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HERRSCHAFT/1464: Warum nicht gleich ein virtuelles Parlament? (SB)



Alle Gewalt geht vom Volke aus, das in gleichen und freien Wahlen seine Vertreter ins Parlament entsendet, worauf diese die Bildung einer Regierung herbeiführen und deren Arbeit kontrollieren - so lautet in Kurzform das Credo der bundesrepublikanischen parlamentarischen Demokratie, die ihrem Selbstverständnis nach die bestmögliche aller Staatsführungen ist. Der böse Verdacht, daß die angeblich vom Volk ausgehende Gewalt demselben bei diesem Prozedere dauerhaft vorenthalten wird und ihm in Gestalt der Staatsgewalt herrschaftssichernd gegenübertritt, bekommt am heutigen Tag durch einen aberwitzig anmutenden Winkelzug der Parlamentarier neue Nahrung. Was der deutsche Bundestag da treibt, mutet auf den ersten Blick wie ein über jedes Maß und Ziel hinausgeschossener Wildwuchs an, den es zugunsten einer Wiederherstellung rechtlich einwandfreier und vor den Bürgern vertretbarer Verhältnisse zurückzuschneiden gilt. Geht man jedoch der Frage nach, wie ein derartiger Exzeß im parlamentarischen Kontext möglich ist, stößt man auf den systemischen Charakter einer Volksvertretung, die sich de facto von ihrer Klientel emanzipiert hat.

Wie "Die Welt" in ihrer heutigen Online-Ausgabe berichtet, haben sich die Abgeordneten des Bundestags einen Sitzungsmarathon auferlegt, der laut Tagesordnung um neun Uhr begonnen hat und erst nach einer rund 24stündigen Plenarsitzung am Freitagmorgen endet. Die vermeintliche Ochsentour der Parlamentarier erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als Fiktion, da die für den späten Abend und die Nacht anberaumten Debatten gar nicht gehalten, sondern lediglich zu Protokoll gegeben werden und im Archiv landen. Vor etwa zehn Jahren von den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen im Hinterzimmer vereinbart, werden solche virtuellen Debatten bei Bedarf inszeniert, obgleich sie nie in die Geschäftsordnung des Bundestags aufgenommen wurden. Natürlich müssen sich bei dieser Kumpanei die Abgeordneten mehrheitlich einig sein, wie das heute der Fall ist. Die Parlamentarische Gesellschaft lädt abends zum Sommerfest ein, und bei diesem gesellschaftlichen Höhepunkt des Hauptstadtlebens will natürlich kein Politiker fehlen.

Faulheit der Parlamentarier, die Nachtarbeit oder einen zusätzlichen Sitzungstag scheuen, ist jedoch nicht der einzige und entscheidende Grund für dieses abgekartete Spiel. Neben vergleichsweise belanglos anmutenden Projekten soll des nächtens auch ein von der Opposition abgelehntes und von Sachverständigen als in Teilen verfassungswidrig bezeichnetes Vorhaben durchgewinkt werden, mit dem die Bundesregierung die Befugnis zur Rundumüberwachung der Behördenkommunikation schaffen will. Bei einem derart bedeutsamen und strittigen Entwurf die parlamentarische Beratung zu verhindern, wäre für sich genommen schon ein Fall für das Bundesverfassungsgericht.

Daß diese fragwürdige Vorgehensweise nicht auf die Nacht beschränkt ist, zeigt ein Blick auf die Liste der rund 50 Vorhaben, die heute tagsüber im Schnelldurchgang debattiert und entschieden werden sollen. Da geht es um so brisante Komplexe wie Verschärfung des Waffenrechts, Kinderpornographie, Managergehälter und die Neuregelung der Patientenverfügung, die in der absurden Kürze der dafür anberaumten Diskussionszeit unmöglich kontrovers und erschöpfend behandelt werden können. Was in der zu Ende gehenden Legislaturperiode mangels Mehrheit nicht verabschiedet werden konnte, wird nun in letzter Minute übers Knie gebrochen, um die Einwände brachial auszuhebeln.

Da die parlamentarische Sommerpause naht und nur noch eine Sitzungswoche Ende Juni vorgesehen ist, worauf dann im September die Bundestagswahl folgt, leistet der Urlaubsdrang der Abgeordneten dem Manöver Vorschub, im Handstreich vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor der kommende Urnengang die Mehrheitsverhältnisse neu sortiert. Im machtpolitischen Kalkül wird die freie Rede im Parlament und damit die inhaltliche Auseinandersetzung auf dem Verfahrensweg eingeschränkt oder gar restlos gestrichen, so daß sich die maßgeblichen Entscheidungen in vollends undurchsichtige und unkontrollierbare Sphären verlagern.

Auf diese Weise entzieht sich die Koalition der Opposition, die Regierung dem Parlament und der politische Überbau dem Bürger, welchem mangels Öffentlichkeit der Entscheidungsprozesse jede Transparenz, geschweige denn Kontrolle abhanden kommt, was zwangsläufig zur Frage führt, ob er sie in diesem System je besessen hat.

18. Juni 2009