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HEGEMONIE/1784: Sanktionspolitik gegen Rußland - Zündeln am Weltkrieg (SB)




Mit der dritten Stufe der Wirtschaftssanktionen könnte die Konfrontation mit Rußland einen Punkt ohne Wiederkehr überschreiten. Was die Außenminister der EU nun planen, soll nicht nur die Wirtschaft des Landes empfindlich treffen. Die Hauptstoßrichtung der Maßnahme ist gegen die politische Führung gerichtet, sie zu unterminieren ihr wesentlicher Zweck. Die Russische Föderation soll als eigenständiger staatlicher Akteur ausgeschaltet und unter die Kuratel einer Weltordnungspolitik gebracht werden, die den Hegemonial- und Kapitalinteressen der NATO-Staaten unterworfen ist.

Die dabei angeschlagene Sprache der Bundesregierung verrät, daß man aufs Ganze geht, um das eigene Projekt des Aufbaus der EU unter deutscher Führung zu einem Akteur von Weltrang voranzubringen. Angeblich um den Kreml zu nötigen, die Grenze zwischen Rußland und dem Osten der Ukraine hermetisch abzuschließen, damit die gegen die Kiewer Regierung kämpfenden Rebellen von ihrem Hinterland und Nachschub abgeschnitten werden, soll zu Sanktionen gegriffen werden, die das eigene Wirtschaftswachstum gefährden. Wo ansonsten sozialpolitische, ökologische oder humanitäre Argumente auf taube Ohren stoßen, wenn ihr Zweck die Minderung des nationalen Gesamtprodukts bewirkte, wird die heilige Kuh deutscher Regierungspolitik wegen eines Konflikts zwischen verschiedenen Gruppen der ukrainischen Bevölkerung geschlachtet.

Es ist offenkundig, daß es dazu umfassenderer Ziele bedarf als die Befriedung eines Bürgerkriegs, zu dessen Ausbruch eigene Hegemonialinteressen maßgeblich beigetragen haben. Diese reichen denn auch weit über die Zurichtung der Ukraine auf EU-Interessen im Rahmen des im ersten Anlauf nichtunterzeichneten Assoziierungsabkommens hinaus. Die vermeintlich falsche Wahl zwischen einer Zollunion mit Rußland und anderen postsowjetischen Staaten oder einem halben Schritt in Richtung einer EU zu treffen, die den Zugewinn an Handels- und Investitionsmöglichkeiten nicht mit dem wesentlich kostspieligeren Beitritt des Landes zum Staatenbund erkaufen wollte, machte Präsident Viktor Janukowitsch untragbar. Die von ihm aus pragmatischen Gründen vollzogene Abwägung der Vor- und Nachteile des Assoziierungsabkommens verwandelte den offiziellen Verhandlungspartner praktisch über Nacht in eine persona non grata. Verfassungsrechtlich gesehen war sein Sturz so illegal, daß die in Anspruch genommene Legalität seines Nachfolgers bis heute an dieser Erblast krankt.

Auch die im ukrainischen Bürgerkrieg getöteten Menschen sind Opfer einer Entscheidung, die nach der Agenda der EU keine sein sollte. Dort war man sich bewußt, daß die im Assoziierungsabkommen verlangten Wirtschaftsreformen und Ausgabenkürzungen mit sozialen Einbußen einhergehen, die die ohnehin verbreitete Armut in der Ukraine noch verschärfen würde, so daß man eine Auseinandersetzung um ideologische Werte inszenierte, um keine Fragen von konkreter materieller Art beantworten zu müssen. Die in der Behauptung der Kiewer Regierung, im Osten des Landes einen Antiterrorkrieg zu führen, unterstellte Illegalität des dortigen Aufstands läßt sich mit gleicher Gültigkeit auf die Füsse eines legitimen Aufstands der Anhänger der gestürzten Regierung gegen die Usurpatoren einer Staatsmacht stellen, die als durch bunte Revolution entwerteter Restposten verbliebener Souveränität an die meistbietenden Interessenten in Washington, Brüssel und Berlin verkauft wurde.

Sich nicht auseinanderdividieren zu lassen wäre mithin die beste Möglichkeit gewesen, um die Einheit der Ukraine zu gewährleisten, die nun mit einem hohen Blutzoll gegen die Aufständischen im Donbass durchgesetzt werden soll. Diese Konsequenz eines breit orchestrierten Putsches in Kiew als Ergebnis erpresserischer Machenschaften des Kreml darzustellen, stellt die Gewaltverhältnisse in der Ukraine in den Schatten einer Deutungsmacht, die sich nicht von ungefähr in kriegerischer Eskalation entlädt. Das Ausüben politischen und ökonomischen Druckes war zweifellos im Spiel, als der Aufstand des Euromaidan mit erheblichen finanziellen, politischen und logistischen Mitteln unterstützt wurde, um die seit dem Ende der Sowjetunion vorangetriebene Expansion der NATO-Staaten an den Grenzen der Russischen Föderation zu forcieren.

