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HEGEMONIE/1798: Wer nach dem gescheiterten Putsch auf jeden Fall verlieren soll ... (SB)



Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nicht übertrieben, als er den gescheiterten Putschversuch ein "Geschenk Gottes" nannte. Etwas besseres hätte ihm und seiner Regierung kaum geschehen können als die Bestätigung all dessen, wovor er nicht müde wird zu warnen. Ob Terroristen oder Putschisten das Land bedrohen ist zweitrangig, solange sie nur die Bedrohung der Türkei als Ganzes verifizieren. Daß die AKP-Regierung nun freie Bahn bei der Ausschaltung der verbliebenen Opposition im Lande hat, ist nicht zuletzt der aus- und einschließenden Totalität der in Anspruch genommenen Kategorien von Staat und Nation geschuldet. Wer dazugehört und wer nicht, ist längst zu einer Frage auf Leben und Tod geworden, wie die massiven Angriffe von Polizei und Militär auf die kurdische Befreiungsbewegung im Südosten des Landes und die Unterdrückung der linken Opposition belegen.

Für die von Erdogans Autokratie betroffenen Minderheiten war durch einen erfolgreichen Militärputsch nicht viel zu gewinnen, kämen sie doch vom Regen der Präsidialdespotie in die Traufe einer Militärdiktatur. Was das heißt, wissen die älteren Bürgerinnen und Bürger des Landes noch aus leidvoller Erfahrung. Von daher brauchen sie auch nicht auf die angeblichen Wertegemeinschaften NATO und EU zu hoffen. Wird eine ihnen dienliche Staatsräson mit Mord und Totschlag durchgesetzt, dann scheint es nicht genug Augen zu geben, die dabei abgewendet und zugedrückt werden. Die kemalistische Generalität, die zuletzt 1980 putschte und auf deren Konto die Inhaftierung Hunderttausender meist linker Oppositioneller wie auch die Folterung und Ermordung Tausender politischer Aktivistinnen und Aktivisten ging, war auch aufgrund der Zugehörigkeit des Landes zur Nordatlantischen Militärallianz unantastbar. In Brüssel, Washington und Berlin schaute man nicht nur großzügig über die menschenrechtlichen Verfehlungen des türkischen Militärregimes hinweg. Die in der NATO etablierten Strukturen geheimdienstlicher Zusammenarbeit funktionierten bestens und wurden Kommunisten und Sozialisten, deren Aufstieg zu hegemonialer Größe in der Türkei es zu verhindern galt, zum Verhängnis.

So können auch nicht genug Krokodilstränen über die repressiven Machenschaften des Erdogan-Regimes vergossen werden, um die Kontinuität dieser als sicherheitspolitisch erforderlich ausgewiesenen Kollaboration vergessen zu machen. Die strafrechtliche Verfolgung der kurdischen und türkischen Linken in der Bundesrepublik erfolgt nach Maßgabe des Vereinigungsstrafrechts 129 b und kann als zielgerichtete Durchsetzung der politischen Leitlinien der Bundesregierung verstanden werden, steht dieses nicht umonst als Gesinnungsstrafrecht bekannte Instrument politischer Repression doch unter Weisungsbefugnis des Bundesjustizministeriums. Daß hierzulande Aktivistinnen und Aktivisten, die als politisch Verfolgte zum Teil schon viele Jahre in türkischen Knästen saßen und dort gefoltert wurden, in Zusammenarbeit mit den Repressionsorganen der AKP-Regierung der Prozeß gemacht wird, war auch vor dem Putschversuch und unter kemalistischen Regierungen ein Skandal. Wenn diese Menschen, die in der Türkei durch schlimmste Verfolgung bedroht sind, hierzulande zu mehrjährigen Hafstrafen aufgrund bloßer Zugehörigkeit zu politischen Organisationen, die in der Bundesrepublik nicht auf kämpferische Weise aktiv sind, verurteilt werden, dann ist zumindest klar, wo die Bundesregierung ihre machtpolitischen Optionen am Bosporus verortet.

Dementsprechend ist die einhellige Unterstützung Erdogans durch die NATO-Staaten nicht nur der Vernunft des kleineren Übels geschuldet, sondern läuft auf die positive Bestätigung seines Gewaltregimes hinaus. Unter maßgeblicher Anweisung des Präsidenten wird Krieg gegen einen Teil der Bevölkerung geführt, und das nicht, wie häufig behauptet, weil die PKK zum Terrorismus zurückgekehrt wäre. Die von der kurdischen Befreiungsbewegung unternommenen Versuche einer gütlichen Einigung mit der AKP-Regierung im Sinne von Autonomiebestrebungen, die die säkulare Staatlichkeit und territoriale Integrität der Türkei nicht in Frage stellen sollten, wurden noch lange aufrechterhalten, als die gegen Kurdinnen und Kurden gerichteten Maßnahmen Erdogans längst die Aufkündigung des Friedensprozesses signalisiert hatten.

Interessant für die Bevölkerung der Bundesrepublik ist denn auch weniger, wer genau welche Rolle im Machtkampf in der Türkei spielt, als die Frage, wieso die Bundesregierung der AKP-Regierung alles nachsieht, was im Falle anderer Staaten durchaus als Vorwand für machtpolitische Interventionen in ihre Souveränität dient. Wer auf jeden Fall dabei verlieren soll, sind alle sozial fortschrittlichen Kräfte, die die tiefen Klassengegensätze in der Türkei zum Gegenstand ihres Kampfes machen. Sie wollen die nun einmal mehr gestellte Machtfrage nicht dadurch beantworten, wer mehr Waffen und internationalen Einfluß besitzt und wessen religiöser Fundamentalismus die Massen besser mobilisieren kann, was im Konflikt zwischen Erdogan und seinem früheren Verbündeten Fetullah Gülen bedeutsam ist. Eben darum ist man sich in Berlin und Ankara wie in den Hochzeiten des Kalten Krieges, als die türkische Generalität den südöstlichen Stützpfeiler der NATO mit aller Gewalt gegen den Kommunismus schützen mußte, einig darin, die Linke im breiten Spektrum zwischen libertär-anarchistischen Aktivistinnen und Aktivisten, sozialdemokratischen Gewerkschaften und marxistisch-leninistischen Parteien unter allen Umständen klein zu halten.

In ihrer 14jährigen Regierungszeit hat die AKP die sozialen Widersprüche in der Bevölkerung des Landes enorm verschärft und zudem ein religiös indoktriniertes Gesinnungsregime etabliert, das selbst die kemalistische Autokratie, die stets unter Kontrolle der von der NATO unterstützten Generalität stand, als vergleichsweise fortschrittlich erscheinen ließ. Selbst wenn es den putschenden Militärs darum ging, die Laizität und den Republikanismus Kemal Atatürks wieder zu reinstallieren, hätte ihr Erfolg den sozial abgehängten und politisch ausgegrenzten Teilen der Bevölkerung wenig Erleichterung verschafft. Nun, da Erdogan über den Freibrief verfügt, aus dem Vollen repressiver Staatsgewalt schöpfen zu können, drohen wahrhaft düstere Zeiten in der Türkei Einzug zu halten.

16. Juli 2016


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