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HERRSCHAFT/1795: Berlin Ankara - mittelbare Hilfszusagen ... (SB)



Dass die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei in den bilateralen Beziehungen eine neue Seite aufschlagen, um ihre Unstimmigkeiten beiseite zu lassen und sich auf ihre gemeinsamen Interessen zu konzentrieren, ist im Hinblick auf die globalen dramatischen Ereignisse der letzten Zeit für beide Seiten unabdingbar. Zumal beide Staaten mit der Terrorgefahr, der Migrations- und Flüchtlingsfrage und dem Wiedererstarken des Merkantilismus vor gemeinsamen Herausforderungen und Bedrohungen stehen.
Recep Tayyip Erdogan vor seinem Staatsbesuch in der FAZ [1]

Im Vorfeld seines dreitägigen Staatsbesuchs in Deutschland hatte Recep Tayyip Erdogan in einem Gastbeitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Erwartungen an die Bundesrepublik dezidiert zum Ausdruck gebracht und dabei insbesondere an gemeinsame Interessen der beiden Länder appelliert. Berlin und Ankara seien verpflichtet, ihre Beziehungen "fern von irrationalen Befürchtungen vernunftorientiert fortzuführen" und sich auf gemeinsame Herausforderungen und Bedrohungen zu konzentrieren. "Hierbei sollten wir bei Meinungsverschiedenheiten stets alle Kanäle des Dialogs und des Austausches offenhalten und mit einem Höchstmaß an Empathie versuchen, unsere gegenseitigen Befindlichkeiten zu verstehen."

Erdogan schlug seinen Gastgebern also vor, die Schnittmenge beiderseitiger Staatsräson und Regierungspolitik zur ausschließlichen Grundlage ihrer Beziehungen zu machen, den Rest aber in der Weise abzuwickeln, daß man einander nicht ins Handwerk pfuscht. Wir brauchen einander und dürfen uns nicht von einem wildgewordenen US-Präsidenten, einem handlungsunfähigen UN-Sicherheitsrat, rechtsradikalen Rassisten und allgegenwärtigen Terroristen daran hindern lassen, unsere Ordnung aufrechtzuerhalten, unseren Wohlstand zu mehren und unseren Einfluß auszuweiten, so die Botschaft des türkischen Machthabers. Mit dieser Stoßrichtung rennt er in Berlin offene Türen ein, will doch die expansionistische Agenda der Bundesrepublik ihrerseits das herrschaftsrelevante Kerngeschäft nicht von widerständigem Aufbegehren und internationalem Gegenwind ausbremsen lassen.

Unwuchten bleiben insofern im Spiel, als der türkische Rassist Erdogan den Rassisten in hiesigen Führungsetagen Beziehungen auf gleicher Augenhöhe anbietet, wie sie im deutsch-türkischen Verhältnis noch nie vorgesehen waren. Von Anfang an ein halbkoloniales Bündnis des Kaiserreichs mit den Osmanen, hat sich das Gefälle seither nie vollständig nivelliert, weshalb aus Perspektive deutschen Regierungshandelns ein gleichrangiger Umgang mit der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland wie auch der Türkei allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz kein Thema ist. Hinzu kommen weitere Streitpunkte im Detail wie etwa deutsche Geiseln in türkischer Haft oder eine generelle Rechtsunsicherheit unter Erdogans Präsidialregime, das deutsche Urlauber und insbesondere Geschäftsleute abschreckt. Auch seine Spionage in Deutschland und die nationalistische Aufstachelung seiner hier lebenden Landsleute sind ein Stein des Anstoßes.

Sollte demzufolge Verwirrung hinsichtlich der Interessen herrschen, die dabei im Spiel sind, verdankt sich diese jedoch nicht so sehr einer durchaus komplexen Gemengelage als vielmehr einer nationalistischen Kategorisierung in "Deutsche" und "Türken" oder gar zweier "Völker", deren gemeinsame Zukunft Erdogan beschwört. In beiden Staaten wie auch in ihrem Zusammenwirken geht es um innere und äußere Herrschaftsverhältnisse, Ausbeutung und Zurichtung, weshalb sich die Frage von Gegnerschaft und Solidarität natürlich ganz anders stellt als im offiziösen Diskurs. Die türkische und kurdische radikale Linke wird in beiden Länder verfolgt, ohne daß Menschenrechte, wie sie an anderer Stelle lautstark ins Feld geführt werden, auch nur der geringste Hinderungsgrund wären.

