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WISSENSCHAFT/1074: Bedingungen und Möglichkeiten kritischer Wissenschaft (spw)


spw - Ausgabe 6/2010 - Heft 181
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Bedingungen und Möglichkeiten kritischer Wissenschaft(1)

Von Ulrich Brand


Ob wir die aktuelle Konstellation als Postfordismus, Neoliberalismus, Wissensgesellschaft oder anders bezeichnen und wie wir die aktuelle Krise auch einschätzen: Wir erleben eine enorme Aufwertung von empirisch-wissenschaftlichem und technologischem, insbesondere ökonomisch verwertbarem Wissen, die einhergeht mit der Ent- oder Abwertung anderer Wissensformen wie etwa des Erfahrungswissens oder auch von Reflexivität. Das hat Auswirkungen auf die institutionellen Formen wie Inhalte der Wissensproduktion.

Dazu kommt, dass das Wissenschaftssystem systematisch umgebaut wird. Hinter dem Leitbild eines "Europas des Wissens" steht das Ziel, die EU zum weltweit wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Raum zu machen. Dieses Projekt wird von den meisten gesellschaftlichen Kräften getragen. In Forschung und Lehre an den Hochschulen nimmt damit die Orientierung an Wettbewerbsfähigkeit zu; das was Torsten Bultmann die "standortgerechte Dienstleistungshochschule" nennt. Dies betrifft vor allem die Natur- und Technikwissenschaften, aber auch die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, allen voran die (Betriebs-)Wirtschaftwissenschaften. Hier spielen Kennzahlen wie eingeworbene Drittmittel, die Anzahl guter und sehr guter Studierender, Publikationen, impact-Faktoren u.a. eine Rolle. Dabei gibt es weiterhin große Unterschiede in den wissenschaftlichen Kulturen - das angelsächsische System als "Vorbild" dieses Prozesses hat naturgemäß weniger Anpassungsbedarf - und politisch-institutionellen Settings.

Angesichts der "rankings mania", so Bruno Frey in einer pointierten Analyse vom Oktober 2010, gehe es immer weniger um inhaltliche Substanz, sondern um einen quantitativ messbaren Output, nämlich Zitationen, mit dem eine Qualitätsvermutung einhergeht. Diese Messungen haben Auswirkungen auf Berufungen, Forschungsgelder und die Evaluation von wissenschaftlichen Einrichtungen. Die Arbeitsteilung im wissenschaftlichen Produktionsprozess - Frey argumentiert vor dem Hintergrund der Wirtschaftswissenschaften - führe dazu, dass die genannten AutorInnen eines Textes gar keinen Überblick mehr darüber haben, was sie eigentlich publizieren. Und der verschärfte globale wissenschaftliche Wettbewerb erzeuge einen hohen Publikationsdruck, was Rückwirkungen auf die Wahl des Forschungsgegenstandes hat: Er muss rasch bearbeitbar und publizierbar sein, es wird auf bestehende Daten zurückgegriffen und jüngere WissenschaftlerInnen werden ganz taktisch zur Zusammenarbeit mit Etablierten angehalten, damit sie eher in hochrangigen Zeitschriften publizieren können.

Mindestens genauso wichtig wie diese innerwissenschaftliche Tendenz ist jedoch die gesellschaftliche. Obwohl es zu einer Aufwertung von (verwertbarem) Wissen und in den Natur- und Technikwissenschaften zu beeindruckenden (teilweise kaum mehr kontrollierbaren) Innovationen kommt, geht das nicht unbedingt mit einer höheren Reflexionsfähigkeit der Gesellschaft über ihre vielfach problematischen Entwicklungen einher. Politikwissenschaft wird zunehmend zu Politik- und Kommunikationsberatung. Gleichzeitig nehmen Prozesse der sozialen Polarisierung, sozial-ökologische Probleme, ein Rückbau der Demokratie und vieles mehr auf nationaler, auf europäischer und auf internationaler Ebene zu.

