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WISSENSCHAFT/1247: Wissenschaft und Praxis sind sich fremd und brauchen neue Interaktionsräume (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Gesucht: ein gemeinsames Verständnis
Wissenschaft und Praxis sind sich fremd und brauchen neue Interaktionsräume

von Natalie Mevissen und Anna Froese



Kurz gefasst: Sozialwissenschaftliches Wissen wird für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen zunehmend relevant. Dieses Wissen wird anschlussfähig und robust, wenn Akteure aus der Praxis am Prozess der Wissensgenerierung beteiligt sind. Es bestehen jedoch strukturelle Barrieren, die einen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis erschweren, wie unterschiedliche Sprachen oder Zeithorizonte. Besonders fruchtbar für die Überwindung dieser Hemmnisse sind sogenannte Innovationsräume, in denen Freiräume für Wissenschaftler und Praktiker außerhalb ihrer Heimatinstitutionen geschaffen werden und wo sie gemeinsam an neuen Ideen und Konzepten arbeiten können.


Wissenschaftliches Wissen spielt in den Debatten um nationale und globale Herausforderungen wie dem demografischen Wandel oder Klimawandel eine wichtige Rolle. Bislang sind insbesondere die Naturwissenschaften als Wissenslieferanten gefragt, die Sozialwissenschaften werden jedoch zunehmend relevant. Die besondere Aufgabe der Sozialwissenschaften ist dabei, Reflexionsoder auch Orientierungswissen bereitzustellen, das einen Beitrag für die Gesellschaft und die übrige Wissenschaft leisten kann. Dieses hilft unter anderem, technologische Innovationen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu bewerten oder bei deren Einsatz soziale Prozesse mitzudenken. Ein Beispiel ist die Einbeziehung der Nutzerperspektive in die Einführung neuer Mobilitätskonzepte wie neuer E-Car-Sharing-Angebote.

Es muss also neues Wissen generiert werden, das in gesellschaftliche und politische Debatten einfließen kann. Was aber ist neues Wissen und unter welchen Bedingungen kann es entstehen? Sozialwissenschaftliches Wissen ist überwiegend an Diskursen der jeweiligen Disziplin, also Soziologie oder Politikwissenschaften, orientiert. Dieses Wissen ist daher sehr abstrakt und häufig wenig anschlussfähig an gesellschaftspolitische Debatten. Diese Art von Erkenntnis ist gut und wichtig für die Scientific Community und selbstverständliche Aufgabe von Wissenschaft. Meist führt dies aber auch dazu, dass die Forschenden wenig mit der Praxis kommunizieren.

Neues Wissen für Wissenschaft und Gesellschaft entsteht jedoch unter anderem dadurch, dass Forschende und Akteure aus der Praxis miteinander in Austausch treten. Meist wird diese Interaktion mit dem Begriff des Wissenstransfers umschrieben und häufig wird dieser Transfer als eine abgeleitete Aktivität betrachtet, die dem Forschungsprozess nachgelagert ist. Wissenschaftliche Ergebnisse werden für weitere Zielgruppen verwertet.

Wissenstransfer ist jedoch oft Ausgangspunkt, um neues Wissen zu generieren. In einem solchen Verständnis ist Wissenstransfer kein linearer Prozess im Sinne einer Einbahnstraße, sondern Ergebnis eines wechselseitigen Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis. Beide Seiten profitieren besonders von Wissenstransfer, wenn dieser in geeigneten Projekten frühzeitig in die Phase der Ideenfindung integriert wird. Forschenden kann der Austausch mit Praxisakteuren neue Anregungen für weitere wissenschaftliche Fragestellungen geben; sie können ihre Ergebnisse validieren, also einer weiteren kritischen Überprüfung unterziehen. Praxisakteure bekommen einen anderen Blick auf gesellschaftliche Problemlagen.

Bei diesem Austausch gibt es jedoch strukturelle Barrieren. Wissenschaft und Praxis sind oft getrennte Welten, mit eigenen Sprachen und einer spezifischen Sicht auf Probleme und Lösungen. Besonders Praxisakteure nehmen die Kommunikation mit der Wissenschaft als unbefriedigend wahr. Sie empfinden eine große Diskrepanz zwischen den verwendeten Konzepten und den gemeinsam interessierenden Themen. Sozialwissenschaften bearbeiten Themen meist über längere Zeiträume und sind deshalb für manche Praktiker nur von bedingtem Interesse.

