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HERRSCHAFT/1817: Ankara - schlechte Verlierer ... (SB)



Wer Istanbul verliert, verliert die Türkei
Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf [1]

Daß Recep Tayyip Erdogans Macht mittels demokratischer Wahlen gebrochen werden könnte, dürfte so gut wie ausgeschlossen sein. Er hat seinen Aufstieg ins höchste Staatsamt und das Präsidialsystem unter massiver Repression gegen jegliche tatsächliche oder potentielle Gegnerschaft durchgesetzt. Übriggeblieben ist allenfalls eine leere Hülle von Demokratie, die Erdogan zu legitimatorischen Zwecken nutzt, um sein diktatorisches Regime zu kaschieren. Von regulären Urnengängen kann unter diesen Verhältnissen keine Rede sein. Verhaftung von Oppositionellen, Gleichschaltung der Medien, Einschüchterung, Manipulation, Fälschung der Ergebnisse und Festnahmen siegreicher kurdischer Kandidatinnen und Kandidaten samt Zwangsverwaltung sind an der Tagesordnung. Deshalb steht zu befürchten, daß es auch bei den aktuell abgehaltenen Kommunalwahlen zu nachträglichen Eingriffen kommt, um die Niederlage der AKP in den großen Städten ungeschehen zu machen.

Am Sonntag wurden in 81 Provinzen Bürgermeister, Provinzräte und andere lokale Amtsinhaber gewählt. Die AKP ging insgesamt als stärkste Partei aus der Wahl hervor, hat aber an Zuspruch verloren und unterlag insbesondere in den großen Städten Istanbul, Ankara, Adana und Antalya den Kandidaten der Opposition. Für Erdogan wäre vor allem der Verlust des Bürgermeisterpostens in Istanbul eine herbe Niederlage. Er war selbst einmal Bürgermeister der Millionenstadt, hier hatte sein politischer Aufstieg begonnen. Islamisch-konservative Bürgermeister haben Istanbul, das als Schaltzentrale der türkischen Wirtschaft gilt, mehr als 20 Jahre lang regiert. Im Wahlkampf hatte Erdogan noch gewarnt, wer Istanbul verliere, verliere die Türkei.

Daher wurde mit Spannung erwartet, wie der AKP-Vorsitzende und Staatspräsident auf die Niederlagen seiner Partei in den großen Städten des Landes reagieren würde. Auffällig war bereits am Sonntagabend bei seiner traditionellen Ansprache nach der Wahl vom Balkon der AKP-Zentrale in Ankara, daß ihn keine anderen Politiker flankierten, sondern nur seine Frau Emine neben ihm stand. Es gilt als sehr wahrscheinlich, daß Köpfe rollen werden. Ob der Bannstrahl auch seinen Schwiegersohn Berat Albayrak trifft, der als Wirtschaftsminister die katastrophale Talfahrt nicht bremsen konnte, wird sich zeigen. Vor allem aber holt das Regime nun zum Gegenschlag aus, um das Wahlergebnis anzufechten und zu drehen. Angesichts der Botschaft, die die Wählerschaft allen widrigen Bedingungen zum Trotz gesendet hat, muß die Regierung bei ihrem weiteren Vorgehen eine gewisse taktische Vorsicht walten lassen, will sie nicht Unruhen provozieren, die ihren Rückhalt in Teilen der Bevölkerung weiter schwächen könnten.

Noch in der Nacht auf Montag waren Innenminister Süleyman Soylu und Justizminister Abdülhamit Gül nach Istanbul geflogen, um in der lokalen Parteizentrale der AKP mit ihrem unterlegenen Kandidaten Binali Yildirim über das weitere Vorgehen zu beraten. Dieser hatte sich am Wahlabend um 23.25 Uhr Ortszeit vorschnell selbst zum neuen Oberbürgermeister Istanbuls ausgerufen, mußte sich dann aber seinem Rivalen Ekrem Imamoglu von der oppositionellen CHP knapp geschlagen geben, auf den rund 25.000 Stimmen mehr entfielen. In Istanbul hatten von den 10,6 Millionen Wahlberechtigten 84 Prozent ihre Stimme abgegeben. Mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen habe er nicht gerechnet, räumte Yildirim später ein.