An diesem Druck wird festgehalten, indem die inneren Widersprüche einer Ukraine, in der die Oligarchie immer siegt, und sei es im Bündnis mit neofaschistischen Kräften, gegen Rußland gekehrt werden. Die konzertierte Aktion des US-amerikanischem und europäischen Imperialismus verrät die Handschrift einer Machtpolitik, die soziale und demokratische Fortschritte lediglich im Mund führt, um sie als operative Elemente eigener Einflußnahme zu instrumentalisieren. Aus einem Umsturz, in dem die aggressivsten Akteure die Initiative an sich reißen und mit dementsprechender Brutalität gegen Menschen und Parteien vorgehen, die ihren Nationalismus nicht teilten, kann nur eine autoritäre Staatlichkeit erwachsen, in der der liberale Ethos von Freiheit und Demokratie gegen sich selbst gewendet wird.

Diese Entwicklung dem Präsidenten Rußlands anzulasten, während die ukrainische Armee die eigenen Städte im Osten des Landes in Schutt und Asche legt und dabei auch noch die Aufklärung der Absturzursachen des Fluges MH17 verhindert, ist von so offenkundiger Widersprüchlichkeit, daß sie nur in der nächsthöheren Ordnung strategischer Ziele Sinn machen kann. Das gilt auch für eine Bundesregierung, die das Verhängen von Wirtschaftssanktionen, die ins eigene Fleisch schneiden, damit begründet, daß sie Rußland mehr schadeten als der Wirtschaft in der EU. Dafür, daß man sich in Berlin nach langem Zögern dazu durchgerungen hat, das ganz große Spiel einer Destabilisierung Rußlands zu wagen, dürften mehrere Gründe ausschlaggebend sein.

Zwar ist der Einfluß der transatlantischen Eliten auf die bündnispolitische Positionierung der Bundesrepublik aufgrund der eigenen Konkurrenz zu den USA nicht mehr so groß wie zur Zeit des Kalten Krieges. Im Zweifelsfall jedoch markiert die Option, den eigenen Aufstieg zu einem Akteur von Weltrang auf die globale Schlagkraft Washingtons zu stützen, die bündnispolitische Rückfallposition jeder Bundesregierung. Was bei der Nichtbeteiligung der Bundesrepublik am Irakkrieg nur scheinbar gelang, weil der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder keine Gegenposition zu den USA bezog, sondern die Eroberung des Irak logistisch unterstützte, ist in einem Konflikt zwischen den NATO-Staaten und Rußland keine Option mehr. Hier heißt es für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die schon die abwägende Politik Schröders als Oppositionspolitikerin nicht mitvollzog, Farbe zu bekennen, um bei weltpolitischen Entscheidungen auch in Zukunft auf der Seite der Gewinner zu stehen und bei der Verteilung des Fells des Bären mit von der Partie zu sein.

Zudem bietet die Ausrichtung auf ein gemeinsames Feindbild die Möglichkeit, die vielfach beklagte außenpolitische Handlungsunfähigkeit der EU durch eine unter äußerem Druck erzwungene Konsolidierung zu überwinden. Daß dies immer auch das Fernziel beinhaltet, die USA als führende Weltmacht beerben zu können, steht dazu ebensowenig im Widerspruch wie etwa die Aushandlung des Transatlantischen Freihandelsabkommens unter dem Schirm US-amerikanischer Totalüberwachung.

Der durch die andauernde Krise des Kapitals getriebene Strukturwandel in der Weltwirtschaft, der tiefgreifende Veränderungen im internationalen Handels- und Vertragsrecht zugunsten der unternehmerischen Freiheit transnationaler Akteure ins Werk setzt, ist ein weiterer Grund für die Beteiligung der EU an den Wirtschaftssanktionen gegen Rußland. Die weitere Liberalisierung und Verrechtlichung der Weltwirtschaft im Sinne der privaten Aneignung zur Daseinsvorsorge noch geschützter Produktionszweige und des grenzüberschreitenden Investitionsschutzes erfolgt im Interesse der produktivsten Wirtschaftsräume in Nordamerika und Westeuropa. Diese Konstellation steht bei allen internen Differenzen in Opposition zu dritten Akteuren, die sich herausnehmen, den Zugriff des transnationalen Finanzkapitals auf ihre Volkswirtschaften zu behindern oder sich ihm gar zu entziehen.

An der Neuordnung der Weltwirtschaft durch Freihandelsabkommen, die im Kern die legalistische Aushebelung demokratischer und verfassungsrechtlicher Prinzipien bezwecken, anhand derer arbeitsrechtliche, umwelt- und sozialpolitische Garantien im Interesse der davon betroffenen Bevölkerungen geschützt werden, hat die Russische Föderation bislang kaum Anteil. Wo die private Aneignung staatlich kontrollierter Unternehmen oder dem allgemeinen Nutzen vorbehaltener Naturressourcen, die Ausbeutung Staatszwecke finanzierender Rohstoffvorkommen oder die Bewirtschaftung agrarischer Flächen ausländischen Akteuren nicht ohne weiteres möglich ist, herrscht noch ein Ausmaß an souveräner Handlungsfreiheit, das für Regierungen, die es gewohnt sind, anderen Bevölkerungen die Interessen ihrer Kapitale durch Schuldendiktate und Handelsabkommen aufzuoktroyieren, schlicht inakzeptabel ist.

