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HERRSCHAFT/1628: Occupy-Bewegung zeigt Wirkung und steht vor größeren Problemen (SB)



Die neue Occupy-Bewegung wurde nicht von der US-Initiative Occupy Wall Street initiiert, wie bürgerliche Medien glauben machen. Sie hat zwar deren mobilisierungsträchtigen Imperativ übernommen, doch der weltweite Aktionstag am 15. Oktober wurde bereits im Mai im Zuge der spanischen, von der breiten Beteiligung der Bevölkerung her sehr erfolgreichen Protestbewegung der Indignados geplant. Diese wiederum orientierte sich an den arabischen Aufständen sowie am Kampf der griechischen Bevölkerung gegen ihre Ausplünderung durch EU, EZB und IWF. Dieses Detail ist nicht ganz unwesentlich, lenkt es den Fokus der Proteste doch zurück auf die Situation in der Europäischen Union und ihrer neokolonialistischen Peripherie Nordafrika. So sehr die Wall Street Symbol und Zentrum eines ruinösen Finanzkapitalismus sein mag, so wichtig ist es für die europäischen Aktivistinnen und Aktivisten, den Finger in die Wunde der sie verfügenden und verarmenden Herrschaftsstrukturen zu legen.

So lassen bürgerliche Politiker und Kommentatoren nichts unversucht, die sozialen Bedingungen in der EU durch Verweis auf die schwerwiegenderen Mißstände in den USA zu relativieren. Die breite und durchaus zugewandte Berichterstattung, die Occupy Wall Street hierzulande erhalten hat, grenzt an den gleichen sozialchauvinistischen Tenor, der in einer medialen Hetzkampagne gegen griechische Arbeiterinnen und Arbeiter einen weiteren Schub nationalistischer Selbstvergewisserung erzeugte. Der Zusammenhang zwischen der Disziplinierung der deutschen Erwerbstätigen durch Lohnzurückhaltung und Hartz-IV-Regime und der zu Lasten anderer EU-Bevölkerungen gehenden Exportoffensive der deutschen Wirtschaft wurde dementsprechend niedrig gehängt, so daß die Befriedung der sozialen Widersprüche in der Bundesrepublik mit starkem Rekurs auf die nationale Not- und Schicksalsgemeinschaft erfolgen konnte.

Dementsprechend schwer tun sich hierzulande linke wie bürgerliche Kommentatoren mit der Bewertung dieser neuen Protestbewegung. Die gegen sie erhobenen Vorwürfe seitens linker Kritiker reichen vom antisemitischen Charakter verkürzter Kapitalismuskritik bis zur ungenügenden Konsequenz eines linksliberalen Reformismus. Während ersteres im Ergebnis den Frieden der Paläste sichert, wie die Torpedierung der im ausgefallenen heißen Herbst 2010 geplanten Bankenblockade in Frankfurt und die auch von der israelischen Protestbewegung geäußerte Kritik an Finanzmarktakteuren belegen, trifft letzteres zumindest für Teile der Occupy-Bewegung zu. Wenn behauptet wird, nicht der Kapitalismus, sondern der Korporatismus sei das Problem, wenn lediglich eingefordert wird, daß die zu Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 versprochenen Reformen des Bankensektors endlich vollzogen werden müßten, wenn die zur Überwindung des Kapitalismus notwendige Staatskritik ausbleibt, dann hat man es mit einem zahnlosen, leicht zu konternden Protest zu tun.

Gleichzeitig belegen die in manchen Presseberichten artikulierten Ängste nicht nur vor einer Ausweitung der Protestbewegung, sondern vor allem der Zuspitzung ihrer inhaltlichen Schärfe, daß dieser Aufbruch Wirkung zeigt. Die Zeitung Schleswig-Holstein am Sonntag spricht für diejenigen Bedenkenträger, die die realpolitischen Widersprüche schlicht auf dem Altar des ideologischen Bekenntnisses opfern: "Heute sind es die so genannten Finanzeliten, morgen alle 'Kapitalisten', und danach ist es womöglich das ganze System. Solchen Anfängen zu wehren, verlangt viel Aufklärung über den Zusammenhang von Freiheit, Wohlstand und freier Marktwirtschaft." [1] Andere Zeitungen wie der Berliner Tagesspiegel - "Der deutsche Ableger der kapitalismuskritischen Anti-Banken-Bewegung 'Occupy Wall Street' ist ganz ordentlich gestartet. Immerhin konnten fast so viele Menschen mobilisiert werden wie beim norddeutschen Ponymarkt in Hunteburg vor einer Woche" [1] - oder Spiegel Online - "99 Prozent blieben zu Hause" [2] - verlegen sich darauf, sich über die geringe Teilnehmerzahl einzelner Occupy-Initiativen lustig zu machen.

