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HERRSCHAFT/1771: Deutschland im Herbst 2017 (SB)



Hamburgs Justizsenator Roger Kusch wußte schon 2006, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschland in eine sozialistische Gesellschaft verwandeln wolle. Damals wurde über solche Behauptungen noch gelacht, zumal wenn sie von einem Extremisten wie dem Chef der nach seinem Austritt aus der CDU gegründeten Partei HeimatHamburg stammte, die für aktive Sterbehilfe, die Aufhebung des Jugendstrafrechtes und des Antidiskriminierungsgesetzes eintrat. Heute lacht niemand mehr, wenn der Union unterstellt wird, sie positioniere sich links von der Mitte. Da diese inzwischen etwa dort verortet wird, wo der SPD-Politiker Thilo Sarrazin 2010 mit der Abschaffung Deutschlands durch muslimische Gebärfreude seinen publizistischen Pflock einschlug, lassen sich unschwer alle möglichen politischen Positionen als "links" markieren, die lediglich auszeichnet, das große Fressen der neoliberalen Marktwirtschaft mit einigen sozialpolitischen Zugeständnissen zu garnieren.

Nur so ist zu erklären, daß der christliche Anspruch der Unionsparteien heute mit der entschiedenen Abwehr von Flüchtlingen in eins gesetzt wird. Ob der Schmerzensmann, den die C-Parteien zu ihrer Lichtgestalt erhoben haben, in einem Stall geboren wurde, weil seine Familie keine Aufnahme in der Fremde fand, ob er sich für die Schwachen und Gefallenen einsetzte oder die Wucherer aus dem Tempel vertrieb, der Christus der Union würde heute auf einem Frontex-Schiff Flüchtlinge aufgreifen und dorthin zurückschicken, wo sie herkommen. So verlangt die "Werteunion", ein Verband innerhalb der CDU, der den christlich-konservativen Wertekern der Partei wiederherstellen will, die Rückführung aller im Mittelmeer aufgegriffenen Flüchtlinge, propagiert das rassistische Prinzip "Assimilation statt Integration", will die Energiewende beenden und alle Mittel für die Gender-Mainstream-Forschung streichen (1).

Doch der Spagat zwischen christlicher Ethik und christdemokratischer Realpolitik ist keiner. Im Bemühen, es der maßgeblich aus den eigenen Reihen stammenden AfD gleichzutun, um die rechte Hegemonie zurückzuerlangen, wird auf ein christliches Bekenntnis zurückgegriffen, dessen apologetischer Tenor schon vor Jahrhunderten das so feudale wie brutale Regime von Thron und Altar schützte. So stigmatisierte die Kirche, und nicht nur die katholische, Juden als Christusmörder, an denen man straflos Pogrome begehen konnte. Sie überzog Muslime als ungläubige Okkupanten angeblich eigener heiliger Stätten mit Feuer und Schwert, versklavte Bauern und unterdrückte Frauen. Der christliche Glaube, in dessen Namen die Flüchtlingsabwehr gestärkt, die Länder des Südens ausgeplündert und die soziale Ordnung des Oben und Unten zementiert werden, stellt keine Abweichung von einem ansonsten intakten Ethos der Mitmenschlichkeit und Mitgeschöpflichkeit dar. Es ist der authentische Markenkern eines politischen Christentums, das, ob man in die USA, nach Polen, Spanien oder Italien schaut, das Kreuz der Reaktion wie eine Monstranz vor sich herträgt. Politisiert wird das Christentum auch in der Bundesrepublik, denn die aggressive Mission und inquisitorische Dogmatik des Imperialismus hat für Seele und Gemüt viel übrig, wenn es nur der Unterwerfung unter den rechten Glauben dient.

Es macht wenig Sinn, den rechten Reformern der Union einen Mißbrauch christlicher Werte zu unterstellen, wenn die Reinkultur beanspruchter Heiligkeit nur auf antagonistische Weise in den Abseiten gesellschaftlichen Wohllebens zu Hause war, wo der etablierte Klerus und das arrivierte Bürgertum keinen Fuß hinsetzen. Die Unionsparteien haben niemals andere Interessen als die der Herren über Land und Leute vertreten, und der soziale Klimbim, der Merkel zur Last gelegt wird, diente lediglich einer politischen Glaubwürdigkeit, mit der der Sozialdemokratie Konkurrenz gemacht werden sollte.

Doch deren Stunde hat seit dem Niedergang der SPD unwiderbringlich geschlagen. Heute darf der hessische CDU-Politiker Christean Wagner im Deutschlandfunk ungerührt behaupten, "uns" ginge es so gut wie noch nie, und seine Mitdisputanten Hubert Kleinert und Mariam Lau fallen ihm trotz aktueller Nachrichten über drastische Kinderarmut in der Bundesrepublik nicht ins Wort. Heute versetzt ein rechter Schläger auf der Frankfurter Buchmesse einem linken Verleger Faustschläge ins Gesicht, und niemand greift ein. Heute werden im Deutschlandfunk Kultur alleinerziehende Mütter als Welfare Queens, die davon leben, durch viele Kinder Sozialleistungen zu erschleichen, vorgeführt, um ein Gespräch über Macht als Motor des zivilisatorischen Fortschrittes mit einem Negativbeispiel zu illustrieren. Heute wird nicht mehr danach gefragt, welchen Anteil die ökonomischen und militärischen Expansionsziele des deutschen Imperialismus daran haben, daß Menschen zu Tausenden auf der Flucht im Mittelmeer sterben, sondern nur noch verlangt, sie loszuwerden, bevor sie überhaupt angekommen sind.

Der Bundeskanzlerin linke oder sozialistische Ambitionen anzulasten ist so grotesk, daß am Verstand der Urheber solcherlei Anwürfe zu zweifeln wäre. Daß dieser Diskurs heute im Mainstream angeblich intellektueller Wortführerinnen und Vordenker angesiedelt ist, markiert eine Leerstelle politischer Urteilsfähigkeit, in der nun Demagogen einen Ton angeben, der das Kommando über Arbeit und Waffen, über Leben und Denken unmißverständlich für die neuen Herren beansprucht.


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/konservative-ausrichtung-der-union-wir-brauchen-eine-neue.694.de.html?dram:article_id=398874

23. Oktober 2017


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