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HEGEMONIE/1750: Wer ist Diktator? - Personifizierung des Feindes entsorgt Klassenfrage (SB)




Wenngleich die Verdammung des Feindes wie ein roter Faden ideologischer Rechtfertigung der eigenen Aggression die Menschheitsgeschichte durchzieht, droht der Gewinn der Deutungshoheit doch heute in eine historisch beispiellose, weil irreversible Phase einzutreten. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der nachfolgenden Proklamation einer neuen Weltordnung seitens der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten nahm das Vorhaben Gestalt an, westliche Vorherrschaft strategisch gegen den Rest der Welt in Anschlag zu bringen und unumkehrbar durchzusetzen. Uneinholbarer Rüstungsvorsprung, ökonomische Suprematie und ihrer Vollendung entgegengetriebene Denkkontrolle kesseln die finalen Gegner China und Rußland mit unausgesetzter Kriegsführung, räumlicher wie wirtschaftlicher Okkupation und nicht zuletzt einem Trommelfeuer unablässiger Bezichtigung ein.

Wie zuvor die Schlachten um den Irak, Afghanistan und Libyen, um nur die markantesten Kriegsschauplätze zu nennen, treibt auch der Angriff auf Syrien in Vorbereitung eines Waffengangs gegen den Iran den Keil westlicher Expansion tiefer zwischen China und Rußland. Jede Verteufelung der Assad-Regierung ist zugleich ein Bannspruch an die Adresse Moskaus, mit dem man der russischen Führung die Legitimation zur Bewertung dieses Konflikts abspricht. Wer Terrorist, Schurke oder Diktator sei und mit dem Segen der internationalen Gemeinschaft vernichtet werden dürfe, entscheiden allein die Führungsmächte des Westens, die heute den Regimewechsel in Damaskus erzwingen, morgen Teheran niederwerfen und womöglich schon übermorgen den gesamten Nahen und Mittleren Osten sowie Teile Zentralasiens in der Hand haben wollen.

Rußland hat in der Syrienfrage durchaus Zugeständnisse gemacht. So stuft die russische Regierung Syrien jetzt erstmals von einem "Land mit einer schwierigen gesellschaftlich-politischen Lage" zu einem Land im bewaffneten Konflikt hoch. Auch wird die vertraglich zugesicherte Auslieferung dreier generalüberholter Kampfhubschrauber und Luftabwehrtechnik an Damaskus bis auf weiteres ausgesetzt. Moskau ergreift nicht einmal definitiv Partei für die syrische Regierung, sondern setzt sich für Verhandlungen mit der Opposition ein. Rußland nimmt den Friedensplan Kofi Annans ernst und zeigt sich ernsthaft bemüht, die Beschlüsse der Genfer Aktionsgruppe umzusetzen. So hat Moskau die diplomatischen Bemühungen noch einmal verstärkt und sogar namhafte Vertreter der syrischen Opposition zu Gesprächen in der russischen Hauptstadt empfangen.

Kompromißbereitschaft ist demgegenüber westlicherseits nicht zu erkennen, wo der Regimewechsel längst als beschlossene Sache und mithin einzig akzeptables Ziel gehandelt wird. Dreimal hat Rußland im UN-Sicherheitsrat eine Syrien-Resolution blockiert, die einem Sanktionsregime Tür und Tor öffnen soll. Für diese Weigerung setzt es schärfste Kritik, während die Forderung von russischer Seite, etwas zu unternehmen, um die militante Opposition zu veranlassen, den Weg einer politischen Regulierung einzuschlagen, auf gänzlich taube Ohren stößt. Bezeichnend die Haltung der westlichen Staaten, die sich nicht zu einer Verurteilung des Anschlags auf hochrangige Sicherheitsbeamte und Politiker in Damaskus bereitfanden und im selben Atemzug Sanktionen gegen die syrische Regierung forderten. Entrüstet erklärte der russische Außenminister Lawrow:

Mit anderen Worten heißt das: Wir werden solche Terroranschläge solange unterstützen, bis der Sicherheitsrat gemacht hat, was wir wollen. Das ist entsetzlich. Das macht mich sprachlos. Das gilt auch für die Äußerungen von Victoria Nuland, die erklärte, dass es ja nicht überraschend sei, dass es in Damaskus und Syrien solche Anschläge gebe, wenn sich das Regime von Assad so verhalte und der UNO-Sicherheitsrat nicht für das stimme, was die USA und Westeuropa wollten. Das ist eine direkte Rechtfertigung für Terrorismus! [1]

Die Schuld für die Eskalation in Syrien seinem Land in die Schuhe zu schieben, sei einfach, erklärte Lawrow. Weit schwieriger und anspruchsvoller sei die Suche nach Wegen, wie man ein Ende der Gewalt, eine Entmilitarisierung und den Beginn eines politischen Dialogs herbeiführen könne. Daß man im Westen nicht einmal den Versuch macht, dieser Position Moskaus Gehör zu schenken, befürchtete kürzlich auch der Politikwissenschaftler und Rußlandkenner Alexander Rahr in einem Gespräch mit Deutschlandradio Kultur [2]. Seines Erachtens zeichnet sich in der Syrienfrage eine grundsätzlichere Konfrontation zwischen Rußland und dem Westen ab, da Moskau in einer veränderten Weltordnung zum "Zaungast" der Weltpolitik zu werden drohe. Die große Frage aber sei, wer definieren könne, "wer Schurke und wer kein Schurke ist", so Rahr.

