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HEGEMONIE/1747: Die soziale Dimension des drohenden Krieges gegen den Iran (SB)




Wie die Ankündigung der iranischen Regierung, im Vorgriff auf die ab 1. Juli greifenden Sanktionen der EU die Rohölexporte nach Deutschland einzustellen, belegt, steigen die Kosten für die Konfrontation im sogenannten Atomstreit nicht nur für die iranische Bevölkerung rapide an. Zudem erweist sich die gegen das Land gerichtete Sanktionspolitik als wenig hilfreich im Sinne ihres vorgeblichen Ziels, die iranische Regierung zu Zugeständnissen bei der Nutzung der Urananreicherung zu drängen. Sie schadet, wie Ali Fathollah-Nejad in einer lesenswerten Analyse der Blätter für deutsche und internationale Politik [1] darlegt, vor allem den Bürgern des Landes und stärkt zudem diejenigen Gruppen im Teheraner Machtgefüge, die dem Druck der NATO-Staaten und Israels aufs entschiedenste widerstehen. Ohnehin scheint in der Bevölkerung des Landes, wie westliche Beobachter wiederholt attestiert haben, selbst gegenüber dem hierzulande als aggressivsten Exponenten der iranischen Führung dargestellten Präsidenten Mahmud Ahmedinejad die Meinung verbreitet zu sein, daß er sich gegenüber dem Versuch, dem Land das legitime, im Nichtverbreitungsvertrag verankerte Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie inklusive der Urananreicherung abzusprechen, zu defensiv verhalte.

Die sich als vergleichbares Szenario anbietende fast 13 Jahre währende Sanktionspolitik der Vereinten Nationen gegenüber dem Irak hat dem Land nicht die schlußendliche militärische Eroberung erspart, dabei aber der irakischen Bevölkerung immenses Leid zugefügt. Die materielle Aushungerung und kulturelle Zerstörung einer ganzen Gesellschaft, maßgeblich aufrechterhalten durch die Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates USA und Britannien, nach der bereits im Krieg 1991 erfolgten Zerstörung der zivilen Infrastruktur war ein Verbrechen monströsen Ausmaßes, das als solches bis heute nicht angemessen aufgearbeitet wurde. Betrachtet man das Ergebnis des dadurch herbeigeführten Regimewechsels, so zeigt sich, daß die im Krieg zwischen Irak und Iran in den 1980er Jahren von den NATO-Staaten verfolgte Strategie, den Aggressor Saddam Hussein zu unterstützen, um damit zwei regionale Mittelmächte zugunsten des westlichen Hegemonialanspruchs über die Region des Persischen Golfs zu schwächen, in den Strategien des Teilens und Herrschens fortwährend reproduziert wird.

Der Irak ist als geopolitischer Akteur praktisch ausgeschaltet, sind die um die Macht im Land konkurrierenden ethnisch-religiösen Gruppen doch vor allem damit beschäftigt, sich gegenseitig in Schach zu halten. Was die baathistische Regierung einst zur Sicherung der eigenen Herrschaft an sozialen Vergünstigungen gewährte, wurde ersatzlos gestrichen, die relative ökonomische Eigenständigkeit des Irak wurde in das neokolonialistische Abhängigkeitsverhältnis eines warenkonsumierenden und ressourcenliefernden Peripheriestaates verwandelt, die Zivilgesellschaft liegt in Trümmern und wird von religiösen Kräften dominiert, was den irakischen Frauen, denen der einst säkulare Charakter der irakischen Gesellschaft relativ großzügige Freiheiten bescherte, besonders zum Nachteil gereicht.

Kurz gesagt, die Bilanz der westlichen Belagerungs-, Eroberungs- und Besatzungspolitik ist für die Bevölkerung des Landes so verheerend, daß es wie eine systematisch begangene Unterlassung wirkt, sie in die Debatte um die westliche Iranpolitik kaum einzubeziehen. Das gilt um so mehr, als die am Iran vollzogenen Maßnahmen nicht nur die Iraner selber treffen, sondern in zunehmendem Maße eine Gefahr für die ohnehin angeschlagene Weltwirtschaft darstellen. Wenn beansprucht wird, wie es die Politik der USA und EU offensichtlich tut, daß aus der Erzwingung von Zugeständnissen seitens Teherans irgend etwas resultiert, daß das Leben der Menschen dort wie hier im allgemeinen verbessert, dann muß dem entgegengehalten werden, daß ökonomische Sanktionen und militärische Drohungen für alle Beteiligten nur katastrophale Ergebnisse zeitigen können.