So erwartet Erdogan denn auch von der Bundesrepublik die "notwendige Unterstützung im Kampf gegen Terrororganisationen wie Fetö, PKK oder DHKP-C, die auch die innere Sicherheit in Deutschland bedrohen und deutsche Bürger zu Terrorzielen machen". Die PKK werbe weiterhin Mitglieder an, betreibe Drogen- und Menschenhandel sowie Schutzgelderpressung und Terrorpropaganda, was auch die deutschen Nachrichtendienste bestätigten. Der türkische Präsident weiß sich auf der sicheren Seite, wenn er die Kollaboration bei der Verfolgung widerständiger Organisationen und Menschen anmahnt, sitzt er doch in Anwendung des Terrorbegriffs auf radikale politische Gegner im selben Boot mit der Bundesregierung. Daß er behauptet, die Türkische Republik bekämpfe "gleichzeitig diverse Terrororganisationen" wie den Islamischen Staat, Al Qaida, die PKK, die DHKP-C sowie Fetö (Fethullahistische Terrororganisation), ist zwar im Falle des IS eine dreiste Irreführung, bringt ihn aber zu der noch haarsträubenden Propagandalüge, die Türkei habe mit der Operation "Schutzschild Euphrat" gegen den "Islamischen Staat" und der Operation "Olivenzweig" gegen die PKK die Errichtung von zwei Terrorstaaten im Norden Syriens verhindert. Die geflüchteten Menschen seien nach der Bekämpfung der Terroristen und der Befriedung der Region durch die Türkei wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Heute sei diese Region zu einem sicheren Zufluchtsort für Flüchtlinge aus anderen Regionen Syriens geworden.

Erdogan verurteilt die "verantwortungsferne Vorgehensweise der amerikanischen Regierung", welche die Welt in rücksichtslose Handelskriege treibe, die allen Beteiligten schadeten. Deutschland und die Türkei seien angehalten, im Schulterschluß mit weiteren verantwortungsbewußten Staaten derart destruktive Handelskonflikte zu verhindern. Des weiteren lockt er Berlin mit der Forderung nach einer Reform des UN-Sicherheitsrats, wie es die Bundesrepublik seit jeher thematisiere. Durch den syrischen Bürgerkrieg hätten zunächst die Nachbarländer und im Anschluß die europäischen Staaten einen sehr hohen Preis für die Unfähigkeit des UN-Sicherheitsrates bezahlt. Sein Land habe einen beachtlichen Beitrag für die Sicherheit und Stabilität Deutschlands und Europas bei Fragen der Terrorabwehr und der Flüchtlinge geleistet und beherberge heute 3,9 Millionen Menschen, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind.

Nachdem er der Bundesregierung vorgerechnet hat, wie sehr sie ihn braucht, mahnt Erdogan einen Kampf gegen rechtsextremistische Kräfte und institutionellen Rassismus in Europa an, dessen Haß sich insbesondere gegen Muslime richte. Der Rechtsradikalismus nehme zunächst Minderheiten aufs Korn, um nach seiner Erstarkung alle andersdenkenden Gesellschaftsmitglieder zum Angriffsziel zu erklären. Vor diesem Hintergrund sei es im Sinne der beiderseitigen Interessen wichtig, den NSU-Terror umfassend aufzuklären und eine wirkungsvolle Auseinandersetzung mit Islamfeindlichkeit zu führen. Was die türkische Diaspora in der Bundesrepublik betreffe, so sei diese keine Bedrohung, sondern im Gegenteil ein Garant gegen die Radikalisierung, da sie sich in die Gesellschaft einbringe, die Sprache erlerne, an politischen Prozessen teilnehme und sich rechtstreu vollkommen integriere. In diesem Zusammenhang könne der Beitrag türkischer Gemeinschaften, allen voran der Ditib, für die Sicherheit in Deutschland nicht verleugnet werden, verfällt Erdogan am Ende doch unweigerlich in Klartext.

Mit Blick auf die Wirtschaftsbeziehungen, dem zentralen Motiv seines Staatsbesuchs, begnügt er sich mit wenigen Andeutungen, da die Weichen an anderer Stelle gestellt werden. Er spricht vom Tourismus und erneuerbaren Energien, Infrastruktur und Automobilsektor, die ein weites Feld für Kooperationen böten. Mit der Erweiterung von Solar- und Windenergieanlagen wolle man die Produktion aus einheimischen Quellen steigern und zugleich einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten. "Wir verfolgen das Ziel, die Zahl der Investitionen deutscher Unternehmen in diesen und anderen Bereichen zu steigern und unsere gegenseitigen Handels-und Wirtschaftsbeziehungen auszubauen."