Am Montagabend wies Yildirim auf die hohe Zahl von 319.000 ungültigen Stimmzetteln hin. Würden die ungültigen Stimmen noch einmal bewertet, könne sich "alles ändern", sagte der AKP-Kandidat. Damit stand unausgesprochen der Verdacht im Raum, daß Wahlzettel, die Yildirim zugute gekommen wären, für ungültig erklärt worden seien. Die CHP ließ das nicht unwidersprochen und verwies darauf, daß bei der Kommunalwahl von 2014 in Istanbul 290.000 Stimmen als ungültig erklärt worden waren. Zudem erinnerte sie daran, daß in jedem Wahllokal Vertreter der AKP und der CHP die Rechtmäßigkeit des Wahlvorgangs beobachtet hatten.

Welche Strategie die AKP gewählt hatte, um das Blatt nachträglich zu wenden, zeigte sich um so deutlicher, als der stellvertretende AKP-Vorsitzende Ali Ihsan Yavuz am Montagabend behauptete, man habe bei der Wahl in Istanbul "ein noch nie dagewesenes Maß an Unregelmäßigkeiten" erlebt. So seien in 309 Wahllokalen 17.400 Stimmzettel, die für Yildirim abgegeben worden seien, irrtümlicherweise dem CHP-Kandidaten Imamoglu gutgeschrieben worden. Eine Nachzählung sei daher unausweichlich. Natürlich blieb Yavuz die Erklärung schuldig, woher er diese Informationen so schnell bezogen haben könnte. Einen Dämpfer erhielt die AKP gleich bei einer ersten Nachzählung im Stadtteil Kadiköy, wo sich die Stimmenzahl für Imamoglu dadurch sogar um 450 erhöhte.

Am Dienstag gab der AKP-Vorsitzende in Istanbul, Bayram Senocak, bekannt, daß man bei den Wahlleitungen aller 39 Stadtteile Einspruch eingelegt habe. Diese Einsprüche beträfen "Schwindel und Unregelmäßigkeiten", die im Widerspruch zu einer gerechten Wahl stünden. Wenig später teilte auch der AKP-Vorsitzende in Ankara, Hakan Han Özcan, mit, daß seine Partei gegen die Auszählung von 3.217 Wahlurnen in der Hauptstadt Einspruch eingelegt habe. Es sei nach jeder Wahl legitim, wegen möglicher Unregelmäßigkeiten eine Nachzählung zu fordern, erklärte AKP-Sprecher Ömer Celik. Das solle jeder respektieren, wie auch die AKP die Entscheidung des Hohen Wahlrats akzeptieren werde. [2]

Der Hohe Wahlrat ist zwar formell eine unabhängige Instanz, de facto aber Teil des Problems, da er in seiner aktuellen Besetzung der AKP nahesteht. Das hatte sich in der Vergangenheit an entscheidender Stelle gezeigt. So wies er 2014 in Ankara den Einspruch des damaligen CHP-Kandidaten Mansur Yavas zurück, der dem Amtsinhaber Melih Gökcek nur knapp unterlegen war. Noch deutlicher griff die oberste Wahlbehörde beim Referendum vom 16. April 2017 ein, bei dem es um die neuer Verfassung und insbesondere das Präsidialsystem ging. Noch während die Abstimmung im Gange war, erklärte sie überraschend auch ungestempelte Stimmzettel für gültig. Die Opposition wertete dies als Versuch, doch noch eine Mehrheit für die Verfassungsänderung zu erzwingen, wie sie dann auch knapp mit 51,4 Prozent zustande kam.

