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HERRSCHAFT/1755: Deutungswillkür festgeschrieben ... (SB)



Anti-Terror-Gesetz: EU-weiter Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit?

Mit einem weitgefaßten Antiterrorgesetz will die Europäische Union schärfer gegen mutmaßliche islamistische Kämpfer und deren Unterstützer vorgehen. Nach der in aller Eile durch das EU-Parlament gepeitschten Richtlinie werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Verhaltensweisen innerhalb der nächsten 18 Monate unter Strafe zu stellen. Zu den Straftaten sollen künftig nicht nur die Ausbildung und Rekrutierung von Terroristen, Reisen zu terroristischen Zwecken oder die Finanzierung ihrer Taten zählen, sondern auch deren Verherrlichung. "Diese Verhaltensweisen sollten auch dann strafbar sein, wenn sie über das Internet, einschließlich der sozialen Medien, begangen werden", heißt es in der Entschließung vom 16. Februar 2017 [1].

Im Änderungsantrag 16 steht dazu im Textentwurf:

(7) Straftaten im Zusammenhang mit der öffentlichen Aufforderung zur Begehung einer terroristischen Straftat umfassen unter anderem die Verherrlichung und Rechtfertigung des Terrorismus und die Verbreitung von Botschaften oder Bildern im Internet und auf anderen Wegen mit dem Ziel, Unterstützung für die terroristische Sache einzuholen oder die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern. Ein solches Verhalten sollte strafbar sein, wenn es in einem konkreten Fall die Gefahr begründet, dass eine terroristische Straftat begangen werden könnte.

Erzeugen solche vagen Formulierungen nicht genau das, was sie zu verhindern vorgeben, nämlich Einschüchterung, vorauseilenden Gehorsam und staatlich orchestrierten Meinungsterror? Welcher Mensch würde sich überhaupt noch trauen, die unter dem umstrittenen Kampfbegriff "Terrorismus" subsumierten Gewaltphänomene vorurteilsfrei zu ergründen und zu erklären, wollte er nicht Gefahr laufen, diese damit in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen oder gar zu verherrlichen? Bestünde angesichts des bekannten Umstandes, daß es international weder eine eindeutige noch allgemein verbindliche Definition für "Terror", "Terroristen" oder "Terrorismus" gibt, nicht die große Gefahr für Demokratien, die sich der Gewährung bürgerlicher Grundfreiheiten auch in Form abweichender politischer Ansichten oder von Protestformen des zivilen Ungehorsams rühmen, daß durch die Hintertür der neuen Terrorrichtlinien eine Form der Gesinnungsjustiz Einzug hält, die bereits im Vorfeld strafbarer Delikte greift, nämlich in den Übergangsbereichen des Denkens, Streitens und Propagierens, kurzum der Meinungsbildung und -äußerung?

Die Initiative European Digital Rights (EDRi) und andere Bürger- und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch, die sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben, beklagen erhebliche Mißbrauchsgefahren durch die neuen EU-Richtlinien. Nach Angaben von Maryant Fernández Pérez von EDRi seien einige Bestimmungen, für die sich das NGO-Bündnis eingesetzt habe, Teil des endgültigen Textes geworden, wie zum Beispiel die Zusicherung, grundsätzlich radikale, polemische oder umstrittene Ansichten auszudrücken zu können. [2] Dennoch weist die Anwältin darauf hin, daß die Richtlinie über das Verbreiten und Glorifizieren von "terroristischen Inhalten" die Verherrlichung nicht näher definiert. Dies könnte zu ungerechtfertigten Eingriffen in die Meinungsfreiheit führen, so Maryant Fernández Pérez. [3]

In Frankreich - Deutschlands hegemonialer Partner in Sachen europäischer Aufrüstung - wurde im Mai 2016 ein Anti-Terror-Gesetz verabschiedet, wonach der regelmäßige Besuch von Webseiten, die zu terroristischen Akten auffordern oder sie rechtfertigen, unter Strafe gestellt wird (Artikel 18). "Wissenschaftler, Journalisten und andere von Berufs wegen Interessierte sind übrigens davon ausgenommen, wie auch Interessierte, die im 'guten Glauben' handeln", berichtete heise.de [4]. Was jedoch "regelmäßiges" oder "wiederholtes" Besuchen verdächtiger Webseiten bedeutet oder Handeln im "guten Glauben", ist genauso unklar wie der Begriff "Terrorismus".