Innerhalb dieser Konstellation, die zunehmenden gesellschaftlichen Probleme und das gar nicht oder selektiv expansive öffentliche Wissenschaftssystems, verschlechtern sich die Bedingungen kritischer Wissenschaft nochmals. Der Generationswechsel an den Hochschulen führte, trotz erfreulicher Ausnahmen, zu einem Rausdrängen kritischer Wissenschaft (häufig auch durch Umwidmung von Professuren), wobei die einzelnen Wissenschaftsfelder unterschiedlich strukturiert sind; in der Geographie, in der Geschlechterforschung oder in der Sozialen Arbeit scheinen derzeit kritische WissenschaftlerInnen eher unterzukommen als in der Soziologie und Politikwissenschaft, von der Wirtschaftswissenschaft ganz zu schweigen.

Vor dem genannten gesellschaftlichen und wissenschaftspolitischen Hintergrund sollen im Folgenden die Dilemma und Spielräume kritischer Wissenschaft beleuchtet werden. Dabei sei betont: Wissenschaftliche Praxis - und insbesondere die kritische - erschöpft sich nicht in akademischer und öffentlich finanzierter Tätigkeit. Wissenschaft wird in Unternehmen, aber auch an Forschungsinstituten, in Verbänden, staatlichen Stellen, politischen Stiftungen, NGOs, in Netzwerken sozialer Bewegungen und anderen Formen betrieben oder von Menschen und Kollektiven, die sich materiell anderweitig reproduzieren, außerhalb oder nur lose verbunden mit dieser Reproduktionsarbeit.


Kritische Wissenschaft

Es bedarf der stetigen Auseinandersetzung darüber, was die inhaltlichen und organisatorischen Ansprüche an kritische Wissenschaft sind. Kritik ist keine fixe Wahrheit, sondern ein Modus von Denken und Handeln, bei dem es neben Reflexivität auch um inhaltlich verbindliches Wissen geht (und kann m.E. nicht auf (neo-)marxistische Paradigmen enggeführt werden, und insbesondere die Geschlechterforschung hat kritische Impulse gegeben). Ich möchte nur einige Aspekte nennen, also ein (Selbst-)Verständnis skizzieren, das wahrscheinlich nicht von allen geteilt wird und das selbstredend in der Praxis schwierig zu realisieren ist.

Kritische Wissenschaft steht nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern ist Teil von ihr, sie erforscht Probleme und ihre Ursachen, bietet kritische Reflexionsmöglichkeiten bestehender und alternativer Gestaltungsformen oder macht selbst Vorschläge für Alternativen und trägt so zu gesellschaftlicher Entwicklung bei.

Sie ist problemorientierte Wissenschaft, und dies umso mehr angesichts der sich anhäufenden Probleme und krisenhaften Entwicklungen, aber nicht unbedingt problemlösungsorientiert. Das impliziert die Frage, wie in den konkreten theoretischen und empirischen Arbeiten und in der Forschungskooperation die vielfältigen Probleme in gesellschaftlichen Zusammenhängen gedacht und erforscht werden können. Denn die analytische Parzellierung in der Wissenschaft und das Ausblenden von Problemursachen ist ja selbst ein Herrschaftsmodus, der mit Anerkennung, Mitteln, Stellen, Nachwuchsförderung einhergeht und mit vielen gesellschaftlichen Interessen kompatibel ist.

Gegen den Formalismus vieler Mainstream-Ansätze versucht kritische Wissenschaft die historischen Gewordenheiten und Erfahrungen in den Blick zu nehmen; versucht sich auch und gerade wegen des Zusammenhangs der vielfältigen gesellschaftlichen Probleme und ihrer Komplexität inter- und transdisziplinär. Sie intendiert, für neue Probleme und Perspektiven offen zu bleiben (aktuell etwa im Bereich Migration und postkolonialer Ansätze). Dazu bedarf es einer Reflexion und Fortentwicklung der Begriffe, Theorien und Methoden, mit denen wir arbeiten. In diesem Sinne ist kritische Wissenschaft immer auch Wissenschafts(selbst-)kritik.

