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FRIEDEN/1132: Israel - Kapitalismus gut bewacht (SB)



Hierzulande wird, den unausgesprochenen Vorwurf israelfeindlicher Motive inbegriffen, immer wieder moniert, daß der Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern in Anbetracht der vergleichsweise geringen Größe der direkt daran beteiligten Bevölkerungen zu viel Aufmerksamkeit erhalte. Ignoriert wird dabei nicht nur die weltpolitische Dimension des Konflikts, sondern auch der Charakter der Grenze zwischen dem Staat Israel und den von ihm besetzten und kontrollierten Palästinensergebieten. An ihr brechen sich die Lebensbedingungen eines modernen Staates mit HighTech-Wirtschaft, die in einigen Sektoren der IT-Industrie weltweit führende Produkte hervorbringt, und einer unter den Elendsbedingungen eines kolonialisierten Armenhauses leidenden Bevölkerung. Daß diese Grenze immer blutiger wird, entspricht den an ihr zutage tretenden Widersprüchen, die in der israelischen Klassengesellschaft nicht austragen zu müssen eine der herrschaftstechnisch nützlichen Funktionen der acht Meter hohen Mauer und anderer schwerbewachter Sperranlagen ist.

Die Gleichzeitigkeit des symbolpolitisch hochaufgeladenen Aktes, zum 70. Jahrestag der Staatsgründung die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen und damit den Anspruch Israels auf das ganze Gebiet der Stadt zu untermauern, und des überaus blutigen Schußwaffeneinsatzes der israelischen SoldatInnen gegen die PalästinenserInnen, die gegen ihre faktische Gefangenschaft im nach allen Seiten abgeschlossenen Gaza protestieren, stellt das explosive Potential des Konflikts in seiner ganzen Spannweite zwischen Großmachtinteressen und sozialer Überlebensnot heraus. Was als Geburtsfehler des säkularen Projektes, eine Heimstatt für jüdische Menschen in aller Welt zu schaffen, durch einen gemeinsamen Staat für alle auf dem Gebiet des ehemaligen britischen Protektorates lebende Menschen längst hätte überwunden werden können, scheint heute weniger denn je einer friedlichen Lösung offenzustehen.

Die Diskrepanz zwischen Israelis und Palästinensern drückt sich nicht nur in den weit auseinanderklaffenden sozialen Indices aus, aufgrund derer die nur wenige Kilometer auseinanderliegenden Gebiete erscheinen, als ob sie auf verschiedenen Kontinenten lägen. Auch in rechtlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht könnten die beiden Bevölkerung kaum unterschiedlichere Voraussetzungen haben. Herrschen in Israel ähnliche Bedingungen wie in westeuropäischen Demokratien und Rechtstaaten, sind Palästinenser demgegenüber in fast jeder Hinsicht benachteiligt und entrechtet. Alles in allem hat sich eine Situation grenzüberschreitender Widersprüche herausgebildet, die Israelis und PalästinenserInnen in Gewinner und Verlierer einteilen, was für die palästinensische Bevölkerung mit israelischer Staatsbürgerschaft zwar in weniger drastischem Ausmaße, aber nichtsdestotrotz gilt.

Heute, da die sozialistischen und internationalistischen Ziele vieler Zionisten der Gründergeneration einer nationalreligiösen Fundierung ihres Projektes gewichen sind, wird Israel denn auch von Teilen der Neuen Rechten in der EU als Verbündeter im Kulturkampf gegen die islamische Welt verstanden. Von der Regierung Ungarns, die zu den reaktionärsten und fremdenfeindlichsten Administrationen der EU gehört, bis zur AfD und anderen Rechtsparteien Westeuropas reicht die Phalanx der Unterstützer eines Israels, das als mächtiger Partner im Clash of Civilizations, dem von Samuel Huntington vor 25 Jahren proklamierten und von der Neuen Rechten als historische Entscheidungsschlacht zwischen Orient und Okzident geführten Kulturkampf, umworben wird. Werden in der israelischen Gesellschaft emanzipatorische Ziele der Nichtdiskriminierung etwa von LGBTI-Menschen hochgehalten, so tun sich antirassistische Initiativen, die unterschiedslos für Christen, Muslime und Juden eintreten und daher auch eine Gleichstellung der palästinensischen Bevölkerung propagieren, zusehends schwer.

Wie der offenkundig ungehemmte Schußwaffengebrauch an den Grenzanlagen zu Gaza zeigt, vertieft sich in Israel vielmehr eine Wagenburgmentalität, die den sozialen Widerstand in den eigenen Reihen in engen Grenzen hält und dem Aufbegehren der PalästinenserInnen nicht nur kein Verständnis, sondern offene Aggression entgegenbringt. Angebote europäischer wie nordamerikanischer Rechtsausleger finden so einen fruchtbaren Boden vor, auf dem sie ihre rassistische Agenda mit Hilfe aktiver Israelsolidarität legitimieren können.

Wie sehr die PalästinenserInnen ihrerseits von staatlichen Akteuren instrumentalisiert werden, die ihren Freiheitskampf zumindest nominell unterstützen, zeigt auf der anderen Seite das Beispiel der türkischen Regierung. Nur wenige Wochen nach dem Einfall ihrer Streitkräfte in das nordsyrische Afrin und der blutigen Zerschlagung dieses Teils des in vielerlei Hinsicht vorbildlichen Gesellschaftsexperiments Rojava bezichtigt sie die israelische Regierung des Genozids an den PalästinenserInnen. Wer solche Freunde hat, braucht sich um seine Feinde nicht zu sorgen, das gilt auch für traditionelle Unterstützer Palästinas wie Saudi-Arabien, wo man unter Schirmherrschaft Washingtons längst die Seiten gewechselt hat. Wie im Falle der Türkei steht hier zu befürchten, daß die PalästinenserInnen als Fußtruppen für eine islamistische Offensive, in der sich die Interessen regionaler Staatsakteure artikulieren, mißbraucht werden sollen.

Für die Insassen des Freiluftgefängnisses Gaza gibt es keine Hoffnung auf äußere Unterstützung, das zeigen auch die betulichen Reaktionen EU-europäischer Regierungen auf den Umzug der US-Botschaft und die Verwandlung des Grenzgebietes in Gaza in eine Todeszone. Um moralisch halbwegs heil aus der Sache herauszukommen, reden sich die Politik- und Funktionseliten darauf hinaus, jegliche Schuld an dem jüngsten Blutbad an die Hamas zu adressieren. Von aller Welt verraten und verkauft sind die PalästinenserInnen auch deshalb, weil die eigene Oligarchie nicht anders als in anderen kolonialistisch bewirtschafteten Ländern dem Widerstand gegen die Besatzungspolitik Israels im Zweifelsfall in den Rücken fällt. Was bleibt, ist nicht anders als in den westlichen Metropolengesellschaften die Aufkündigung aller Stellvertreterpolitik, ob PLO oder Hamas, ob EU der USA, zugunsten einer Basisorganisierung der Menschen über alle Grenzen hinweg.

15. Mai 2018


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