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HEGEMONIE/1755: Appell der türkischen Regierung an NATO wird Früchte tragen (SB)




Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu hat den Versuch, sich der militärischen Unterstützung der NATO im Grenzkonflikt mit Syrien zu versichern, anhand des Vergleichs unterstrichen, daß der türkischen Grenze im Rahmen des Nordatlantikvertrags "der gleiche Stellenwert wie die norwegische Grenze" zukomme. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl, endlich praktische Bündnissolidarität zu demonstrieren, indem der Errichtung einer Flugverbotszone in Syrien zugestimmt oder militärischer Beistand in Form einer Intervention geleistet wird, ist bislang auf taube Ohren gestoßen. Außenminister Guido Westerwelle wollte nach seinem angeblichen Libyendebakel zwar nicht säumig sein und hat der Türkei bei einem Treffen mit Davutoglu in Istanbul "die Solidarität der Bundesregierung" zugesichert.

Mit seiner expliziten Erklärung, die Bundesregierung hätte im Falle der gefährlichen Aktion, die Landung einer syrischen Maschine in Ankara mit Kampflugzeugen zu erzwingen, nicht anders gehandelt, hat Westerwelle einen weiteren Schritt auf die abschüssige Bahn in Richtung eines militärischen Eingreifens auch der Bundeswehr in Syrien getan. Seine Warnung vor einem "Stellvertreterkrieg, der ein Land nach dem anderen in der Region in Brand setzt", kann hinsichtlich der aktiven Beteiligung der NATO-Staaten am Zustandekommen dieser Eskalation und der Erklärung des NATO-Generalsekretärs Rasmussen, daß die Pläne für eine mögliche Militärintervention bereitlägen, getrost als Scharade eines Politikers, der seine Kriegstauglichkeit unter Beweis stellen möchte, verstanden werden. Ohne die langanhaltende Kampagne der NATO gegen die syrische Regierung, die über sie verhängten Sanktionen, die propagandistische Aufwertung und materielle Unterstützung der Aufständischen im Land und das politische Bündnis mit den arabischen Gegnern der Regierung Assad, Saudi-Arabien und Katar, hätte sich dieser Aufstand nicht auf eine ähnliche Weise wie in Libyen entwickelt. Daß die NATO dort frühzeitig mit Luftangriffen und Spezialkommandos am Boden intervenierte, war der Tatsache geschuldet, daß die libyschen Streitkräfte nicht annähernd so kampfstark waren wie ihr syrisches Pendant. Im Falle Syriens wirkt der Eindruck, man zögere dort mit einer entsprechenden Intervention, daher wie ein taktisches Verzögerungsmanöver auf der Suche nach der optimalen Gelegenheit.

Wie haltlos der vom türkischen Außenminister angestellte Vergleich ist, belegen die häufigen Grenzübergriffe durch türkische Streitkräfte in die Kurdengebiete des nördlichen Irak. Entsprechende Grenzverletzungen durch die norwegischen Streitkräfte gegenüber Rußland hätten unabsehbare Folgen, während sich die Türkei gegenüber dem Irak zahllose Übergriffe erlaubt hat, die folgenlos blieben. Die Souveränität des Irak war seit dem Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen das Land 1991 de facto aufgehoben, und die Türkei hat sich wie die Golfkriegalliierten, die einen völkerrechtswidrigen unterschwelligen Krieg gegen den Irak führten, als Regionalmacht positioniert, die ihre hegemonialen Interessen nach Belieben zu Lasten schwächerer Nachbarstaaten durchsetzte. Auch die militärische Bedrohung Syriens 1998 durch die Türkei, mit der die Ausweisung des PKK-Führers Abdullah Öcalan aus dem Land erzwungen und seine Entführung durch den türkischen Geheimdienst in Kenia möglich gemacht wurde, zeigt, wie abwegig der Vergleich der türkischen Grenzen mit denen Norwegens ist.