Kritische Wissenschaft ist, das macht sie vielen so verdächtig, herrschaftskritisch und nonkonformistisch. Sie ist, in welch gebrochener Form auch immer, dem gesellschaftlichen Projekt von Mündigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung verpflichtet, also der Schaffung von Verhältnissen, in dem gemäß der gesellschaftlichen Möglichkeiten die Bedürfnisse aller befriedigt werden. In diesem Sinne ist sie keine Ordnungs-, sondern Befreiungswissenschaft. Und sie erforscht - in Zeiten der sozial-ökologischen Krise notwendiger als je zuvor - nicht nur die Produktivität und Destruktivität der herrschenden Lebensweisen, sondern auch die Möglichkeiten ihres grundlegenden Umbaus.

Ein anderer Aspekt, der kritische Wissenschaft dem Mainstream verdächtig macht, ist die kritisch-solidarische Bezugnahme auf vom Anspruch her progressive gesellschaftliche und politische Akteure. Das geht einher mit einer Bezugnahme auf marginalisiertes und herrschaftskritisches Alltagswissen. Damit will kritische Wissenschaft auch einen Beitrag leisten, um die oft frustrierenden Erfahrungen von herrschaftskritischen Praxen zu reflektieren.

Schließlich: Kritische Wissenschaft beansprucht, die Bedingungen, unter denen wissenschaftlich gearbeitet wird, zu berücksichtigen und gegebenenfalls zu verändern. Denn Wissenschaft und handelnde WissenschaftlerInnen sind Teil einer herrschaftlichen gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit.

Die Skizze soll andeuten, dass kritische Wissenschaft nicht auf breite innerwissenschaftliche oder gesellschaftliche Anerkennung setzen kann. Das ist eine anzuerkennende Konstellation, in der Strategien entwickelt und Auseinandersetzungen geführt werden müssen, zumal es ja keine klar umrissene "kritische Wissenschafts-Community" gibt. Kenntnis und Reflexion des Handlungsterrains können dabei helfen.


Erfahrungen I: wissenschaftliches Publizieren

Es geht bei den Publikationen um einen vermeintlichen "Goldstandard", wie es ein Kollege treffend formuliert hat, und der heißt Publizieren in wissenschaftlichen Zeitschriften, die im Sozial Science Citation Index geführt werden. Die weitgehend unreflektierte Fokussierung auf begutachtete, vorzugsweise englischsprachige und möglichst "highly ranked" Zeitschriften mit einem kompliziert ermittelten hohen "impact factor" soll wissenschaftliche Praxis orientieren. Es geht - und das sollte kritische Wissenschaft wirklich sorgen - zu Lasten von Inhalten. Und es führt zu einer Abwertung anderer, wissenschaftlich valider Publikationspraxen.

Damit ist "ranking mania" aber eine Machttechnik der Wissenschaftsverwaltung und eine Anpassung an den akademischen Mainstream, da eben die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse neben der "scientific community" in einer breiteren Öffentlichkeit in politisch-aufklärerischer Absicht kaum interessiert. Wenn es dann zu Vergleichen kommt - etwa bei Stellenbesetzungen oder Drittmittelanträgen - schneiden kritische WissenschaftlerInnen oft schlechter ab. Die Zeitschriften-Rankings sind zudem eine Machttechnik der angelsächsischen Hochschulen und Zeitschriftenverlage, die damit ihre Vormachtstellung über wissenschaftliche Anerkennungsverhältnisse und Praxen untermauern. Und sie sind die Existenzbedingung der meist kostenpflichtigen Ranking-Agenturen selbst. Kritische Wissenschaft und Gesellschaftskritik sind möglich, müssen sich jedoch einer bestimmten Form anpassen und verlieren dadurch gesellschaftspolitische Relevanz.

Und schließlich entspricht der aktuelle Trend stark dem Bedürfnis der Wissenschaftsverwaltungen, zu quantifizieren. Davon zeugt der Begriff der "Wissensbilanz", die dann gleich von der Verwaltung auf Nützliches und Unnützes oder allenfalls Akzeptiertes (solange das Nützliche erbracht wird) geschmälert wird. Was an Publikationen und Zitationen gezählt wird, sind eben nur Beiträge in Zeitschriften. Auch Publikationen in wissenschaftlichen Sammelbänden oder gar Bücher spielen keine Rolle. Es scheint so, als wenn alles der Arbeit für einen besseren Platz im Universitätsranking untergeordnet wird.

