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HERRSCHAFT/1526: Verkappter Systemvergleich nach Erdbeben in Haiti und Chile (SB)



Vor der Projektionsfläche der verheerenden Erdbebenkatastrophen in Haiti und Chile packt der Sensationsjournalismus jeder Couleur die naheliegende Gelegenheit beim Schopf, einen verkappten Systemvergleich abzufeiern, der bis tief in reaktionärste und rassistische Bezichtigungsmuster reicht. Pflichtschuldig garniert mit Krokodilstränen und Hilfsversprechen ergötzt man sich am vollendeten Desaster der ersten schwarzen Republik der Weltgeschichte, die in den gut 200 Jahren ihrer Existenz nie richtig funktioniert hat, wie man süffisant anmerkt. Haiti war schon vor dem großen Beben das Armenhaus der gesamten Hemisphäre, wofür man despotische Führer, unstillbare Streitsucht, unausrottbare Korruption und andere schwere innere Mängel verantwortlich macht, die man den Haitianern anhängt, als sei das deren unausweichliches Schicksal aus Gottes Hand oder dem Diktat der Gene.

Wen kümmert's, daß die verjagten französischen Kolonialherrn einst der jungen Republik ungeheure Reparationszahlungen abpreßten und die US-Amerikaner in vorderster Front der Blockade dafür sorgten, daß die Erhebung der Sklaven gegen ihre Herren weder in Haiti selbst noch anderswo auf fruchtbaren Boden fiel. Stets waren die USA zur Stelle, wenn es galt, das Land zu besetzten, Diktatoren wie die Duvaliers zu unterstützen, einen weiteren Militärputsch zu inszenieren oder die Bauernschaft mit Billigimporten zu ruinieren. Ohne Jean-Bertrand Aristide stets beim Namen zu nennen, verbindet man insbesondere mit seiner Regierungszeit und beträchtlichen Anhängerschaft den entscheidenden Hinderungsgrund für den Einzug von Fortschritt und Wohlergehen, wie ihn die US-Amerikaner und Europäer ihrer eigenen Sichtweise zufolge den verstockten karibischen Faulpelzen und Hungerleidern vergeblich angetragen haben.

Nachdem Haiti von dem Erdbeben buchstäblich am Boden zerstört worden ist und bis zu 300.000 Menschen umgekommen sind, haben die USA kurzerhand die Kontrolle übernommen, um samt ihren Kollaborateuren das drangsalierte Land fortan als eine Art Protektorat verfügbar zu halten. Als Reservoir billigster Arbeitskraft für die Sweatshops der Textilindustrie taugt dieses Elendslager allemal, und was man nicht braucht, muß irgendwo zwischen Leben und Tod sein Dasein fristen. Wie das alles zu organisieren, zu verwalten und insbesondere zu befrieden ist, gibt überdies einen erstklassigen Feldversuch in Sachen Hungerregulation ab.

Ganz anders hingegen Chile, aus hiesiger Sicht das Musterland Lateinamerikas, weil man seinen Bewohnern fast schon deutsche Tugenden attestieren kann, als gebe es kein höheres Lob. Natürlich ein Produkt weißer Einwanderer aus Europa und nicht eingeborener Rückständigkeit, fleißig und strebsam, der Moderne aufgeschlossen und folglich von Wohlstand gesegnet, um den ihn die Versager von Nachbarn beneiden. Energisch zupackend, wenn es gilt, utopische Flausen auszutreiben, und wenn dabei ein paar Jahre Diktatur herausspringen, ist das auch nicht das Allerschlimmste. Rechtfertigt ein ansehnliches Wirtschaftswachstum nicht ein wenig Entführung, Folter und Mord?

Die Junta hat Chile vor dem Chaos gerettet und zu einem südamerikanischen Wirtschaftswunderland gemacht, lautet der Mythos eines Interessenkomplexes, der die chilenischen Eliten mit ihren mächtigen Hintermännern in den Metropolen vereint. Stets ging es um Ausbeutung und Zurichtung der chilenischen Bevölkerung, der aller Widerspruchsgeist ausgetrieben werden sollte, um der neoliberalen Offensive den Weg zu bereiten. Das vielgepriesene chilenische Modell beruht auf einer ausgeprägten Spaltung der Gesellschaft in eine profitierende Minderheit von einflußreichen Familien, Großunternehmen, Banken sowie dem Großbürgertum auf der einen und einer abgehängten Mittelschicht sowie einem wachsenden Anteil in Armut lebender Menschen auf der anderen Seite. Heute repräsentieren die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mehr als 40 Prozent aller Ausgaben der Privathaushalte, während die ärmsten zehn Prozent mit nur zwei Prozent auskommen müssen. Mittel- und Unterschicht bleibt nur die Alternative zwischen Konsumverzicht oder Verschuldung, was in der Konsequenz auf dasselbe hinausläuft.