Was also ist die Ratio einer internationalen Politik, die hierzulande, wie der Eklat um Günter Grass belegt, mit der Vehemenz eines Glaubenskrieges gegen Häretiker, die sich dazu versteigen, die Staatsdoktrin in Frage zu stellen, durchgefochten wird? Sie erschließt sich, und darin ist den Kritikern des Literaten durchaus zuzustimmen, nicht in der verkürzten Sicht, laut der Israel ein aus allein eigenem Interesse handelnder potentieller Aggressor ist. Der Boden dafür, daß dem Irak seitens Israels mit sogenannten Präventivschlägen gedroht werden kann, wurde durch eine westliche Hegemonialpolitik bereitet, die den Iran notorisch ins Unrecht setzt, weil er ein für die Kräfteverteilung in der für die geostrategischen Interessen der EU und USA bedeutsamen Region zentraler Akteur ist.

Ohne die jahrzehntelange Unterstützung des israelischen Siedlerkolonialismus durch politische Rückendeckung bei den Vereinten Nationen und die umfassende Bereitstellung von Rüstungsgütern, die auch in den Palästinensergebieten eingesetzt werden, verfügte die israelische Regierung heute nicht über eine Handlungsfreiheit, die ihr die Androhung kriegerischer Maßnahmen gegen einen anderen Staat erlaubte. Die Aufgabe eines strategischen Aktivpostens der NATO erfüllt Israel auch dann, wenn es den Interessen der westlichen Regierungen vermeintlich zuwiderhandelt, indem seine Regierung Konflikte mit arabischen Regierungen oder dem Iran heraufbeschwört. Dabei werden Tatsachen geschaffen, die den NATO-Regierungen neue Handlungsoptionen eröffnen, während sie gleichzeitig vorschützen können, auf die Führung des souveränen Staates Israel keinen Einfluß zu haben und daher lediglich auf ihre Entscheidungen zu reagieren.

Aus dieser Konstellation heraus lassen sich Strategien der indirekten Einflußnahme erwirtschaften, die die derzeit häufig zu vernehmende Behauptung, man stelle die Welt auf den Kopf, wenn man Israel zum potentiellen Aggressor und den Iran zu dessen Opfer erklärt, glaubwürdig erscheinen lassen. Handlungsbedarf wird auch deshalb reklamiert, weil die iranische Hegemonialpolitik von der im jüngsten Anlauf gescheiterten kriegerischen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens maßgeblich profitiert hat. Im Grundsatz ist man sich einig darin, daß es einen strategischen Akteur, der den NATO-Staaten widerstehen könnte, in dieser für die Versorgung mit fossilem Brennstoff so wichtigen Region nicht geben darf.

Verdankt dieser seine relative Stärke auch noch Offenlassungen im strategischen Konzept der NATO-Staaten, dann gilt erst recht, daß der Iran - ob mit oder ohne Atomrüstung - ein Störfaktor ersten Ranges und ein gefährlicher Präzedenzfall ist. So produzierten die Unabhängigkeitsbestrebungen in der arabischen Welt, blieben sie den originären Akteuren überlassen, einen für die NATO-Staaten inakzeptablen Kontrollverlust. Was mit dem Regimewechsel in Libyen - einmal mehr zum Nachteil des Gros der betroffenen Bevölkerung - vorexerziert wurde, erweist sich auch im Fall des Iran als probates Mittel zur Intervention in die demokratischen Belange von Menschen, die sich aufgemacht haben, ihre gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse mit eigenen Mitteln und im eigenen Interesse zu ordnen.

So ist es kein Zufall, daß die reaktionärsten Regimes der arabischen Welt, die Staaten des Golf-Kooperationsrates, die zuverlässigsten Verbündeten der NATO-Staaten in den derzeit am heftigsten entbrannten Konflikten der Region sind. Was immer die Bevölkerungen Syriens und des Iran im Widerstand gegen ihre autokratischen Regierungen gewinnen könnten, wird durch die Einbindung dieser Konflikte in das geostrategische Dispositiv der NATO-Staaten zuverlässig korrumpiert. Auch die anderen arabischen Gesellschaften werden durch den drohenden Krieg dazu genötigt, sich an die administrative Handlungsfähigkeit zu klammern, über die die von ihnen in Frage gestellten Regimes noch verfügen. Die soziale Frage gerät zuallererst unter die Räder der Mordmaschinerie, die zu stoppen nicht gerade das vordringliche Interesse der USA und EU zu sein scheint.

