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FRIEDEN/1134: Uri Avnery - kompetent, kritisch und demokratisch (SB)



Die israelische Rechte kann aufatmen. Mit Uri Avnery, der heute im Alter von 94 Jahren in Tel Aviv verstarb, ist die Stimme eines ihrer bekanntesten und wirksamsten Kritiker verstummt. Seine besondere Glaubwürdigkeit bezog Avnery aus der innigen Verbindung zum Projekt der israelischen Staatsgründung und seiner eigenen Verwurzelung im Zionismus. Er kannte die damit einhergehenden Widersprüche aus persönlichem Engagement für die Sache Israels und kritisierte die Staatsräson des Landes von innen heraus.

Gerade weil das Friedenslager in der israelischen Gesellschaft über keinen nennenswerten politischen Einfluß mehr verfügt, war Avnery für seine AktivistInnen so bedeutsam. Sein publizistischer Einfluß erstreckt sich bis in die USA, wo seine Artikel in der linken Wochenzeitung Counterpunch veröffentlicht wurden, und nach Europa, wo er insbesondere in der Bundesrepublik Beachtung fand. Avnery wurde für sein friedenspolitisches Engagement unter anderem mit dem Erich Maria Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück, dem Aachener Friedenspreis, dem Alternativen Nobelpreis, dem Niedersächsischen Staatspreis und dem Marler Medienpreis Menschenrechte von Amnesty International ausgezeichnet.

Der am 10. September 1923 in Beckum in Westfalen als Helmut Ostermann geborene Avnery entstammte einer gutsituierten Familie deutscher Juden, die das Land unmittelbar nach Beginn des NS-Regimes in Richtung Palästina verließ. Wie sein Vater entwickelte sich der Junge, der mit 18 Jahren den hebräischen Namen Uri Avnery angenommen hatte, zum radikalen Zionisten und trat der militanten jüdischen Untergrundorganisation Irgun bei. Der Kampf gegen die britische Besatzungsmacht dürfte nicht unerheblich zu seinem Verständnis für die palästinensischen Jugendlichen beigetragen haben, die sich mit Steinen gegen die Panzer der israelischen Besatzer zur Wehr setzten. Allerdings verließ er Irgun nach drei Jahren unter Protest gegen die antiarabische und sozialreaktionäre Politik der Gruppe.

Schon 1946 distanzierte er sich vom Zionismus und schlug statt dessen die Schaffung einer neuen hebräischen Nation vor, die sich als natürlicher Verbündeter der arabischen Nationen zu verstehen habe. Inmitten der eskalierenden Auseinandersetzung um die Teilung Palästinas und die Gründung eines jüdischen Staates veröffentlichte er 1947 ein Buch, in dem er eine Allianz der hebräischen und arabischen Nationalbewegungen zur Befreiung der "semitischen Region" - als Alternative zur eurozentrischen Bezeichnung Naher Osten zu verstehen - vom Kolonialismus propagierte.

Im Krieg von 1948 meldete er sich freiwillig zu einer Kommandoeinheit, die an der ägyptischen Front kämpfte und den Ruf einer besonders effizienten Truppe errang. Schwer verletzt verließ Avnery die israelischen Streitkräfte, um sich vollständig seinen politischen und journalistischen Ambitionen zu widmen. Über seine Erlebnisse an der Front verfaßte er ein Buch, das in Israel so überschwenglich gelobt, wie das nachfolgende Werk, das den Krieg eher aus arabischer Sicht beschrieb, verworfen wurde.

Nach seiner Tätigkeit bei der Tageszeitung Haaretz wurde er Herausgeber und Chefredakteur der Zeitung haOlam haZeh, deren Leitung er von 1950 bis 1990 innehatte. Der Name Diese Welt, verstanden als Gegenpol zum Jenseits, war dem linken Standort gemäß Programm. Avnery propagierte ein nicht nationalreligiös ausgerichtetes Israel, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner ethnischen und religiösen Identität leben können sollte. Er trat für die strikte Trennung von Staat und Religion, für die Menschenrechte nicht zuletzt der arabischen Minderheit in Israel und die Aufhebung der Klassengrenze zwischen europäischen und orientalischen Juden ein. Israel solle sich eine geschriebene Verfassung und feste Grenzen geben, forderte Avnery und plädierte für die Gründung eines palästinensischen Staates, als das Westjordanland und der Gazastreifen noch unter jordanischer und ägyptischer Kontrolle standen. Damit verstieß Avnery gegen einen zentralen Glaubenssatz der israelischen Staatsdoktrin, demzufolge es keine Palästinenser gebe.

1965 und 1969 wurde er auf einer wie die Zeitung haOlam haZeh genannten Liste in die Knesset gewählt. 1977 trat er dem israelischen Parlament erneut bei, dieses Mal auf der Liste Mehaney Smol LeYisrael. Als Abgeordneter hielt er Hunderte von Reden und brachte zahlreiche Anträge ein, war jedoch als radikaler Oppositioneller meist isoliert, was seinem Engagement allerdings keinen Abbruch tat. Das vermochten auch die Angriffe und Anschläge nicht, von denen er und die Redaktionsräume der Zeitung mehrmals heimgesucht wurden. 1975 entkam er schwerverletzt einem Mordversuch und lief immer wieder Gefahr, im Rahmen nationaler Notstandsmaßnahmen eingesperrt zu werden.

Unmittelbar nach Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens im Krieg von 1967 hatte Avnery den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol aufgefordert, den Palästinensern anzubieten, auf diesem Gebiet einen eigenen Staat zu gründen. Hätte man seinem Vorschlag damals Gehör geschenkt, dann wäre die Geschichte der Region womöglich in anderen, weniger blutigen Bahnen verlaufen. Avnery war jedoch ein Außenseiter, der für die Sache des Friedens auch über die Grenze des Erlaubten hinausging, wenn er etwa 1974 erste geheime Kontakte mit der PLO aufnahm. 1982 führte er als erster israelischer Journalist mit PLO-Chef Jassir Arafat ein Interview. Es fand in der libanesischen Hauptstadt Beirut statt, die zu diesem Zeitpunkt von der israelischen Luftwaffe bombardiert wurde. Seitdem war er mit dem Palästinenserführer in Freundschaft verbunden.

Zwar hat Avnery den Oslo-Prozeß anfangs unterstützt, doch gelangte er bald zu der Einsicht, daß die Zusagen, die die Regierung Rabin der palästinensischen Seite gemacht hatte, nicht ernst gemeint waren. Avnery engagierte sich wieder in der außerparlamentarischen Opposition und gründete 1992 den Friedensblock Gusch Schalom, der seitdem für die vollständige Preisgabe des Westjordanlands und Gazastreifens durch Israel zwecks Gründung eines palästinensischen Staates mit gemeinsamer Hauptstadt Jerusalem eintritt. 1999 unterstützte er die kurdischen Proteste gegen die Entführung Abdullah Öcalans, an der auch israelische Geheimdienste beteiligt waren. Wer sein publizistisches Werk heute Revue passieren läßt, stößt nicht nur auf ein umfassendes Kompendium kritischer Kommentare zu fast allen Stationen des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern, sondern trifft auf einen Friedensaktivisten, der keinem Wagnis aus dem Weg ging, um seinen Prinzipien und Idealen gerecht zu werden.

20. August 2018


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