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HERRSCHAFT/1721: Extremismuslogik und Interessenpolitik (SB)



Die türkische Regierung beschießt die eigene Bevölkerung in den Städten mit kurdischer Mehrheit im Südosten des Landes, sie läßt Demonstrantinnen am internationalen Frauentag zusammenknüppeln, kriminalisiert oppositionelle Medien und führt in Syrien einen Stellvertreterkrieg gegen die Regierung des Landes, indem sie militärische Kräfte der islamistischen Opposition unterstützt und die kurdische Autonomie im nordsyrischen Rojava mit militärischen Mitteln zu zerstören versucht. Von der Bundesregierung ist dazu kein Wort der Kritik zu vernehmen, was allerdings das kleinere Übel ist. Die betroffenen Kurdinnen und Kurden als Aggressoren darzustellen, wie es Außenminister Steinmeier unter Verweis auf die von Ankara erwirkte Listung der kurdischen PKK als terroristische Organisation durch die EU tut, könnte auf die Gutheißung eines Massakers an der kurdischen Zivilbevölkerung hinauslaufen, versieht es doch das mörderische Treiben der türkischen Führung mit zusätzlicher Legitimität. Innenminister de Maizière hat gute Gründe, kein Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte sein zu wollen, denn nur so kann er auf der Seite der Gewinner alle Register machtpolitischen Foulplays ziehen.

Um die Türkei für die Flüchtlingsabwehr an den Außengrenzen der EU zu gewinnen, scheint jedes Mittel recht zu sein, so auch die völlige Unterschlagung des zentralen Fluchtgrundes. Der Krieg in Syrien wurde zu einem Gutteil im Interesse der AKP-Regierung angeheizt, und auch hier hat die Bundesregierung stets Partei für einen Regimewechsel in Damaskus und gegen die legitime Verteidigung syrischer Staatlichkeit ergriffen. Um so weniger braucht man sich darüber zu wundern, daß heute nicht mehr hinter dem Schild einer wertegestützten Außenpolitik operiert werden muß. Geht es hart auf hart - und dieser Stand scheint für viele Bundesbürgerinnen und -bürger schon damit erreicht zu sein, daß in Zukunft eher mehr als weniger mit den Armen der Welt geteilt werden müßte -, dann wird das Schwert der Interessenpolitik ganz unverhohlen blankgezogen.

Um die noch durchlässigen Stellen des Gefühlspanzers zu schließen, an denen die Bilder ertrunkener Menschen mitfühlende Wirkung entfalteten, wird in Zukunft ein reger Menschenhandel in der Ägäis stattfinden - ich gebe dir einen illegal in die EU eingereisten Syrer zurück, der die gefährliche Überfahrt ganz umsonst gemacht hat und sich nun hinten anstellen muß, und du gibst mir einen legalen Kontingentflüchtling, der auf seine Befähigung abgeklopft irgendwo in der EU Aufnahme finden soll. Ohnehin zur herrschaftsstrategischen Manövriermasse herabgewürdigt, kann der den drohenden Tod fliehende Mensch nach Belieben selektiert werden, um sich etwa für die Einflußnahme der EU beim späteren Wiederaufbau Syriens nützlich zu machen oder anderweitig in eine Arbeits- und Bevölkerungspolitik eingespeist zu werden, deren wesentlicher Nutzen in der fast beliebigen, der Flexibilität permanenten Krisenmanagements gemäßen Verfügbarkeit ihr ausgelieferter Menschen besteht.

Als Technokraten einer in Entwurf und Vollzug machiavellistischen Ratio erweisen sich die Staats- und Regierungschefs der EU nicht minder als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Der Konsens der Demokraten, die Flüchtlingsabwehr auf Vordermann zu bringen, indem auch letzte Reste eines individualrechlichen Asylanspruchs dem Interesse am Zusammenhalt der EU unter deutscher Führung geopfert werden, gerät ganz und gar zur Farce, wenn versucht wird, das ramponierte Ansehen unter Verweis auf die rechte Konkurrenz zu sanieren. Die AfD in die Schranken zu weisen, indem staatsautoritärer und menschenfeindlicher Politik der Zuschlag gegeben wird, heißt ihr bis zur Ununterscheidbarkeit ähnlich zu werden. Wenn die Abwehr des Rechtspopulismus das Besetzen seiner Positionen erfordert, dann erweist sich, daß inhumane Politik und aggressive Ausgrenzung dem Original der kapitalistischen Gesellschaft so immanent sind, wie ihre Kritikerinnen seit jeher behaupten.

Wenn es eines nicht allzufernen Tages keiner Vorwände zum Durchregieren mehr bedarf, dann kann die Ermächtigung der Exekutive auch ohne die Behauptung vollzogen werden, es gelte, Staat und Gesellschaft vor extremistischen Parteien zu schützen. Da die AKP-Regierung nicht müde wird zu behaupten, die von ihr unterdrückte kurdische Bevölkerung sei nicht minder gefährlich für den türkischen Staat wie die IS-Kämpfer, legt ihre Unterstützung durch die Bundesregierung nahe, daß der zur Verwechselbarkeit gesteigerte Antiextremismus auch ein Modell für die Beherrschung deutscher Zustände sein könnte. Wird die hiesige Bevölkerung dereinst mit Maßnahmen nach Vorbild türkischer Polizeistaatlichkeit überzogen, dann wird sich manch einer fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, sich mit den Flüchtenden zu verbünden, anstatt die Festungslogik der Burgherrin mit dem Schutz eigener Interessen zu verwechseln. Abgeschottet wird schließlich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen in Form einer Undurchdringlichkeit Mangel und Not zementierender Schranken, der gegenüber die Sozialkonkurrenz liberaler Klassengesellschaften fast noch den Charakter eines sportlichen Wettbewerbs aufweist. Wer Schutz und Trutz in der Nation sucht, muß damit leben und sterben, zu ihrem Nutzen in seiner Ohnmacht isoliert und eingefriedet zu werden.

8. März 2016


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