Wie schon der Regimewechsel im Irak gezeigt hat, handeln imperialistische Akteure, so sehr sie Freiheit und Demokratie auch auf den Lippen führen mögen, stets gegen das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen, für die sie sich angeblich verwenden. Demokratische Erhebungen zu kooptieren und in bunte Revolutionen zu verwandeln, in deren Folge den Sachwaltern der NATO-Staaten das Ruder in die Hand gelegt wird, ist das sich zuverlässig wiederholende Muster fast aller seit 1990 erfolgten Versuche, autoritäre Verhältnisse im Interesse der davon Betroffenen zu überwinden.

Was die Konfrontation mit dem Iran in besonderer Weise auszeichnet, ist der hohe Einsatz, mit dem dort um die Durchsetzung der jeweiligen Hegemonialansprüche gepokert wird. So sorgen schon die verheerenden ökonomischen Folgen eines solchen Waffengangs dafür, daß die herrschaftsförmige Zurichtung der Aufstände in der arabischen Welt ihre paßgenaue Entsprechung in der ideologischen wie repressiven Aushebelung des sozialen Widerstands in den westlichen Metropolengesellschaften finden wird. Deren Regierungen werden mit dem Ausnahmezustand eines langwierigen Krieges zu exekutiven Maßnahmen ermächtigt, die unter jetzigen Bedingungen nicht ohne weiteres durchzusetzen sind. Der mit der Krise des Kapitals und der Staatshaushalte 2011 weltweit Gestalt annehmende soziale Widerstand droht sich mit der kriegerischen Eskalation im Nahen und Mittleren Osten in sein Gegenteil, den um so härter von oben nach unten geführten sozialen Krieg, zu verkehren.

Die besondere Rolle, die Israel in dem Konfliktszenario spielt, ist aus ganz praktischen Gründen symbolpolitisch hochgradig aufgeladen. Mit dem irreführenden Bild, hier werde der Zufluchtsort der Holocaustüberlebenden von einem religiösen Eiferer mit Vernichtung bedroht, wird jeglicher Einspruch gegen die Hegemonialpolitik der NATO-Staaten ins Abseits ideologischer Verwerflichkeit gerückt. So wird der Alarmruf, mit dem Günter Grass an die Öffentlichkeit getreten ist, mit eben der Irrationalität, die dem Autoren angelastet wird, negiert. Die unzureichende Bestimmung des sozialen Konflikts im Nahen und Mittleren Osten wie in den NATO-Staaten fällt letztlich allen auf die Füße, deren gesellschaftliche Position nicht so abgesichert ist, daß sie nicht von Armut und Verelendung heimgesucht werden können.

Es ist viel schlimmer, als daß einige Politiker in übersteigertem Machtstreben die Zukunft von Millionen Menschen aufs Spiel setzten - die sich einander aufschaukelnden Krisen der unzureichenden kapitalistischen Wertbildung, der gesellschaftlichen Reproduktion, der ökologischen Bedingungen und der politischen Systeme verlangen nach Lösungen, die in Anbetracht der nichtvorhandenen emanzipatorischen Streitbarkeit, zugunsten der sozialen Interessen der Menschen auf systemüberwindende Weise aktiv zu werden, auf der nächsthöheren Ebene der Zerstörung verortet werden. Da die immanenten Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung konstitutiv für die Sicherung politischer und gesellschaftlicher Herrschaft sind, wird ihre Regulation in der Flucht nach vorne, in der Einlösung der aufgetürmten Gewaltdispositive, gesucht.

Gewalt wiederum erscheint rational nur im Bestehen darauf, sich von der Ohnmacht vermeintlich unüberwindlicher Verhältnisse dadurch zu entlasten, daß man sie anderen um so mehr antut. Wie unzureichend der Anlaß der in der Bundesrepublik überfälligen Thematisierung dieser Kriegsgefahr und wie widersprüchlich er im Verhältnis zur Biografie seines Urhebers auch immer sein mag, angesichts eines Zerstörungspotentials, das schon an der einfachen Frage, zu wessen Wohl ein solcher Krieg geführt würde, in seiner ganzen Irrationalität sichtbar wird, gibt es nur einen Anlaß, den Boten der schlechten Nachricht zu schmähen - man ist an der katastrophalen Entwicklung, von der sie kündet, zutiefst interessiert.

Fußnote:

[1]‍ ‍http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2012/april/iran-die-falsche-medizin

13.‍ ‍April 2012