Es bedarf nicht des berühmten Zitats "Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer", das dem früheren US-Präsidenten Ronald Reagan zugeschrieben wird, um zu erkennen, daß sich die Auslegung des Terrorismus-Begriffs auch gegen Menschen richten kann, die sich gegen staatliche Gewalt, Unterdrückung und Willkür auflehnen. Mit Blick auf die neue EU-Richtlinie monierte Marloes van Noorloos, stellvertretender Professor für Strafrecht an der Universität Tilburg in den Niederlanden, daß jede verherrlichende Bemerkung über Nelson Mandela oder Che Guevara grundsätzlich ein Teil der Definition sein könne. [5]

Schon das Ansinnen von Nationalstaaten - mitunter selbst mit dem Vorwurf des "Staatsterrorismus" konfrontiert, wenn sich die eigenen (Kriegs-)Verbrechen oder Beihilfen nicht mehr verheimlichen oder wegdefinieren lassen -, den Pauschalbegriff "Terrorismus" anzuwenden, könnte man als Versuch werten, ihn je nach politischer Interessenslage und Gelegenheit gegen formell gewährte Freiheitsrechte oder informelle Freiheitsbestrebungen auszuspielen. Daß sich solche Vorstöße auch zur Unterdrückung sozialer Proteste eignen, dürfte außer Frage stehen. Beispielhaft sei hier nur die junge Demokratie Brasiliens genannt, die sportliche Großereignisse wie die Fußball-WM oder Olympischen Spiele zu schützen vorgab, aber anläßlich der vergangenen Megaevents die Einschüchterung der Bevölkerung und die Verhinderung von Massendemonstrationen betrieb. Obwohl "Terrorismus" in Brasilien eigentlich kein Thema ist, wurde das Konstrukt dennoch genutzt, um weitreichende Polizei- und Militäraktionen durchzusetzen. So hatte Dilma Rousseff, Präsidentin der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT), im März 2016 ein neues Anti-Terror-Gesetz unterzeichnet, welches so vage formuliert ist, daß es auch als Vorwand zur Kriminalisierung von friedlich Protestierenden und AktivistInnen dienen kann, wie Amnesty International kritisierte. [6] Das Gesetz definiert Terrorismus als "potentielle oder tatsächliche Gewalt- und Sabotageakte, die durch Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung oder Vorurteile aus rassischen, ethnischen oder religiösen Gründen motiviert sind und darauf abzielen, gesellschaftlichen oder allgemeinen Terror zu verbreiten und dabei Menschen, Eigentum sowie öffentlichen Frieden und Unversehrtheit zu gefährden". [7] Das Gesetz ist so ungenau und allgemein formuliert, daß es sogar vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kritisiert wurde. [8]

