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HEGEMONIE/1716: "Gesamtstaatliche Sicherheitspolitik" - Chiffre nationaler Ermächtigung (SB)



Ein Jahr nach dem Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten stehen die Zeichen auf Sturm. Was Köhler zu künftigen Kriegseinsätzen der Bundeswehr in Aussicht stellte, war zwar nichts Neues [1]. Die explizite Verknüpfung geostrategischer und wirtschaftlicher Interessen fiel ihm in der Deutlichkeit des Gesagten dennoch auf die Füße, auch wenn heute gerne der Eindruck erweckt wird, dies sei nicht der eigentliche Grund für seinen Rücktritt gewesen. War Köhlers Eröffnung damals noch Gegenstand einer erregten Debatte, so wird ihrer Stoßrichtung heute durch die geschlossene Kriegsbereitschaft von Bundesregierung und der großen Mehrheit der Bundestagsfraktionen Rechnung getragen. Dabei geht es nicht nur um die von Thomas De Maizière postulierte Verpflichtung der Bundeswehr, Kampfeinsätze unter dem Dach der NATO, der EU und Vereinten Nationen durchzuführen. Der Verteidigungsminister propagiert eine "gesamtstaatliche Sicherheitspolitik", die in enger Abstimmung zwischen zahlreichen Ministerien - etwa dem Außen-, dem Innen- und dem Entwicklungsressort - zu betreiben sei [2].

Da De Maizière schon als Kanzleramtsminister den Einsatz der Bundeswehr im Innern durchsetzen wollte und "Heimatschutz" in den am 18. Mai vorgestellten neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien zur "gesamtstaatlichen Aufgabe" etwa auch "zum Schutz kritischer Infrastruktur und bei innerem Notstand" [3] erklärt wird, ist das künftige Schlachtfeld ganz im Sinne der laut dem Verteidigungsminister nicht mehr geografisch zu begrenzenden Sicherheit Deutschlands überall zu verorten. So gesellen sich zu den von De Maizière in die engere Wahl künftiger Einsatzgebiete der Bundeswehr gezogenen Staaten Pakistan, Jemen, Somalia oder Sudan auch die Bundesrepublik und die EU. Der zentrale Kriegsvorwand der 2010er-Jahre, der internationale Terrorismus, ist nurmehr ein Anlaß unter vielen, die Streitkräfte in Marsch zu setzen:

"Risiken und Bedrohungen entstehen heute vor allem aus zerfallenden und zerfallenen Staaten, aus dem Wirken des internationalen Terrorismus, terroristischen und diktatorischen Regimen, Umbrüchen bei deren Zerfall, kriminellen Netzwerken, aus Klima- und Umweltkatastrophen, Migrationsentwicklungen, aus der Verknappung oder den Engpässen bei der Versorgung mit natürlichen Ressourcen und Rohstoffen, durch Seuchen und Epidemien ebenso wie durch mögliche Gefährdungen kritischer Infrastrukturen wie der Informationstechnik." [4]

Was in den Verteidigungspolitischen Richtlinien als Herausforderung des dort als Handlungsmotiv ausgewiesenen "nationalen Selbstbehauptungswillens" dargestellt wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Katalog militärischer Aufgaben zur Bestandssicherung des Entwicklungsvorsprungs der Bundesrepublik. Was sich sonst noch alles im Rahmen "gesamtstaatlicher Sicherheitspolitik" tun ließe, um die in diesen Bedrohungsszenarien ausgedrückten Nöte und Konflikte zu beheben, tritt aus der Sicht des Sicherheitspolitikers deutlich hinter die Option kriegerischer Gewalt zurück. Schon der Begriff des Risikos als Faktor geschäftlichen Kalküls unterstellt eine Kosten-Nutzen-Rechnung, laut der die Befriedung der Welt nicht als Ergebnis der aktiven Förderung des Wohlstands anderer Bevölkerungen in Frage kommt. Wo im Weißbuch 2006 noch die Absicht bekundet wurde, "die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen überwinden zu helfen", da wird der weltweite Zugang zu Ressourcen aller Art heute ganz ohne humanitäre Konditionierung als Staatsziel definiert.

Zwar war diese Bemäntelung auch vor fünf Jahren schon als Feigenblatt eines Imperialismus zu durchschauen, dessen humanitärer Anspruch gegen sich selbst gekehrt wurde, indem die kriegerische Instrumentalisierung der Menschenrechte das völkerrechtliche Gewaltverbot aushebelte. Heute bedarf es nicht einmal mehr moralischer Vorwandslagen. Das militärische Gewaltprimat tritt in einer in der Geschichte der Bundesrepublik nie dagewesenen Unzweideutigkeit als Machtmittel von Staat und Nation in Erscheinung. Soldaten werden als "Instrument der Außenpolitik", so De Maizière im Interview mit der FAZ, eingesetzt, ihr Credo wird militärisch knapp mit "Wir. Dienen. Deutschland", so der vom Verteidigungsminister propagierte Werbeslogan der Bundeswehr, als Identifikation mit und Unterwerfung unter Volk und Nation artikuliert.

