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FRIEDEN/1104: Christliche Erwerbsmoral schützt Frieden der Paläste (SB)



Wenn es keine Affäre um den Bundespräsidenten Christian Wulff gäbe, müßte man sie erfinden. Die Aufregung um einige Handreichungen, wie sie im symbiotischen Verhältnis zwischen Staat und Kapital mehr als üblich sind, befleißigt sich einer Moral politischer Tugendhaftigkeit, der der disziplinatorische und staatsautoritäre Übergriff auf unverdächtige Weise eingeschrieben ist. Wo die Boulevardmedien den Trommelschlag sozialrassistischer Häme gar nicht erst unterbrechen müssen, wenn sie den Träger des höchsten Staatsamtes ins Visier nehmen, ist das kein Versuch, die klassenlose Gesellschaft zu etablieren. Die medialen und politischen Funktionseliten arbeiten sich an einem der ihren ab, um lediglich den Eindruck zu erwecken, es ginge um die Einhaltung von Regeln, die dem verfassungsrechtlichen Kodex gemäß sozialen Ausgleich schaffen sollen.

Um zu erkennen, daß nichts ferner der Wirklichkeit liegen könnte, bedarf es keiner Privatkredite und anderer Vergünstigungen, die ein reicher Unternehmer einem aufstrebenden Politiker gewährte. Die zwölf Millionen armutsgefährdeten Bürger, die der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem Armutsberichts 2011 ausweist, wären um keinen Deut weniger der Not ausgesetzt, ihr Leben unter mageren Bedingungen zu fristen, wenn Wulff ein Musterbeispiel präsidialer Korrektheit wäre. Zum Anlaß der längst überfälligen Debatte um den systemischen Charakter sozialer Verelendung werden sie desto weniger, als die Republik am Beispiel des ersten Bürgers ein Lehrstück über die Abgründe politischer Macht und ihrer ökonomischen Bestimmung aufführt.

Indem das Lamento über die Gier der Manager und Banker in die Anprangerung persönlicher Vorteilsnahme politischer Mandatsträger übergeht, soll der virulenten Empörung über den herrschenden Klassenwiderspruch die Spitze manifesten sozialen Protestes genommen werden. Der weitverbreitete Ärger über das eigennützige Verhalten privilegierter Politiker wird in die Bahn legalistischer Regulation gelenkt, um die gravierende soziale Ungleichheit noch unumkehrbarer zementieren zu können. Wulff wird als Opferlamm einer christlichen Erwerbsmoral durch das Bundesdorf getrieben, um den nicht weniger eigennützigen Wächtern staatlicher Glaubwürdigkeit weitere Möglichkeiten an die Hand zu geben, die sozialen Grausamkeiten durchzusetzen, mit Hilfe derer das herrschende Akkumulationsregime gesichert werden soll.

Nicht die sozialfeindliche Austeritätspolitik, die auch noch den schmalen Lohn der Entbehrungen lebenslanger fremdbestimmter Arbeit aufzehrt, die europaweite Verordnung von Schuldenbremsen, die die öffentlichen Einrichtungen der Kommunen verrotten lassen oder privaten Investoren zur exklusiven Wertschöpfung überantworten, die Steigerung der Produktivität durch stagnierende oder sinkende Reallöhne oder die jüngste Refinanzierungswelle, für die die EZB fast eine halbe Billion Euro aufwendet, um die Banken zu einem Zinssatz von einem Prozent mit frischem Geld zu beglücken, sollen zum Anlaß gesellschaftlicher Auseinandersetzung werden. Die Unterwerfung lohnabhängiger und versorgungsbedürftige Menschen unter den Primat kapitalistischer Verwertungslogik wird mit der Gaukelei von Schuld und Sühne auf die kleinste Münze heruntergebrochen, die sich anzueignen dem Subjekt der Arbeitsgesellschaft so teuer wie möglich gemacht wird.

Die im Zwangskorsett des Hartz IV-Regimes zur Anwendung gebrachte Sparpolitik mit dem Feindbild des Sozialschmarotzers zu begründen ist in Anbetracht der objektiven Prekarisierung des Erwerbslebens nur noch bedingt möglich. Indem an einem hochrangigen Repräsentanten des Staates ein Exempel statuiert wird, schlägt der sozialchauvinistische Legalismus, laut dem der Mensch seine individuellen Rechte nur im Verhältnis zur Ableistung produktiver und reproduktiver Pflichten wahrnehmen kann, einen kleinen Umweg über die bessere Gesellschaft ein, um mit um so größerer Härte gegen die Subalternen in Stellung gebracht zu werden. Das seit 2008 entfaltete und zur drohenden Desintegration der Eurozone gesteigerte Krisenszenario nimmt zusehends die Züge eines Systemnotstands an, dessen vermeintlich alternativlose Sachzwänge den Weg in eine neue Ordnung ebnen, deren autokratische Diktate an die Stelle verbürgter konstitutioneller Garantien treten.

Die in diesem Zusammenhang auf allen Ebenen deutscher und europäischer Regierungspolitik zu vernehmenden Klagen über den angeblich kontraproduktiven Charakter langer demokratischer Entscheidungswege sind allemal ernstzunehmen, das zeigt auch die Affäre um den Bundespräsidenten. Die angebliche Beschädigung eines Amtes, das zehn Jahre lang einen mit NS-Vergangenheit belasteten Heinrich Lübke aushielt, könnte in Anbetracht der Unverzichtbarkeit staatstragender Repräsentanz den Ausgangspunkt für eine Reform des präsidialen Systems der Bundesrepublik bilden. Ein krisenadäquates Ergebnis könnte darin bestehen, das "Versöhnen statt Spalten" eines Johannes Rau, dem Wulff mit seiner Fürsprache für in Deutschland lebende muslimische Migranten entsprach, durch das "Teilen und Herrschen" einer mit neuen Exekutivbefugnissen erweiterten Präsidenschaft abzulösen.

Der Frieden der Paläste erwächst aus einem sozialen Krieg, dessen Verwerfungen herrschaftsförmig zuzurichten es eines wachsenden Ausmasses an ideologischer und kultureller Legitimation bedarf. Verkürzt auf die reproduktive Agenda einer EU, deren Schicksal laut Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Euro steht und fällt, nimmt diese Rechtfertigung immer unverhohlener die Form einer eurozentrischen Suprematie an, deren Feindseligkeit gegenüber einer angeblich unproduktiven, mit Migranten, Erwerbslosen und Behinderten assoziierten Delinquenz der Herrschaftsanspruch überlebenstüchtiger weißer Herren vorausgeht. Wo umjubelte Volkstribune das angebliche Aussterben "der Deutschen" zum kulturalistischen Globalkonflikt überhöhen, wo sich europäische Kolonialmächte zu neuen Eroberungen auf alten Schlachtfeldern aufschwingen, wo Lager zur Unterbringung von Zwangsarbeitern geplant, Roma deportiert und anhand eines soziobiologisch bestimmten Lebenswerts todbringende Entscheidungen getroffen werden, da bedarf es keiner besonderen Phantasie, die gesellschaftlichen Horizonte des herrschenden Krisenmanagements auszuleuchten.

23. Dezember 2011