Eine kritische wissenschaftliche Publikationspraxis muss sich zunächst dieser Mechanismen bewusst sein, die Machttechniken als solche begreifen und dann reflexiv mit ihnen umgehen. Um das deutlich zu sagen: Das Publizieren in englischsprachigen Zeitschriften ist für mich selbst mit meinen Ansprüchen wichtig. Ich rezipiere internationale Diskussionen, kooperiere mit WissenschaftlerInnen, die nicht Deutsch lesen, und möchte, dass die interessierten KollegInnen meine Texte lesen können. Der zusätzliche, insgesamt lohnende Aufwand besteht darin, die Texte in englischer Sprache zu schreiben oder zu übersetzen. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum sich alle WissenschaftlerInnen dieser einen Praxis unterwerfen sollen, um (potenziell) institutionell abgesichert arbeiten zu können. Zumal in einer Fremdsprache Differenziertheit und Genauigkeit der Argumentation schwieriger zu erreichen sind.

Doch neben diesem exemplarisch skizzierten Feld der Publikationen ändert sich der Kontext auf allgemeinere Art und Weise. Wir erleben, wie in der gesamten Gesellschaft, eine enorme Beschleunigung sozialer Entwicklungen und auch kollektiven wie individuellen Handelns (am deutlichsten wird das beim Verfassen von Anträgen für größere Forschungsprojekte, bei denen meist keine Zeit mehr ist inhaltlich zu diskutieren). Das ist zunächst nicht gut für kritische Wissenschaft, die ja auch Nachdenken und Umwege impliziert.

Der enorme Zeitdruck und die objektive wie selbst verursachte Selbstüberforderung ist die alltägliche Reproduktion der Beschleunigung, die eben kritische Wissenschaft als gerne gelebte Praxis schwierig oder sogar unmöglich macht.

Es fehlen zudem immer wieder Zeit und Raum, um die Entwicklungen zu reflektieren und entsprechende Strategien zu entwickeln. Das betrifft sowohl das direkte Umfeld, die Universität, die kritischen WissenschaftlerInnen in Wien, wie auch die überregionalen Netzwerke wie etwa die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG).

Ein anderes Problems besteht darin, dass akademische und damit auch die kritische akademische Wissenschaft heute strukturell in ihrer Beschleunigung und den ja nicht zu leugnenden Anforderungen mehr denn je Probleme hat, sich auf andere (wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche) Wissensformen einzulassen und ihnen mit Respekt zu begegnen. Die systematische Abwertung anderer Wissensformen und -inhalte wird implizit mitgetragen.


Erfahrung II: Lehr-Lern-Verhältnisse(2)

An den Hochschulen wird weiterhin ein verbindlicher Wissenskanon (der ja nicht nur aus kritischem Wissen besteht) vermittelt und weiterentwickelt. Daher bleiben die Hochschulen ein wichtiges Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Eine der größten Pressionen der aktuellen Entwicklungen ist die systematische Abwertung von Lehre. Die postulierten wissenschaftlichen Prioritäten werden, entgegen der alltäglichen Praxis, auf die Forschung gesetzt. In der Berufungspolitik spielt Lehre weiterhin eine deutlich untergeordnete Rolle.

Dazu kommen organisatorische Neuerungen wie die Bologna-induzierte Modularisierung der Lehre. Diese geht zweifellos mit einer Gefahr der Verschulung und Verflachung von Prozessen der Wissensaneignung einher, da für produktive Umwege und intellektuelle Suchprozesse die Zeit fehlt. Die Vermittlung schematisierten Wissens nimmt tendenziell zu und Wissenserwerb wird in ein Schema von Warenangebot und Nachfrage und Messbarkeit in ECTS-Punkte gepresst. Gesellschaftspolitisches Engagement neben dem Studium wird von immer mehr Studierenden als störend empfunden. Andererseits bietet die Restrukturierung - wenn reflektiert umgesetzt - auch die Chance einer größeren Motivation gerade der Studierenden mit anfangs weniger Motivation und weniger guten Studienbedingungen, wenn das Studium anfangs etwas strukturierter vonstatten geht. Wichtig wird es werden, dass Lehre wirklich ausfinanziert ist und dass die Bachelor- und Masterstrukturen zeitlich geöffnet werden, also auch länger als vorgegeben studiert werden kann. Ein Großteil der Studierenden muss lohnarbeiten und es gibt eine wachsende Zahl von Teilzeitstudierenden, die offenbar der Hochschulverwaltung ein Dorn im Auge, aber oft besonders motivierte und interessante Studierende sind.