Selbst wenn es eine "trennscharfe Definition", wie oft gefordert, geben sollte, so ist dies noch lange keine Gewähr dafür, daß sich nicht auch in freiheitlichen Demokratien, sobald sich der politische Wind dreht, "Sachzwänge" postuliert oder Ausnahmezustände bestimmt werden, die Auslegung der Rechtsparagraphen gegen politisch mißliebige Protest-, Widerstands- oder Artikulationsformen wendet. In Deutschland bräuchte nur die rechtspopulistische AfD - ähnlich überraschend wie in den USA das erzreaktionäre Trump-Team - ans Ruder kommen oder, was wahrscheinlicher ist, durch etablierte Parteien "rechts überholt" zu werden, schon würde sich der nationalistisch aufgeladene Sozialdarwinismus der Konservativen immer autoritärer Bahn brechen. Die Pläne der Bundesregierung, Europa aufzurüsten und mehr Gelder in die Bundeswehr für neue "Verantwortungs"-Kriege in aller Welt zu investieren, lassen alle Bürger, die sich nicht von den offiziellen Verlautbarungen des Von-der-Leyen-Managements einseifen lassen, schon jetzt Schlimmstes befürchten. Spätestens die Wortmeldung des CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter, der sich nach Trumps Amtsantritt gegen Denkverbote wandte und einen eigenen Atomwaffenschirm für Europa ins Gespräch brachte, sollte die Alarmglocken schrillen lassen. Der Oberst a.D. war bis Sommer 2016 Chef des Bundeswehr-Reservisten-Verbandes.

Wie schnell rechtsstaatliche Sicherheiten in Schall und Rauch aufgehen und wie leicht Menschen zu Staatsfeinden oder Terroristen erklärt werden können, die sich nichts anderes als eine "falsche" Meinungsbekundung oder Parteinahme "zuschulden" kommen ließen, führt gerade die Türkei vor. Unter Anwendung des Antiterrorgesetzes drangsaliert und verfolgt das deutsche Partnerland in Sachen Flüchtlingsdeal zahllose oppositionelle Bürger.

Im türkischem Recht gibt es den Begriff der "Terror-Propaganda". Wer "Beihilfe" dazu leistet, setzt sich strafrechtlicher Verfolgung aus. "So können Staatsanwälte auch Dinge wie einen Friedensaufruf als Propaganda umdeuten, wie es bei den sogenannten Akademiker-Prozessen gehandhabt wird", berichtete die Süddeutsche Zeitung [9] vergangenes Jahr. Tausende Professoren und Wissenschaftler hatten sich der Initiative "Akademiker für den Frieden" angeschlossen und zur Beendigung des Krieges in den kurdischen Gebieten aufgerufen. Obwohl sie niemals eine Waffe in den Händen trugen, mußten sich zahlreiche Akademiker vor Gericht wegen "Terror-Propaganda" verantworten. Bürger, die Geld an Vereinigungen spenden oder die sich positiv über sie in der Öffentlichkeit äußern, welche der türkische Staat als "terroristisch" eingestuft hat, wurden und werden strafrechtlich verfolgt. Das gilt nicht nur für unliebsame Oppositionspolitiker, sondern auch für Whistleblower oder Journalisten, von denen mittlerweile Hunderte in türkischen Gefängnissen sitzen. Der in Deutschland gerade Schlagzeilen schreibende Fall des Journalisten Deniz Yücel (Die Welt), dem Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Datenmißbrauch und Terror-Propaganda vorgeworfen wird, weil er über geleakte E-Mails des Energieministers und Schwiegersohns von Staatspräsident Erdogan berichtete hatte, ist nur einer von vielen. Unerwähnt bleibt meist in diesem Zusammenhang, daß auch in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik linke türkische und kurdische Regimegegner nach Paragraph 129 b ("Bildung einer terroristischen Vereinigung") verfolgt werden. Sollte die Türkei jemals EU-Mitglied werden, dann würden die neuen Anti-Terror-Paragraphen der EU für die Verfolgung und Drangsalierung der unterdrückten kurdischen Bevölkerung sowie ihrer öffentlichen Sympathisanten sorgen.