Wie reagiert die Bundesregierung auf diese Avancen? Da die entscheidenden Gespräche hinter verschlossenen Türen stattfanden, ist man erstens auf die Auswertung von Signalen angewiesen, bei denen man zweitens die Spreu des Theaterdonners fürs Publikum vom Weizen substantieller Übereinkünfte trennen muß. Regierungssprecherin Ulrike Demmer erklärte, die Bundesregierung verfolge die Entwicklungen in der Türkei aufmerksam und sei an einer stabilen, florierenden und demokratischen Türkei interessiert. Nach Spitzengesprächen mit Vertretern der türkischen Wirtschaft hatten deutsche Regierungsvertreter betont, sie schätzten die Unterstützung der Türkei für die Flüchtlingspolitik der EU. Bundesfinanzminister Olaf Scholz betonte, die Verhandlungen zwischen Berlin und Ankara hätten im letzten Monat große Fortschritte gemacht.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier forderte eine "neue Ära" in den Beziehungen und erklärte, es bestehe eine sehr enge wirtschaftliche Zusammenarbeit. Mehr als 7.500 deutsche Unternehmen seien in der Türkei aktiv. In Berlin erwägt man, deutschen Unternehmen Subventionen für Exporte in die Türkei anzubieten und bei Lieferungen einzuspringen, selbst wenn die türkischen Banken nicht zahlen können. Auf diese Weise würden die Folgen einer Finanzkrise für die deutsche Industrie abgemildert. Zudem hätten Deutschland und die Türkei gemeinsame geostrategische Interessen. Man wolle die Region stabilisieren, die oft von Bürgerkriegen und Flüchtlingen geprägt sei, so Altmaier. [2]

Angela Merkel monierte nach Gesprächen mit Erdogan auf der gemeinsamen Pressekonferenz tiefgreifende Differenzen bei der Lage der Pressefreiheit, der Menschenrechte und den in der Türkei inhaftierten Deutschen. Auf diesen Pflichtteil folgte sogleich die Kür, betonte die Kanzlerin doch die gemeinsamen Interessen wie die Partnerschaft in der Nato, Fragen der Migration und den Kampf gegen Terrorismus. "Deutschland hat ein Interesse an einer wirtschaftlich stabilen Türkei", gab auch sie als Generallinie vor. Eine deutsch-türkische Wirtschaftskommission werde erstmals tagen, das gemeinsame Energieforum zum zweiten Mal zusammentreten. Zudem kündigte sie für Oktober eine Konferenz mit den Präsidenten Frankreichs, Rußlands und der Türkei über die kritische Lage in Syrien an. [3]

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir zog hingegen eine durchweg kritische Bilanz: "Von Normalität sind beide Länder genauso weit entfernt wie vor dem Besuch." Schließlich säßen neben deutschen Geiseln immer noch ungezählte Andersdenkende in türkischen Kerkern, und Erdogan mache keine Anstalten, Schritte in Richtung Meinungsfreiheit zu gehen. Özdemir kritisierte die "jede Art von Höflichkeit und Respekt sprengenden Aktivitäten Erdogans" in Deutschland. Dieser betreibe die Gleichschaltung von Moscheen, unterhalte "Schläger und Zuhälter im Rockerclub Osmanen" und habe jüngst eine App freischalten lassen, "um Oppositionelle in der Türkei ans Messer zu liefern". Jede einzelne dieser Aktivitäten sei eine Unverfrorenheit und verdiene ein deutliches Stoppsignal. Um Druck auf Erdogan auszuüben, verlangte der Grünen-Bundestagsabgeordnete, der Türkei mit einer Einschränkung der Hermes-Exportbürgschaften zu drohen. [4] Es steht indessen zu befürchten, daß der Zug der Bundesregierung längst in eine ganz andere Richtung abgefahren ist und Erdogan das frei Haus liefert, was er zur Festigung seines wirtschaftlich schwer angeschlagenen Regimes so dringend benötigt.


Fußnoten:

[1] www.faz.net/aktuell/politik/gastbeitrag-von-erdogan-erwartungen-an-deutschland-15808317-p1.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2018/09/29/turk-s29.html

[3] www.welt.de/politik/deutschland/article181698656/Erdogan-Besuch-Merkel-beklagt-tief-greifende-Differenzen-zwischen-Deutschland-und-der-Tuerkei.html

[4] www.sueddeutsche.de/politik/nach-staatsbesuch-des-tuerkischen-praesidenten-oezdemir-fordert-deutliches-stoppsignal-fuer-erdoan-1.4151434

1. Oktober 2018


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