In der Geschichte der Sozialwissenschaften gab es innerdisziplinär viele Debatten über die Frage, wie die Sozialwissenschaften, insbesondere die Soziologie, einen Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft leisten können. Diese Diskussionen haben nie zu einem disziplinenübergreifenden Konsens geführt. Meinungen über den legitimen Anteil der Sozialwissenschaften an der Praxis, das richtige Maß an der Popularisierung wissenschaftlich erzeugten Wissens, differieren bis heute innerhalb der Fachgemeinschaften. Auch stehen die Sozialwissenschaften in Bezug auf ihr Verhältnis zur Praxis einer besonderen Problematik gegenüber. Sozialwissenschaften produzieren im Gegensatz zu den Naturwissenschaften keine technischen Artefakte, ihr Wissen ist vielmehr Orientierungswissen. Dieses hat den Anspruch, nicht unter Ideologieverdacht zu geraten. Meist jedoch bewegen sich die Forschungsthemen um politisch aufgeladene Debatten wie Zuwanderung, Arbeitsmarkt und Geschlechterfragen.

Dennoch ist bereits viel sozialwissenschaftliches Wissen in die Gesellschaft eingeflossen. Betrachtet man aktuelle tagespolitische Debatten, so sind diese geprägt von sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten wie Inklusion, Exklusion oder Bildungsarmut. Nur ist sozialwissenschaftliches Wissen meist nicht mehr als solches erkennbar, sobald es sich in der Gesellschaft verbreitet. Das wird von einigen Forschenden sogar als notwendige Voraussetzung dafür empfunden, dass sozialwissenschaftliches Wissen in der Gesellschaft wirksam werden kann. Das könnte erklären, warum dieses Wissen, in Alltagssprache übersetzt, unter Common-Sense-Wissen subsumiert wird.

Ein zentrales Hemmnis für den Austausch ist die Tatsache, dass praxisnahe Forschung der wissenschaftlichen Karriere in den Sozialwissenschaften nicht förderlich ist. Denn abgesehen davon, dass bislang kaum übergeordnete Kriterien zur Erfassung von Wissenstransferleistungen in den Sozialwissenschaften existieren, gibt es auch kaum Einigkeit darüber, wie guter Wissenstransfer in den Sozialwissenschaften aussehen könnte. Es existieren viele Formate und Leistungen, wie Mitgliedschaften in Kommissionen und Ausschüssen, Beiratstätigkeiten, Beratungsaufträge und Ähnliches. Auch ist Wissenstransfer nur schwach im Reputationssystem der Disziplinen verankert. Insbesondere für den wissenschaftlichen Nachwuchs kann es zu Ressourcen- und Zeitkonflikten in Hinblick auf ihre wissenschaftliche Karriere kommen. Denn die wissenschaftliche Publikation ist nach wie vor die in der Wissenschaft relevante Währung.

Wie ist es dann möglich, den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis an den geeigneten Stellen zu fördern und auch die Entstehung neuen, gesellschaftsrelevanten Wissens anzuregen?

Einerseits existieren unterschiedliche Formate, um die Zusammenarbeit mit Praxisakteuren stärker in die Diskussionen einzubinden, etwa in Form von Praktikernetzwerken. Diese Netzwerke erlauben es, sich in regelmäßigen Abständen zu Diskussionsrunden zu treffen und auszutauschen. Im Wissenschaftssystem kann Wissenstransfer durch diversifizierte Karrierewege gefördert werden, die nicht ausschließlich auf eine Professur hin orientiert sind, wie auch durch mehr Anerkennung im Reputationssystem der Disziplinen (etwa eigene Lehrstühle oder Zeitschriften für anwendungsorientierte Sozialforschung). Auch Forschungseinrichtungen können Rahmenbedingungen schaffen, um Wissenstransfer attraktiv für Forschende zu gestalten. Dies kann in Form von Transferstrategien, Leitbildern und Satzungen umgesetzt werden wie durch Etablieren einer Transferkultur oder öffentlichkeitswirksame Publikationsformate.

Austauschprogramme zwischen Wissenschaft und Praxis können die Durchlässigkeit verschiedener Sektoren erhöhen und so Horizonte öffnen und Perspektiven erweitern. Ein gutes Beispiel dafür ist das "Journalist in Residence Fellowship", das bis 2010 unter anderem von der Volkswagen Stiftung gefördert wurde und bei dem das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und das Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung zu den Gastgebern gehörten. Das WZB und das MPIfG führen das Programm seit 2011 aus eigener Kraft fort. Dieses Format richtet sich an fest angestellte und freie Journalisten aus regionalen oder überregionalen Medien, die regelmäßig Wissenschaftsthemen oder Themen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bearbeiten. Sie kommen bis zu drei Monate an eine wissenschaftliche Einrichtung und erhalten ein Stipendium. Einerseits ermöglicht das den Journalisten einen Einblick in das wissenschaftliche Arbeiten, aktuelle Forschungsthemen und den akademischen Alltag. Andererseits ermöglicht es den Forschenden, sich mit der Logik der Presse vertraut zu machen. Zudem bieten die Journalisten den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Schulungen an.