Noch ehe die Chilenen selber wußten, wie ihnen bei dem jüngsten Erdbeben geschehen war, gab man in den hiesigen Schreibstuben paßförmiger Weltbetrachtung bereits halbwegs Entwarnung. Obwohl das Beben viel schwerer als jenes in Haiti war, sei eigentlich kaum etwas passiert. In Chile baut man stabil, bereitet sich mit Übungen auf Katastrophen vor, verhält man sich diszipliniert und kann auf einen gut funktionierenden Staat vertrauen. Kaum ein Kommentar zur Lage im Erdbebengebiet, der nicht den Vergleich zur Hölle Haiti und die Vorzüge zivilisatorischer, ökonomischer und sozialer Höherentwicklung im chilenischen Paradies bemühte.

Indessen machten mit jedem weiteren Tag zunehmend unerfreuliche Berichte die Runde. Da war von Plünderern und Räubern die Rede, die vom Durcheinander profitierten und sich an der Not ihrer Mitmenschen bereicherten. Man hörte von Bränden und Schießereien, Vandalen und Bürgerwehren, Opfern von Schußwaffengebrauch, Ausgangssperren, Festnahmen und immer mehr Soldaten auf den Straßen. Wie konnte das im disziplinierten Chile mit seiner Katastrophenvorsorge und funktionierenden Verwaltung geschehen? Die chilenische Regierung schien anfangs selbst diesem Mythos aufzusitzen, spielte das Ausmaß des Verhängnisses herunter und erklärte zunächst, sie werde die Probleme aus eigener Kraft bewältigen.

Wie sich inzwischen herausgestellt hat, ist das Ausmaß der Katastrophe sehr viel größer, als man zunächst angenommen oder eingeräumt hat. Durchaus vergleichbar mit Haiti, haben die notleidenden Menschen angesichts ausbleibender Hilfe begonnen, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Was als Plünderung, Vandalismus und Ausschreitung verurteilt und sanktioniert wird, ist häufig Ausdruck schierer Not und tiefer Erbitterung. Die extreme soziale Polarisierung der chilenischen Gesellschaft schlägt nun um so gravierender durch, zumal die armen Teile der Bevölkerung wie so oft am schwersten von den Auswirkungen der Naturkatastrophe betroffen sind.

Zudem konstatiert man nun ernüchtert, daß die Vorsorge keineswegs hält, was sie versprochen hat. Bislang scheint ungeklärt zu sein, ob die Marine die Bevölkerung überhaupt vor der herannahenden Flutwelle gewarnt hat. Auch ist die Bauweise keineswegs so erdbebensicher, wie anfänglich vermutet. Zahllose Häuser sind zwar nicht eingestürzt, weisen aber so schwere strukturelle Schäden auf, daß sie eingerissen werden müssen. Vielerorts warteten die Menschen tagelang vergeblich auf Hilfe, und insbesondere zu abgelegenen ländlichen Regionen ist die Verbindung abgerissen.

Wenngleich Ort und Schwere des Bebens natürlich maßgeblich zur Zahl der Opfer und Ausmaß der Zerstörungen beigetragen haben, zeichnet sich inzwischen immer deutlicher ab, daß auch der ausgeprägte Klassencharakter der Gesellschaft in hohem Maße mitbestimmt, wer Schaden erleidet und in seiner Not keine Unterstützung erfährt. Die Antwort der chilenischen Regierung ist im Prinzip dieselbe, zu der man auch in Haiti gegriffen hat: Einsatz des Militärs gegen die Bevölkerung, um das Aufbegehren im Keim zu ersticken und die Ruhe und Ordnung der herrschenden Verhältnisse wiederherzustellen.

3. März 2010