Ein für mich motivierendes Leitbild in den Lehr-Lern-Verhältnissen ist jenes, an den Universitäten Menschen zu "nonkonformistischen Intellektuellen" (nochmal Max Horkheimer) (aus)zubilden, sie also in einem angeleiteten und dennoch möglichst selbstbestimmten Studium in die Lage zu versetzen, in ihren konkreten Praxen auch außerhalb der Universitäten - und das betrifft ja die allermeisten der Studierenden - jeweils kritisch reflektierend agieren zu können. Dafür sind aber die vorherrschenden Lehrformen, Seminargrößen und Modularisierung in der Tat oft ungeeignet, die Erfahrungen müssen aufgearbeitet, die Formen verändert werden (was ja mitunter bereits geschieht). Am Wiener Institut für Politikwissenschaft haben einzelne ProfessorInnen über 30 DiplomandInnen, was nur ein Indikator für die Unterfinanzierung ist.

Dabei ist gerade aus einer herrschaftskritisch-emanzipatorischen Perspektive weiterhin und gegen alle gesellschaftlichen Bilder von der "Überschwemmung" der Universitäten und den vielen "StudienabbrecherInnen" darauf zu insistieren, dass (Hochschul-)Bildung nicht nur für die Individuen selbst wichtig ist oder zumindest sein kann, sondern auch für die Absicherung oder Veränderung der Sozialstruktur, dass im Zugang zum Bildungssystem wie auch in den Inhalten von Bildung über praktische Gesellschaftsveränderung in die eine oder andere Richtung mit entschieden wird. Das zeigt sich in der Diskussion um Studiengebühren wie auch um die Begrenzung des Hochschulzugangs, der in Ländern mit derart konservativen Bildungssystemen wie in Deutschland oder Österreich sehr selektiv wirkt bzw. wirken würde. Insofern sind die steigenden Studierendenzahlen erfreulich, auch wenn "die" Studierenden keineswegs idealisiert werden sollten und die gesellschaftlichen Norm- und individuellen Aufstiegsvorstellungen wichtig sind. Entscheidend ist jedoch, den Studierenden nicht-repressiv die Möglichkeit zur Reflexion darüber zu geben, ob sie überhaupt und genau dieses Fach studieren wollen und ob es Sinn macht, selbstbewusst und begründet eine Studienrichtung oder ein Studium zu beenden. Das hat Konsequenzen für die Gestaltung der Lehre, um die konkret gerungen werden muss. Es stellt sich immer wieder die Frage, welche die kritische Pädagogik umtreibt, inwieweit Lernprozesse hin zu kritischem Denken und Arbeiten überhaupt planbar sind und inwieweit nicht die disziplinierenden Aspekte überwiegen (sei es im Hinblick auf generelle bürgerliche Normen oder zeitlich spezifischer auf neoliberale). Eine aus meiner Sicht aktuelle und dringende Aufgabe kritischer Wissenschaft besteht daher darin, den Erfahrungsaustausch zwischen Lehrenden und mit Studierenden über geeignete Lehr-Lernverhältnisse, für die es ja kein Patentrezept gibt, und verbindliche Inhalte in den je spezifischen Fächern zu fördern. Das geschieht teilweise - insbesondere während und in der Folge von Protesten - und sollte auch über die eigene Institution hinaus geschehen.


