hand. Ich hoffe, dass die Öffentlichkeit diese Hand annimmt und gemeinsam daran arbeitet, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr gelingt. So dienen wir Deutschland, so schützen wir die Menschen in unserem Land, so sorgen wir für unsere Sicherheit.


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Quelle:
Bulletin Nr. 54-1 vom 27.05.2011
Regierungserklärung des Bundesministers der Verteidigung,
Dr. Thomas de Maizière, zur Neuausrichtung der Bundeswehr
vor dem Deutschen Bundestag am 27. Mai 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2011