Für Rußland gehe es darum, kein zweites Libyen-Abenteuer zu unterstützen. Die NATO dürfe sich nicht zum Gendarmen der Weltpolitik aufschwingen und die Souveränität der Staaten durch Mandate und Missionen aushöhlen. 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion könne Moskau nicht hinnehmen, daß der Westen seine Position in der globalen Politik weiterhin ausbaut und die Russen und Chinesen an den Rand drängt. Syrien sei zwar kein Freund Rußlands, aber der letzte Verbündete in einer Region, wo heute die Weltpolitik mitentschieden werde. Verliere Rußland Syrien, büße es den letzten verbliebenen Einfluß in der gesamten Region ein. Rahr sieht einen neuen Kalten Krieg heraufziehen, da die Interessen Chinas und Rußlands mit der westlicherseits angestrebten neuen Weltordnung unvereinbar seien:

Die große Frage, die gestellt werden muss, ist, wer ist Diktator? Wer kategorisiert hier, wer erklärt der Öffentlichkeit, wer der Schurke und wer kein Schurke ist? Und das, denke ich, ist ein großes Problem der künftigen Weltpolitik.

Moskau verlange durchaus, daß Assad nicht gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, stimme aber einem Regimewechsel zugunsten des Westens nicht zu. Auch gehe man in Rußland davon aus, daß Teile der Opposition mit Waffen aufgerüstet werden. Wie die russischen Medien schrieben, sei die eine Hälfte der Bevölkerung gegen Assad, die andere weiterhin für ihn, vor allen Dingen die Minderheiten, die eine islamistische Machtübernahme fürchten. Gewinne die Opposition die Oberhand, drohe eine radikale Islamisierung des Landes, womit die Werthaltungen und Rechte, für die der Westen angeblich in Syrien eintritt, garantiert unter die Räder kämen und weitere Konflikte so gut wie sicher wären. Der Assad-Clan habe seit Jahrzehnten eine Schlüsselrolle für die Stabilität und die Sicherung der Minderheitenrechte inne. Dieser Blick auf die Verhältnisse in Syrien unterscheide sich grundlegend von der in westlichen Medien favorisierten Sichtweise.

Welch verhängnisvolle Auswirkungen die eskalierenden Auseinandersetzungen in Syrien haben, unterstreicht die dramatische Flüchtlingssituation. So sind seit dem Aufflammen der Kämpfe insgesamt mehr als 276.000 Menschen ins Ausland geflohen. Die meisten von ihnen, mehr als 140.000, hätten im benachbarten Jordanien Zuflucht gefunden, berichtet das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. In der Türkei seien insgesamt 70.000 Syrer angekommen, im Libanon 31.000. Auch andere Staaten der Region hätten Tausende Flüchtlinge gemeldet, und dies Zahl steige ständig an. Die erbitterten Gefechte verschärfen insbesondere die katastrophale Lage der Bevölkerung im heftig umkämpften Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die unübersichtlichen Fronten ziehen sich mitten durch Wohngebiete, unablässig werden Menschen getötet oder verletzt. Zahllose Bewohner haben Aleppo verlassen, bis zu 20.000 Menschen suchen offenbar in Schulen und Moscheen Schutz. [3]

Daß der Westen mit Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die reaktionärsten Regimes der arabischen Welt hofiert und mit Rüstungsgütern sowie einflußreichen Positionen in regionalen Entscheidungsprozessen überhäuft, läßt zweifelsfrei den Schluß zu, daß es in Syrien am allerwenigsten um Menschenrechte geht. Was immer Befürworter des Regimewechsels an fadenscheinigen Täuschungsmanövern oder blauäugiger Verkennung ins Feld führen mögen ändert nichts daran, daß es nach Maßgaben der Drahtzieher dieses Umsturzes keinesfalls um die Befreiung der Bevölkerung von ihrer Ausplünderung durch einheimische Oligarchen und transnationale Konzerne geht. So viel von Despoten, Diktatoren und finsteren Machthabern die Rede ist, von denen man die Welt befreien müsse, so wenig ist damit ein Ende der Klassengesellschaft gemeint. Der bei George W. Bush noch als stupide belächelte Feldzug gegen die "bösen Männer" Saddam Hussein und Osama Bin Laden feiert längst bornierteste Urstände in einer Personifizierung des Feindes, mit dessen öffentlichem Abschlachten der Triumph einer ultimativen Befreiung bejubelt und zugleich jeder Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse von Ausbeutung und Zurichtung nachhaltig verstellt werden. Der Zynismus, das Schüren eines Krieges mit Tausenden Toten und Hunderttausenden Flüchtlingen als den Weg in eine bessere Welt zu glorifizieren, konfrontiert nicht nur die Syrer mit der erklärten Absicht, die Herrschaftsverhältnisse nicht zu lockern, sondern Zug um Zug enger zu ziehen.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/weltzeit/1826942/

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1817766/

[3] http://orf.at/stories/2133732/2133731/

1. August 2012