Die bisherigen Instrumente zur Förderung des Wissenstransfers wirken aber nicht nachhaltig. Neue institutionalisierte Strukturen an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sind notwendig. Besonders fruchtbar für die Überwindung dieser Hemmnisse, also Karrierewege, Ressourcen- und Zeitkonflikte, Reputationssysteme, unterschiedliche Bezugssysteme und Sprachen, sind sogenannte Innovationsräume zwischen Wissenschaft und Praxis. Diese bieten Freiräume, in denen Forschende und Praktiker/-innen außerhalb ihrer Heimatinstitutionen gemeinsam an neuen Ideen und Konzepten arbeiten können. Sie sollen den Austausch verbessern und die gemeinsame Ideenentwicklung zwischen Wissenschaft und Praxis fördern und thematisch auf drängende gesellschaftliche Problemstellungen und globale Herausforderungen gerichtet sein.

Ein Beispiel ist die Kooperation von Forschenden und Praxisakteuren im Rahmen der Energieavantgarde Anhalt. Hier arbeiten Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kommunalverwaltung und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen sowie Stiftungen zusammen, um Konzepte für die dezentrale Energiewende in Dessau zu entwickeln. Bei der Umstellung auf 100 Prozent regional erzeugte regenerative Energie geht es um die gewaltige technische Herausforderung, fluktuierende regenerative Energien in das lokale Netz zu integrieren, und um nichts Geringeres als einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel: Nicht die Energieproduktion und -distribution passt sich dem gesellschaftlichen Bedarf an, sondern die Gesellschaft passt sich den vorhandenen Energieströmen an.

Die Konsequenzen für eine Gesellschaft, die dann nicht zu jeder Zeit an jedem Ort über die notwendige Energiemenge verfügt, sind erst in Ansätzen klar und bieten für die Sozialwissenschaften ein breites Spektrum neuer Fragestellungen. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass es sich um ein hochkomplexes und -dynamisches Wissensgebiet handelt. Damit der gesellschaftliche Transformationsprozess gelingt, muss die Expertise aus verschiedenen Disziplinen und Wissensfeldern (wie Energiepolitik, -wirtschaft und -recht, Ökonomie, Informations- und Kommunikationstechnik oder Regionalentwicklung) sinnvoll gebündelt werden.

Diese intensive Zusammenarbeit im Rahmen von Workshops ermöglicht allen Beteiligten der Energieavantgarde Anhalt, die Thematik umfassend zu bedenken, ein gemeinsames Verständnis von den Problemdimensionen zu gewinnen sowie gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Denn wenn Forschende und Praxisakteure in geeignetem Rahmen die Möglichkeit eines - zeitlich begrenzten - intensiven Austauschs bekommen, erhalten sie die Gelegenheit, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und jeweils Verständnis für die Logik und die unterschiedlichen Interessen aufbringen zu können. Dadurch kann einerseits neues Wissen entstehen, das dann auch wieder in den wissenschaftlichen Diskurs zurückfließt.

Der kontinuierliche Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis, also erfolgreicher Wissenstransfer, ist eine erste Voraussetzung dafür, dass neue Ideen zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen entstehen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn Räume bereitgestellt werden, in denen die Möglichkeit zur Generierung neuen Wissens besteht.


Natalie Mevissen ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am WZB und Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Soziologin forscht über das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Gesellschaft sowie zu Themen der Innovations- und Organisationsforschung.
natalie.mevissen@wzb.eu

Anna Froese ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am WZB und Koordinatorin des Projekts "Neue Vermittlungsräume zwischen Wissenschaft und Praxis". Die Wirtschaftswissenschaftlerin forscht über Wissenstransfer sowie über Themen der Wissenschafts- und Innovationsforschung.
anna.froese@wzb.eu


Literatur

Froese, Anna/Mevissen, Natalie/Böttcher, Julia/ Simon, Dagmar/Lentz, Sebastian/Knie, Andreas: Wissenschaftliche Güte und gesellschaftliche Relevanz der Sozial- und Raumwissenschaften: ein spannungsreiches Verhältnis. Handreichung für Wissenschaft, Wissenschaftspolitik und Praxis. WZB Discussion Paper SP III 2014-602. Berlin: WZB 2014.

Knie, Andreas: "Die verkürzte Wertschöpfungskette des Wissens: Mutmaßungen über den Bedeutungsverlust der Soziologie". In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, 2005, Jg. 28, H. 2, S. 204-530.

Mevissen, Natalie/Simon, Dagmar: "'Vielfältige' Organisationen. Der Wissens- und Technologietransfer als Herausforderung für die außeruniversitäre Forschung". In: Soziale Welt - Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 2013, Jg. 64, H. 4, S. 361-380.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 29-31
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2014