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HERRSCHAFT/1749: Grünes Schiff auf schwarzem Kurs (SB)



"Jetzt ist klar, wer die Grünen führt", so Cem Özdemir, nachdem er sich in der Urwahl mit einem hauchdünnen Vorsprung von 75 der insgesamt 33.935 gültigen Stimmen gegen Robert Habeck durchgesetzt hatte, auf den ebenfalls 36 Prozent entfielen. Der einzige Vertreter des linken Flügels, Anton Hofreiter, landete abgeschlagen bei 26 Prozent. Die 50jährige Thüringerin Katrin Göring-Eckardt war als einzige Frau in der Kandidatenriege gesetzt und wurde mit gut 70 Prozent bestätigt. Wohin werden die beiden Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl im Herbst 2017 die Partei führen? Auf eine bestimmte Koalition wollen sie sich offiziell nicht festlegen: "Es ist nicht mehr so wichtig, mit wem, sondern dass es mit viel Grün passiert", so Göring-Eckardt nebulös. "Jede Regierungsbildung wird schwierig sein", und das gelte mit Blick auf Sahra Wagenknecht ebenso wie im Falle Horst Seehofers. An Wagenknecht irritiere sie sehr, daß die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei "Positionen einnimmt, die feindlich gegenüber Flüchtlingen sind und nationalchauvinistisch klingen - ähnlich wie bei der AfD". [1] Umgekehrt sieht auch Katja Kipping nach der Urwahl die Chancen auf ein rot-rot-grünes Bündnis schwinden: "Mit dieser Personalentscheidung wird ein sozial-ökologischer Politikwechsel nicht gerade wahrscheinlicher", zeigt sich die Co-Vorsitzende der Partei Die Linke skeptisch. [2]

Daß nach dem Willen der grünen Basis beide Ämter, die sich traditionell Realos und Parteilinke geteilt haben, von Kandidatinnen des Realo-Flügels übernommen werden, spricht Bände. Göring-Eckardt studierte einst Theologie, ist in der evangelischen Kirche aktiv und tritt durchweg bürgerlich in Erscheinung. Cem Özdemir entstammt dem baden-württembergischen Landesverband Winfried Kretschmanns, der Hochburg der grünen Realpolitiker. Wenngleich das Spitzenkandidatenduo verspricht, die Flügelkämpfe zu überwinden, die Partei zu einen und "in ihrer ganzen Breite" in den Wahlkampf zu führen, handelt es sich doch zweifellos um eine Richtungsentscheidung für eine Politik der sogenannten Mitte und eine schwarz-grüne Koalition. Nun komme es darauf an, die Partei so stark zu machen, daß sie nach der Bundestagswahl im Herbst für eine Regierungsbildung gefragt ist. Özdemir kündigt an, die Grünen zu einem deutlichen zweistelligen Wahlergebnis führen zu wollen, "damit an uns bei der Regierungsbildung am Ende kein Weg vorbeiführt". Derzeit liegen sie in Umfragen allerdings bei neun Prozent und damit nur knapp über ihrem mageren Wahlergebnis von 2013.

"Die beiden können glaubwürdige Antworten in schwierigen Zeiten geben", begrüßt Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Ergebnis der Urwahl. Er unterstützt in weiten Teilen die Politik von Kanzlerin Angela Merkel und hat in seinem Bundesland vorgemacht, wie man unter weitgehendem Verzicht auf originär grüne Positionen die Union zum Juniorpartner in einer grün-schwarzen Regierung degradieren kann. Anfang 2016 verkündete Kretschmann während des Landtagswahlkampfs im Heidelberger Theaterhaus: "Eine tolle Sache, dass man sagen kann, die Natur hat einen Eigenwert." Und das war beileibe nicht der einzige Moment, in dem man sich fragen mochte, ob dies wirklich die Veranstaltung einer Ökopartei sei. Da war allenthalben von Industrie, einer "Politik des Gehörtwerdens" und "pragmatischem Humanismus" die Rede, was Kretschmann nicht nur die Wiederwahl, sondern den historischen Triumph verschaffte, die traditionell starke CDU im konservativen Baden-Württemberg in den zweiten Rang an seiner Seite zu verweisen. [3]

Ob die Grünen noch grün sind, scheint für Kretschmann das geringste Problem zu sein. In einigen Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung wird darüber nachgedacht, unter welchen Bedingungen Abschiebungen nach Afghanistan zulässig wären. Er selbst gibt sich offen, wenn es darum geht, die Maghreb-Staaten als sicher einzustufen, und kündigt an, daß sein Bundesland nun auch die Vorratsdatenspeicherung einführen wolle. Wir haben keine Probleme mit Kapital und Staatsgewalt, sondern dienen ihren Interessen effizienter als die klassisch-konservative Politik, lautet Kretschmanns Credo. Von ihm zu lernen, heißt siegen lernen, scheint das Motto Göring-Eckardts und Özdemirs zu sein, die den Leitstern der Grünen mit einer besonderen Rolle in ihren Wahlkampf einbinden wollen.