Wie das Festhalten der Bundesregierung an den Verhandlungen zum TTIP trotz aller Differenzen mit Washington belegt, ist es für die hochproduktive, doch rohstoffarme Bundesrepublik von großem Interesse, die administrative Verfügungsgewalt über die Akkumulation fiktiven, seiner materiellen Wertschöpfung weitgehend enthobenen Kapitals zu stärken. Ohne den politisch bestimmten Kredit der EZB und die finanziellen Rettungschirme in der Eurozone hätte sich die vermeintliche Erfolgsstory der deutschen Wirtschaft längst in ihr Gegenteil verkehrt. Die den Bevölkerungen durch die Austeritätspolitik aufgeherrschte Bringschuld, diesen Kredit durch ihre Arbeitskraft zu decken, über die Grenzen der EU hinaus zu verallgemeinern, kann am Beispiel der Ukraine studiert werden. Die hegemoniale Agenda der westeuropäischen und nordamerikanischen Metropolengesellschaften, nationale Produktivitätsunterschiede zugunsten der wirtschaftlich wie militärisch stärksten Staaten durch bilaterale Verträge auszunutzen, wird nicht im luftleeren Raum durchgesetzt. Sie richtet sich in diesem Fall gegen das Interesse Rußlands als eines Staates, der sich einem solchen Abhängigkeitsverhältnis aufgrund seiner schieren Größe, seines potentiellen Reichtums und seiner Atomwaffen nicht auf gleiche Weise unterwerfen läßt.

Wie die Kriege gegen den Irak und Libyen gezeigt haben, werden Länder, die sich aufgrund ihres staatskapitalistischen Charakters, ihres Rohstoffreichtums, ihrer autoritären Herrschaftsstruktur und der Abwesenheit einer Bourgeoisie, die einen Regimewechsel im Land selbst bewirken könnte, nicht ohne weiteres dem Zugriff äußerer Akteure öffnen, auch mit militärischen Mitteln sturmreif geschossen. Um die in Politik und Medien der NATO-Staaten kaum verhohlene Absicht, in Rußland einen Regimewechsel herbeizuführen, durchzusetzen, bedarf es Verbündeter innerhalb des Landes. Sollte es Putin nicht gelingen, die Geld- und Funktionseliten auch unter Sanktionsbedingungen hinter sich zu scharen, dann könnten die Brüche im russischen Machtgefüge in einen Bürgerkrieg münden.

Kann der eingeschlagene Kurs einer Verschärfung der Beziehungen zwischen USA und EU einerseits und Rußland andererseits nicht in absehbarer Zeit rückgängig gemacht werden, dann besteht auch die Gefahr, daß die Überakkumulation des Kapitals, die sich in langfristigen Niedrigzinsen bei stetig ansteigenden Börsenwerten ebenso ausdrückt wie im Mißverhältnis zwischen dem Verfall des Wertes menschlicher Arbeit, dauerhafter Massenarbeitslosigkeit und gleichzeitigem Anwachsen privater Vermögen, auf einen Staatenkrieg hinausläuft. Wenn die in historisch nie dagewesener Weise angehäuften Geldmengen, die kein Äquivalent in der industriellen Güterproduktion mehr finden und den angeblichen Zweck des Geldes, als Tauschwert der Lohnarbeit die individuelle und als unternehmerischer Mehrwert die gesellschaftliche Reproduktion zu gewährleisten, immer offener widerlegen, in einer kriegerischen Zerstörungsorgie zur Entwertung drängen, dann bietet sich die derzeitige Offensive gegen Rußland als Katalysator eines solchen Prozesses an.

Gefährlich ist diese Entwicklung mithin auf mehrfache Weise. In ihr vermengen sich die hegemonialen Ambitionen und die imperialistische Politik der NATO-Staaten auf brisante Weise mit der geostrategischen Erbschaft des Antibolschewismus, dessen Maxime unverändert lautet, daß nur ein schwaches Rußland ein gutes Rußland sei. Die zunehmende Unfähigkeit des Kapitalismus, seine Gesellschaften ohne humanitäre Katastrophen größeren Ausmaßes zu erhalten, reichert diese explosive Mischung mit einem Brandbeschleuniger an, über dessen Zünder niemand Kontrolle hat. Indem die inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses nach Kräften geleugnet und durch die gesellschaftliche Transformation vom demokratischen Sozialstaat und bürgerlichen Rechtsstaat in die neofeudale Eigentumsordnung des autoritären Sicherheitsstaates fortgeschrieben werden, könnte dieser Kontrollverlust die Züge einer menschheitsgeschichtlichen Katastrophe annehmen.


Fußnoten:

Zum Thema siehe auch:
HEGEMONIE/1783: Feindbild Rußland - Auf der Kommandohöhe moralischer Suprematie (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1783.html

31. Juli 2014