Wenn De Maizière demgegenüber fordert, die Bundesrepublik müsse Kriegseinsätze auch dann ins Auge fassen, wenn nationale Interessen nicht unmittelbar zu erkennen seien, dann will er lediglich sogenannten deutschen Sonderwegen wie etwa die Nichtbeteiligung am Libyenkrieg eine Absage erteilen. Die angeblich über eigene Interessen hinausgehende Verantwortung, die die Bundesrepublik mit der Beteiligung an internationalen Kriegseinsätzen übernehmen soll, fällt mit diesen in eins, wird das weltpolitische Gewicht eines Staates doch anhand seiner Bereitschaft bemessen, es gewaltsam in Stellung zu bringen.

So erweist sich die Vereinnahmung der Bevölkerung für die "gesamtstaatliche Sicherheitspolitik" als Angriff auf die Klasseninteressen derjenigen Menschen, die den nationalen Eliten seit jeher als Kanonenfutter und Humankapital dienen. Die geografische wie gesellschaftspolitische Entgrenzung sogenannter Sicherheitspolitik bestimmt die Zugehörigkeit zu einem in relativem Wohlstand lebenden Staatsvolk anhand der Verpflichtung, daß "wir Deutschland dienen". Wer nicht dazugehören will, den trifft das Stigma des Staatsfeindes ebenso, wie der afghanische NATO-Gegner als "Terrorist" jeder Legitimität enthoben wird, wenn er gegen die Besetzung seines Landes kämpft. Mit der Verallgemeinerung militärischer Gewalt erlangt auch die Freund-Feind-Kennung jene Gültigkeit, die in den USA dazu führen kann, daß eigene Bürger als Terrorverdächtige jeglichen Anspruch darauf verlieren, die gegen sie erhobenen Vorwürfe mit rechtlichen Mitteln überprüfen zu lassen.

Ganz im Sinne des gesamtstaatlichen Ansatzes, anhand dessen der Verteidigungsminister die Zuständigkeit der Bundeswehr für gesellschaftliche Bereiche anmahnt, die weit über den grundgesetzlichen Auftrag der Landesverteidigung hinausreichen, wird ein Bekenntnis zu Staat und Nation eingefordert, das seine Gegner und Kritiker mit dem Arsenal polizeilicher, geheimdienstlicher, militärischer und sozialwissenschaftlicher Methoden mit Hilfe etablierter Feindkennungen wie Terrorismus- und Extremismusverdacht oder Radikalisierungstendenz in Schach hält. Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien erklärt wird, der Fortschritt der Telekommunikations- und Informationstechnologie eröffne "Extremisten vielfältige Chancen für Desinformation und ermöglicht Radikalisierung und Destabilisierung", dann bedroht dies die demokratische Freiheit aller Menschen, die anderer Ansicht als die Staatsmacht sind und dies auch offensiv vertreten.

Der Widerstand, der in den sozialen Kämpfen in der EU-Peripherie und den arabischen Staaten geübt wird, soll gebrochen werden, um der sich eines neuen Nationalismus bedienenden Klassenherrschaft zu unumkehrbarer Gültigkeit zu verhelfen. Dies läßt sich durchaus als Quintessenz aus der Verklausulierung angeblicher Bedrohungslagen herauslesen, mit denen unterstellt wird, daß stets die anderen Schuld seien, wenn zu militärischer Gewalt gegriffen wird.

Fußnoten: [1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1537.html

[2] http://www.focus.de/politik/deutschland/de-maiziere-militaereinsaetze-nicht-nur-fuer-deutsche-interessen_aid_628693.html

[3] http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NY3BCoMwEET_KNFDi_SmSKXXXqq9lGiWuJhsZF3tpR_fBNodGAZmHqufOonMgc4IRjJe93qY8DK-1RgOpzacZuAZULY1ehRclCEHYxRQNi57AErpABZAi24n99ttiXtxosUjIZB-5E8W1BQJJLskFJM7NhJZrZHF52ZnTo1Cq4eibJuiLP5Xfqqur7trdTq3t-au1xDqL5Zlp2A!/

[4] http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/NY3BCoMwEET_KFGEtvSmCKWXHnqp9lKiWeJisgnrai_9-EZod2AYmHmsfuosMhs6IxjJeN3pfsTz8FZD2JxacJyAJ0BZUvQoOCtDDoYooGyc1wCU0wYsgBbdSu63WzL34kyLR0Ig_dg_WVBjJJDdJaOY3bGRyCpFFr83K3NuFFrdF2XbFGXxv_JzunT18VZVh_ba3HUKof4C82vsSQ!!/

31. Mai 2011