Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1607: Akw-Streßtest - Feigenblatt des Atomstaats (SB)



Deutsche Atomkraftwerke sind nicht so unsicher, daß sie unverzüglich abgeschaltet werden müßten. Das ergab der "Streßtest" der Reaktorsicherheitskommission (RSK), dessen Ergebnis Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) am Dienstag in Berlin vorstellte. Jedes andere Resultat wäre eine Sensation gewesen, hätte sich doch die RSK als wichtigste Beratergruppe der Regierung in Nuklearfragen im Falle einer Alarmmeldung selbst ein Armutszeugnis hinsichtlich ihrer bisherigen Tätigkeit ausgestellt. Auf der anderen Seite sind Schwächen deutscher Atomkraftwerke (mangelnde Auslegung gegen schwere Erdbeben und Abstürze von Passagiermaschinen) längst bekannt, so daß von den Experten auch kein uneingeschränkter Persilschein für die Akws zu erwarten war.

Die schleswig-holsteinische Atomaufsicht kritisierte zwar, daß für eine atomaufsichtliche Bewertung nicht die erforderliche Zeit gewesen sei und viele Fragen deshalb nicht beantwortet werden konnten - man habe sich bei einer Reihe von Fragen lediglich auf die Einschätzungen der Akw-Betreiber verlassen müssen -, Röttgen hält es dennoch für verantwortbar, daß sich die Regierung nicht "Hals über Kopf" von der Atomenergie verabschiedet. Diesen Standpunkt vertrat er eigentlich bereits vor Abschluß des Streßtests und letztlich auch vor dem Fukushima-Super-GAU, als die Regierung noch in Mißachtung des Ausstiegsbeschlusses der rot-grünen Bundesregierung und vor allem des Interesses einer breit aufgestellten Anti-Akw-Bewegung eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke beschloß.

Aus herrschaftstechnischer Sicht hat Fukushima alles verkompliziert. Nun muß die Regierung gegenüber den Wählern den Eindruck erwecken, sie sei von der Entwicklung in Japan völlig überrascht worden und reagiere selbstverständlich auf die neue Situation, die sich niemand habe vorstellen können. Falsch! Experten warnen seit langem davor, Atomkraftwerke in tektonisch instabilen Regionen zu bauen, und Japan ist nun wirklich kein Land, das für seine seismische Inaktivität bekannt wäre. Zudem stammt der Begriff Tsunami aus dem Japanischen, was zweifellos darauf hindeutet, daß das Phänomen plötzlich auftretender riesiger Flutwellen kein allzu seltenes Ereignis in dem Inselstaat sein kann. Atomkraftwerke an der Küste oder auf tektonischen Bruchzonen zu errichten, ist somit reichlich kaltschnäuzig.

Diese Charaktereigenschaft ist kein Alleinstellungsmerkmal japanischer Akw-Betreiber. In Deutschland treten zwar normalerweise keine so schweren Erdbeben wie in Japan auf, aber ausgerechnet im geologisch vergleichsweise instabilen Rheingraben nukleare Meiler aufzustellen, zeugt auch hierzulande von mangelndem Verantwortungsbewußtsein in Politik und Nuklearwirtschaft. Zur Erinnerung: Ohne behördliche Genehmigung war das Akw Mülheim-Kärlich wegen der Erdbebengefahr am Standort im Neuwieder Becken kurzerhand 70 Meter entfernt errichtet worden. Dagegen wurde erfolgreich geklagt, aufgrund eines Gerichtsentscheids mußte das Akw abgeschaltet werden. Das Aus kam also nicht direkt wegen der Erdbebengefahr, aber zumindest war diese der Auslöser.

Nun sucht die schwarz-gelbe Bundesregierung im Superwahlhahr 2011 nach einem Weg, wie sie der Öffentlichkeit verkaufen kann, daß der vollständige Atomausstieg rückgängig gemacht wird, ohne dies beim Namen zu nennen. Vermutlich werden einige der 17 deutschen Akws abgeschaltet bzw. abgeschaltet bleiben, aber andere dürften auch in zehn, zwanzig Jahren noch in Betrieb sein - sofern sie nicht bis dahin havariert sind.

Nicht aus energetischer, sondern aus herrschaftstechnischer Sicht sind Atomkraftwerke ziemlich attraktiv, da sie für eine zentralistische Energieversorgung und hochqualifizierte Verfügungsgewalt stehen. Der aktuelle Sicherheitsdiskurs stärkt sogar noch den Atomstaat, verhilft er diesem doch zu Vorwandslagen, mit denen er seine administrativen Befugnisse und Repressionsorgane zum vermeintlichen Schutz der Bevölkerung weiterentwickeln kann. Darüber hinaus könnte die Bewachung sensibler Infrastrukturen, wie sie Akws darstellen, in Zukunft die Begründung für umfänglichere polizeistaatliche Überwachungsmaßnahmen liefern. Wenn beispielsweise die Forderung erhoben wird, Akws vor Terrorangriffen zu schützen, müßte dies konsequenterweise auch für andere Einrichtungen (Trinkwasseranlagen, Stauseen, Eisenbahn- und Autobrücken, Gas- und Erdöllager, U- und S-Bahnen) gelten.

Da sich die globale Mangellage der Menschheit gegenwärtig deutlich zuspitzt und Deutschland davon nicht verschont bleiben wird, würde somit ein administrativer Vorgriff auf zukünftige, potentiell Unruhen auslösende Verteilungsmaßnahmen geschaffen, deren eigentliche Funktion nicht die Versorgung aller, sondern Durchsetzung der vorherrschenden Eigentumsordnung ist. Der Begriff Atomstaat steht dabei nicht einfach nur für den Betrieb vieler Atomkraftwerke, sondern für eine Qualifizierung der Verfügungsgewalt und umfassende Bevölkerungskontrolle. Akws bilden den Katalysator in einem Prozeß der sich vertiefenden Vergesellschaftung des Menschen und Verschleierung der Unvereinbarkeit der Interessen von Herrschenden und Beherrschten.

17. Mai 2011