Erfahrung III: Infrastrukturarbeit

Eine Praxis, die im üblichen Forschungs-Lehre-Panorama oft untergeht, erachte ich als wichtig für kritische Wissenschaft und ich nenne sie behelfsmäßig Infrastrukturarbeit. Damit ist in der Tat zunächst die oft zeitintensive Gestaltung des eigenen Arbeitsumfeldes gemeint, etwa das oft zähe Ringen um transparente Prozesse auch unter Bedingungen wenig demokratischer Verfasstheit. Dazu kommen Aufgaben im wissenschaftlichen Feld, bei denen immer wieder entschieden werden muss, ob sie übernommen werden sollen. In Fachverbänden und -gremien zu agieren, bei Zeitschriften mitzuarbeiten oder Schwerpunkthefte herauszugeben, Workshops oder Kongresse auszurichten, Dissertationsbetreuungen zu übernehmen u.v.m.

In diesem Bereich geht, soweit ich das überblicken kann, die kritische Wissenschafts-Community im deutschsprachigen Raum unkoordiniert vor. Natürlich ist nicht alles koordinierbar, die Zusammenhänge sind unübersichtlich und zuvorderst entlang der Fächer strukturiert. WissenschaftlerInnen haben in einzelnen Bereichen ihre mehr oder weniger gut entwickelten eigenen Strukturen. Dennoch könnte es in wichtigen Fragen zu mehr Erfahrungsaustausch, Verständigung und abgestimmtem Agieren kommen, wie etwa bei der Besetzung von Fachgremien.

Infrastrukturarbeit wird auch wichtiger, weil Wissenschaft wahrscheinlich stärker als bisher in akademisch/nicht-akademischen Netzwerken stattfinden wird. Es ist Ausdruck sich verändernder Bedingungen. Immer mehr WissenschaftlerInnen arbeiten prekär, suchen aber Anbindung an die Universität als LektorInnen, für Drittmittelprojekte u.a. Dies ist produktiv, denn es schützt vor einem akademischen Tunnelblick und integriert andere Perspektiven und Erfahrungen in die wissenschaftliche Debatte. Zu diskutieren wären die Möglichkeiten sich verstetigender Diskussions- und sogar Arbeitszusammenhänge, welche gegen die Prekarisierung vieler WissenschaftlerInnen angehen könnten. Hier könnte ein Erfahrungsaustausch lohnen, aber auch ein gemeinsames Agieren gegen die Prekarisierung innerhalb der Wissenschaft (vgl. etwa das Templiner Manifest der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom September 2010; www.templiner-manifest.de).

Die Etablierung bzw. Aufrechterhaltung von akademisch/ nicht-akademischen Netzwerken sollte gerade nicht nur den prekär Beschäftigten aufgebürdet werden. Netzwerke kritischer Wissenschaft und die Reflexion der eigenen Praxis können zudem davor bewahren, in bestimmte Fallen zu treten: das akademische Distinktionsspiel um der Distinktion willen mitzumachen, beim Mainstream um Anerkennung zu buhlen, aber auch den Kritikbegriff zu einer unhinterfragten und bequemen Selbstbezeichnung werden zu lassen.


Vermutung: Fehlende Aufbrüche

Kritische Wissenschaft hat in ihrer Dynamik wie andere gesellschaftliche Praxen auch damit etwas zu tun, ob die handelnden AkteurInnen den Eindruck haben, dass ihr Agieren im wissenschaftlichen Feld und auf die Gesellschaft bezogen einen Unterschied macht. Etwas emphatischer ausgedrückt: Ob "wir an uns glauben". Den Eindruck habe ich, von vielen Ausnahmen abgesehen, für die kritische Wissenschaft insgesamt nicht. Die begonnenen und keineswegs einfachen Diskussionen darüber und was strategische Konsequenzen wären, etwa im Rahmen der AKG, sind abgebrochen.

Ich meine das nicht als voluntaristische Willensbekundung. Solch ein Handlungsdispositiv, demzufolge es um "etwas" geht, lässt sich nicht herbei schreiben. Das ist ein komplexer Sachverhalt, der mit realistischen Einschätzungen von wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Konstellationen und angemessenen Strategien, mit viel Aufwand und positiven Erfahrungen einhergeht. Fragen der Prekarisierung können hier nicht ausgeblendet werden, weshalb die Diskussion nicht nur von materiell abgesicherten WissenschaftlerInnen geführt werden kann. Meiner Erfahrung nach werden solche Diskussionen aber kaum geführt und wenn sie begonnen werden, rasch mit dem Hinweis auf Kontexte und Früher verunmöglicht.