Die von Davutoglu gezogene Parallele ist dennoch bedeutsam, den sie unterstreicht den Anspruch der Türkei, im Rahmen der NATO wie jeder andere Mitgliedstaat das Anrecht geltend zu machen, bei einer Bedrohung ihres Territoriums den Bündnisfall zu erwirken. Was die USA nach dem 11. September 2001 unter fadenscheinigen Bedingungen schafften, sollte für die türkische Regierung nicht weniger möglich sein. Meint es die NATO ernst mit der dem Land zugewiesenen Rolle, die Vereinbarkeit einer orientalischen Gesellschaft mit der Mitgliedschaft im okzidentalen Militärbündnis NATO zum Musterbeispiel für die Modernisierung der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens nach westlichem Vorbild und ihre Einbindung in das geopolitische Konzept der EU und USA zu erheben, dann wird sie bei einer weiteren Eskalation des Konflikts zwischen Ankara und Damaskus ohnehin Farbe bekennen müssen.

Das gilt um so mehr, als die Türkei eine gemeinsame Grenze mit dem Iran hat, der nach einem Regimewechsel in Ankara als nächstes auf der Liste notwendiger Waffengänge zu der seit langem konzipierten Neuordnung des Greater Middle East stände. Da es mit der Bombardierung einzelner Nuklearanlagen nicht getan wäre, wäre die Türkei Frontstaat in einem absehbar langwierigen und verlustreichen Krieg, was wiederum die Bündnissolidarität Ankaras gegenüber den westeuropäischen und nordamerikanischen Gründungsmitgliedern der NATO auf eine schwere Probe stellen könnte. Wer in Paris, Berlin, London und Washington die Fäden eines Stellvertreterkrieges zieht, an der die Regierung in Ankara mit der Unterstützung der syrischen Rebellen maßgeblichen Anteil hat, ist in einem Ausmaß in diese Krisenentwicklung verstrickt, daß es nicht weiter erstaunen kann, wieso die NATO in der Türkei die antidemokratische Unterdrückung ethnischer Minderheiten, die strafrechtliche Verfolgung kritischer Journalisten und Tausende politischer Gefangene der kurdischen Autonomiebewegung für akzeptabel hält, während sie das autokratische System in Syrien zum Anlaß einer Politik der äußeren Isolierung und inneren Destabilisierung des Landes nimmt.

An wessen Stelle der Krieg in Syrien in erster Linie geführt werden soll, wenn man einmal vom Iran absieht, darüber geben die jüngsten Ereignisse Aufschluß. Die mit der erzwungenen Landung eines Flugzeugs, zu dessen Passagiere 17 Bürger Rußlands gehörten, und der Mißhandlung einzelner Reisender durch die türkischen Sicherheitsbehörden vollzogene Provokation richtet sich ebensosehr gegen die Regierung in Moskau wie das Schüren eines Krieges durch die NATO in einem Land, mit dem der Kreml gute Beziehungen unterhält. Wie verantwortungslos deutsche Regierungspolitiker sind, die sich an dieser Eskalation beteiligen, scheint sich hierzulande noch nicht herumgesprochen zu haben.

Sollte die aggressive Politik Ankaras gegenüber der syrischen Regierung zu einer militärischen Konfrontation führen, wird die NATO ernten, was sie gesät hat. Wie bereits im Jugoslawienkrieg, den die NATO unter anderem führte, um die dauerhafte Notwendigkeit ihrer Existenz als imperialistisches Exekutivorgan unter Beweis zu stellen, wird auch jetzt eine Sachzwanglogik aufgebaut, deren Voraussetzungen die führenden Regierungen der westlichen Militärallianz selbst geschaffen haben, um ihr dann scheinbar ohne eigenes Zutun zu erliegen. Zwischen dem massiven Eigeninteresse der NATO an Regimwechseln in allen Ländern der Region, die sich dem westlichen Hegemonieanspruch nicht unterwerfen, und seiner gewaltsamen Durchsetzung steht nurmehr das Problem, wie ein Krieg zu verkaufen wäre, der die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der EU beschleunigte. Aus Sicht einer Krisenbewältigung, der mit einem Aderlaß zur Minderung der aufgelaufenen Überakkumulation an fiktivem Kapital gedient wäre, sollte selbst das kein unüberwindliches Hindernis sein.

14. Oktober 2012