Von Joseph Fischer angeführt, konnten die Grünen 1998 und 2002 in Gerhard Schröders rot-grüner Koalition mitregieren. Gemeinsam mit der SPD haben sie den Angriffskrieg der Bundeswehr auf dem Balkan wie auch die Agenda 2010 und Hartz IV zu verantworten, den entscheidenden Durchbruch deutscher Militarisierung und innovativer Ausbeutung. Seit dem Gang in die Opposition im Jahr 2005 trauern sie dem Verlust ihres Einflusses nach, die deutsche Führerschaft in Europa von der Regierungsbank aus mitzugestalten, und dienen sich inmitten multipler Krisen mit dem Heilsversprechen des grünen Kapitalismus zur Lösung vielfältiger Probleme an.

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima lagen die Grünen 2011 in Umfragen jenseits der 20-Prozent-Marke und sahen sich bereits als grüne Volkspartei. Bei der Bundestagswahl 2013 folgte jedoch ein böses Erwachen, als die Partei auf 8,4 Prozent abstürzte. Die Fehleranalyse kreiste um Jürgen Trittins Wahlkampf für eine Steuererhöhung sowie die leidige Veggie-Day-Debatte, und die Konsequenz zeichnet sich nun im Ergebnis der Urwahl in aller Deutlichkeit ab: Keine Angriffsfläche bieten, möglichst viel offenlassen, auf Nummer Sicher gehen - wofür Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir die ideale Besetzung sind. Nicht prinzipientreu und kämpferisch, sondern opportunistisch und flexibel geht es den Grünen insbesondere darum, die bürgerlichen Wähler nicht zu verschrecken: Eine Vermögenssteuer nur für "Superreiche", Sicherheit um den Preis eingeschränkter Bürgerrechte, mehr Klimaschutz und eine ökologische Agrarwende, von jedem ein bißchen und bloß keine Ausrutscher mehr.

Als die pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Elisabeth Scharfenberg, mit der Aussage zitiert wurde, sie könne sich eine Finanzierung von "Sexualassistenz" für Pflegebedürftige vorstellen, schritt der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer ein: "Kann man denn als Bundestagsabgeordnete gut gemeinte Ideen nicht einfach mal im Koffer lassen, wenn sie so offensichtlich dazu dienen können, uns als weltfremde Spinner abzustempeln?" Noch schlimmer traf es Parteichefin Simone Peter, die wegen ihrer Zweifel am Kölner Polizeieinsatz auch aus den eigenen Reihen kritisiert und weitgehend isoliert wurde, bis sie ihre Aussagen relativierte. Nicht alles, was man für grüne Tradition oder gar Überzeugung erachtet, sollte man öffentlich aussprechen - wer es anders hält, muß mit den Konsequenzen leben. Und so fordert Boris Palmer denn auch ein Wahlprogramm, das die Entscheidung der Parteibasis für das Realo-Spitzenduo "bestärkt". Im Politbarometer des ZDF sprachen sich kürzlich 44 Prozent der Grünen-Anhänger für eine Koalition mit der Union aus - mehr denn je. Da ist noch viel Luft drin, die innerparteilichen Vorbehalte zu kippen, wo doch die Besetzung der Brücke längst ahnen läßt, in welchem Hafen die Kreuzfahrt des Bundestagswahlkampfs enden soll.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/print/die_welt/article161308331/Realo-statt-Oeko-Gruene-auf-Annaeherungskurs-zur-CDU.html

[2] http://www.zeit.de/news/2017-01/19/deutschland-linken-chefin-sieht-nach-urwahl-der-gruenen-chancen-fuer-rot-rot-gruen-schwinden-19091204

[3] http://www.n-tv.de/politik/Die-verrueckte-Partei-article19581512.html

22. Januar 2017


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