Ausblick

Viele Erfahrungen können angesichts des begrenzten Raums nicht ausgeführt werden. Etwa das Spiel mit dem Professorentitel in der Öffentlichkeit, um Dinge sagen zu können, die eben ProfessorIn sagen kann. Daran schließt sich die Frage an, ob mediale Präsenz geplant und forciert wird, was dann Grenzen sind, oder ob sie "nachfrageorientiert" bleibt. Der Spagat zwischen akademischer Tätigkeit und solcher in und mit sozialen Bewegungen ist eine immer wieder zu reflektierende Erfahrung. Der Wert internationaler Kooperationen oder die höchst ambivalente Bedeutung von Drittmittelprojekten. Die m. E. dringend notwendige strukturierte Beratung für bzw. Erfahrungsaustausch mit jüngeren WissenschaftlerInnen, was immer noch zu sehr den Geschmack von Karrierismus hat.

Daher nur einige kurze Bemerkungen zum Schluss: Die jüngsten Veränderungen bewirken, dass die Entwicklung und Weitergabe kritischen Wissens mit dem aktuellen Generationswechsel stark geschwächt wurde. Daher werden außerakademische Orte wichtiger. Zweitens benötigen wir mehr Diskussionen darüber, was wissenschaftspolitisches Engagement jenseits von Aufrufen heute bedeutet und welches Potenzial brach liegt. Welche Zugänge gibt es in Parteien und staatliche Institutionen, welche anderen Ansprech- und BündnispartnerInnen? Wie kann eine breite gesellschaftliche Debatte über kritische Wissenschaft, ihre Formen und Inhalte, gefördert werden? Und auch hier: Wie können Verknüpfungen zwischen kritischer Wissenschaft und anderen kritischen gesellschaftlichen Akteuren gestärkt werden? Denn emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung, eine der Triebfedern kritischer Wissenschaft, geschieht ja notwendig in breiten Bündnissen. Ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Akteuren und kritischer Wissenschaft kann darin bestehen, dass Letztere dazu beitragen kann, die vielfältigen latenten und vor allem manifesten Konflikte in einen Zusammenhang zu stellen, da ja die den Konflikten zugrunde liegenden gesellschaftlichen Dynamiken, Probleme und Krisen meist nicht unmittelbar zugänglich sind. Man könnte das als wissenschaftlichen Beitrag zu einem "Strukturwissen emanzipatorischen Handelns" bezeichnen. Damit ist natürlich nicht alles "gewusst", sondern Kontingenzen, abrupte Politisierungen und die Notwendigkeit konkreter Strategien bleiben bestehen.

Und schließlich fehlt es m. E. an einem Ort, an dem sich all jene austauschen, die sich einer heterogenen und immer wieder zu bestimmenden kritischen Wissenschaft zuordnen. Es fehlt ein ganz "klassischer", in den gebotenen Abständen stattfindender, gut organisierter Kongress im deutschsprachigen Raum, bei dem WissenschaftlerInnen aus den unterschiedlichsten Disziplinen ihre Arbeiten den interessierten KollegInnen präsentieren, mit ihnen diskutieren, sich kennen- und schätzen lernen und sich über solch einen Kongress hinaus in kleinerem oder größeren Rahmen austauschen. Solch ein Kongress sollte auch einen allgemeinen Rahmen bieten, um sich über allgemeine Anliegen und Probleme kritischer Wissenschaft auszutauschen. Solch einen Kongress sollten wir für 2012 ins Auge fassen.


Ulrich Brand lehrt und forscht im Bereich Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.



ANMERKUNGEN

(1) Christoph Görg, Daniel Fuchs, Juliane Hammermeister, Helmut Kramer, Eva Kreisky, Hanna Lichtenberger, Gerd Steffens, Heinz Steinert und Markus Wissen danke ich für wichtige und anregende Hinweise, die ich längst nicht alle berücksichtigen konnte.

(2) Aus Platzmangel bleiben die wichtigen Bereiche der
Nachwuchsförderung und der in Österreich sehr wichtigen
externen Lehrenden unbehandelt.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2010, Heft 181, Seite 36-43
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2011