Der bedingte Reflex professioneller Systemapologeten ist bar jedes Verständnisses für die Dynamik gesellschaftlicher Antagonismen, die nach Lehrbuch hin und wieder zu explosionsartigen Ausbrüchen führen müssen, welche zu befrieden dann Aufgabe der richtigen Mischung aus Repression und Partizipation sei. Unberücksichtigt bleibt im Falle einer Protestbewegung, die am Kern des sozialen Konflikts rührt, daß es sich um eine historische Produktivkraft ersten Ranges handeln kann, wenn sie ihr Klasseninteresse artikuliert und in der Lage ist, ausgegrenzte und resignierte Gruppen der Bevölkerung zu mobilisieren. Wie die Inszenierung diverser bunter Revolutionen gezeigt hat, setzen sich Politik und Medien schnell an die Spitze der Bewegung, wenn die zu erwartenden Ergebnisse ihrem regulativen Kalkül entsprechen. Freiheit und Demokratie wurden beim Fall der Mauer und dem Anschluß der DDR an die BRD so massiv von herrschenden Interessen besetzt, daß der unreflektierte Umgang mit beiden Idealen schnurstracks in die PR-Agenturen der kulturindustriellen Legitimationsindustrie, in das Mandat einer politischen Partei oder den gutbezahlten Job in Think Tank oder NGO führt.

Das gilt es zu bedenken, wenn ein neuer Aufbruch nicht Gefahr laufen will, von den hochentwickelten Verdauungsapparaten systemischer Befriedung aufgesaugt zu werden. Die Occupy-Bewegung ist so heterogen wie die Multitude, die Hardt und Negri zum neuen Subjekt der globalen Transformation erhoben haben, und bedarf daher der entschiedenen Klärung ihrer inhaltlichen Forderungen. Bleibt sie ein Phänomen postmoderner Beliebigkeit, dann kommt sie über eine von jeglicher Ironie befreite Friede-Freude-Eierkuchen-Emphase nicht hinweg. Schärft sie die Waffen der Kritik, dann könnte das schöne Motto einer antikapitalistischen Demonstration im Juni 2010 "Show an undead system how to die!" mit neuer Brisanz erfüllt werden.

Zweifellos ist die krisenhafte Entwicklung bestens dafür geeignet, die erzielten Anfänge in eine kampfstarke Bewegung münden zu lassen. Gründe dafür, auf der Straße aktiv zu werden, selbstorganisierte basisdemokratische Strukturen zu bilden, unvertraute Formen der Kollektivität zu erkunden und die Solidarität in bedrängter Lage zu stärken, sind überreichlich vorhanden. Fragen, worum es in diesem Kampf konkret geht, inwiefern seine Aktivistinnen und Aktivisten ihr Engagement etwa auf Arbeitskämpfe oder Gefangenenunterstützung ausweiten, ob ihr Zusammenschluß über die Staatsgrenzen hinweg gelingt und handlungsfähige Strukturen hervorbringt, welche Rolle die antikapitalistische Linke in ihm einnimmt, wie mit staatlicher Repression, geheimdienstlicher Unterwanderung und ideologischen Spaltungsstrategien umzugehen ist, machen deutlich, daß der erfolgreiche Beginn Probleme hervorbringt, die mit dem Elan des Aufbruchs allein nicht zu bewältigen sind. Diese Aufgaben allerdings eröffnen auch die Chance darauf, sich seiner fremdbestimmten Verfügbarkeit zu entledigen und eine Sprache und Kultur autonomer Subjektivität zurückzuerobern, die auszulöschen Sinn und Zweck des waren- und herrschaftsförmigen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung sind.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/presseschau/

[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,792017,00.html

16. Oktober 2011