Der naive Glaube, daß man in Deutschland ungeschoren davonkommt, wenn man weiter, als es "Bild" und "Spiegel" erlauben, die Herrschaftsverhältnisse in Frage stellt, ist auch historisch widerlegt. Die bundesweite Wanderausstellung "'Vergessene' Geschichte: Berufsverbote - Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland" erinnert aktuell daran, in welchem Ausmaß Kommunisten, linke Organisationen, Kriegsgegner, Antifaschisten und andere progressive Gruppierungen nach 1945 staatlich verfolgt und in ihrer sozialen und materiellen Existenz schwer geschädigt wurden. Wer etwa als Akademiker, Lehrer, Gewerkschafter oder Briefträger eine "falsche" politische Einstellung oder Parteizugehörigkeit hatte, konnte in Folge des sogenannten Radikalenerlasses (1972) auf seine Verfassungstreue überprüft und aus dem Öffentlichen Dienst entfernt werden. Der Gesinnungsüberprüfung durch den Inlandsgeheimdienst fielen laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zwischen 1,4 und 3,4 Millionen Menschen zum Opfer, gegen 11.000 wurden Berufsverbotsverfahren eröffnet, fast 300 Beamte wurden aus dem Öffentlichen Dienst entlassen, etwa 1.200 Bewerber abgelehnt. [10]

Die massenhafte Überprüfung von Bürgern auf ihre "politische Zuverlässigkeit" oder "Verfassungstreue", wie es früher hieß, geht im Zeitalter der digitalen Vernetzung ganz andere, wesentlich effizientere Wege. Heute gibt es Suchbegriffe oder Selektoren, Staatstrojaner oder Lauschangriffe, Spionagesoftware oder verdeckte Hackerangriffe - alles staatlich abgesegnet durch Gummiparagraphen, zum Mißbrauch einladende Schnüffelgesetze oder handzahme Datenschutzbestimmungen. So ist der Bundesnachrichtendienst (BND) zum Jahreswechsel mit umfangreichen neuen Überwachungsbefugnissen ausgestattet worden und darf - allen negativen Erfahrungen aus dem NSA-Überwachungsskandal zum Trotz - Daten aus Telekommunikationsnetzen mit Auslandsverkehren auch im Inland abschöpfen, ein halbes Jahr lang auf Vorrat speichern und mit Dritten austauschen. Um, wie es im geänderten BND-Gesetz heißt, "frühzeitig Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erkennen und diesen begegnen zu können" [11], bedarf es nicht mehr, wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges, des kommunistischen Schreckgespenstes oder des Vorwurfs der Verfassungsfeindlichkeit. Heute kann schon die tatsächliche oder vermeintliche "Rechtfertigung" oder "Verherrlichung" als terroristisch gedeuteter Ausdrucks- oder Verhaltensweisen ausreichen, um als potentielle "Vorbereitungshandlung" auf den Schirm der alle elektronischen Medien durchsiebenden Geheimdienste zu kommen.

Fußnoten:

[1] http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P8-TA-2017-0046&language=DE&ring=A8-2016-0228. 16.02.2017.

[2] https://edri.org/author/maryant/. 15.02.2017.

[3] https://netzpolitik.org/2017/voller-gummiparagraphen-eu-anti-terrorismus-richtlinie-gefaehrdet-grundrechte/. 15.02.2017.

[4] https://www.heise.de/tp/features/Zwei-Jahre-Haft-fuer-den-Besuch-von-Dschihad-Webseiten-3291953.html. 10.08.2016.

[5] https://euobserver.com/justice/136110. 01.12.2016.

[6] https://www.amnesty.ch/de/laender/amerikas/brasilien/dok/2016/olympische-spiele-polizeigewalt. 02.06.2016.

[7] https://www.boell.de/de/2016/06/19/nach-der-wm-ist-vor-olympia-kehrseiten-der-medaille. 19.06.2016.

[8] http://acnudh.org/brasil-derechos-humanos-de-la-onu-critica-aprobacion-de-ley-antiterrorismo/. 26.02.2016.

[9] http://www.sueddeutsche.de/politik/raetsel-der-woche-was-steht-im-tuerkischen-anti-terror-gesetz-1.2992859. 13.05.2016.

[10] http://www.berufsverbote.de/tl_files/docs/Ossietzky04-17Berufsverbote.pdf

[11] https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_id=%27bgbl116s3346.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl116s3346.pdf%27%5D__1488891341353. Bundesgesetzblatt Teil 1, Nr. 67 vom 30.12.2016.

13. März 2017


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