Diese Vorgehensweise könnte gewissermaßen eine Blaupause geliefert haben, auf welche Weise sich manipulierte Wahlergebnisse legitimieren lassen. Das AKP-Regime hat alle wichtigen Institutionen gesäubert und mit seinen eigenen Anhängern besetzt. So auch den Hohen Wahlrat, dessen Entscheidung die Regierung akzeptieren will, weil sie im Grunde nur zu ihren Gunsten ausfallen kann. Es zeichnet sich also das Muster ab, im Zuge der Nachzählung den AKP-Kandidaten Stimmen zuzuschustern und die dafür gelieferte Erklärung von der obersten Wahlbehörde absegnen zu lassen. Nach Angaben des regierungsnahen Senders CNN Türk werde der Hohe Wahlrat die endgültigen Ergebnisse erst in zehn Tagen verkünden. Hingegen forderte CHP-Kandidat Imamoglu, daß die Beschwerden innerhalb einer Woche abgearbeitet sein müßten: "Wenn es länger dauert, fängt die Sache an zu stinken!" [3]

Ihre Erfolge hat die kemalistische CHP nicht zuletzt der HDP zu verdanken, die in verschiedenen Städten gezielt darauf verzichtet hat, eigene Kandidaten aufzustellen, damit die CHP mehr Stimmen bekommt. Ohne die kurdischen Stimmen hätte Ekrem Ikramoglu sicher nicht gewonnen, da Istanbul nach der Zahl der Kurdinnen und Kurden unter ihren Einwohnern die größte kurdische Stadt ist. Auch in Adana und Antalya hat dies eine wichtige Rolle für die Siege der Opposition gespielt. Offizieller Bündnispartner der CHP ist bislang lediglich die nationalistische IYI-Partei, eine Abspaltung der MHP. Zur HDP, die neben kurdischen auch viele linksalternative Gruppen vereinigt hat, hält die größte Oppositionspartei noch Distanz. Offenbar befürchtet man, das prokurdische Profil der HDP könnte Anhänger der CHP abschrecken, die in kemalistischer Tradition auf die Geschlossenheit der Türkei pochen.

In den kurdischen Landesteilen wurden die Bürgermeister 2016 per Präsidialdekret abgesetzt, inhaftiert und durch staatliche Zwangsaufseher ersetzt. Tausende Mitglieder, Funktionäre und Abgeordnete der HDP sitzen im Gefängnis, bis hin zu ihrem früheren Vorsitzenden Selahattin Demirtas. Die Wahlen im Südosten des Landes waren vom Ausnahmezustand geprägt. In der Metropole Diyarbakir hat nun die HDP gewonnen, doch ob der siegreiche Bürgermeisterkandidat Adnan Selcuk Mizrakli sein Amt antreten kann, ist ungewiß. Denn vor der Wahl hatte Innenminister Süleyman Soylu gedroht, daß Wahlgewinner der Opposition verhaftet würden, wenn man es für notwendig halte. Die Lage in den Kurdengebieten ist angespannt, die Präsenz von Militär und Polizei wurde stark erhöht. [4]

Berichten deutscher Wahlbeobachterinnen und -beobachter zufolge waren vor und in den von ihnen aufgesuchten Wahllokalen in der Region Cizre bewaffnete Soldaten präsent, was eigentlich verboten ist. Oftmals durften die Beobachter die Gebäude nicht betreten, und es kam offenbar zu gezielter Wahlmanipulation. In vielen Orten wurden Soldaten angefahren, die ihre Stimmen abgaben und Berichten zufolge mehrfach wählten. In manchen Stimmbezirken tauchten plötzlich Tausende Namen in den Wählerlisten auf, die vorher nicht dort waren. In anderen Fällen waren die Übergabeprotokolle schon vor Auszählung aller Stimmen unterzeichnet. Wählerinnen und Wähler berichteten, sie seien beleidigt und bedroht worden, einige mußten ihre ausgefüllten Wahlscheine mit dem Handy fotografieren. Gerade in kleineren Orten erfordert es Mut, die Stimme abzugeben, wenn man als HDP-Sympathisant bekannt ist. [5]

Trotz dieser bedrohlichen Situation und offensichtlicher Manipulationen ist es der AKP lediglich gelungen, der HDP die Mehrheiten in den Provinzen Bitlis, Sirnak und Agir abzunehmen. In den meisten Orten im Südosten konnten hingegen die durch Zwangsverwalter ersetzten kurdischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erneut ins Amt gewählt werden. Dies zeugt vom Widerstand der Menschen, die Erdogans Regime mit all seinen Zwangsmitteln nicht zum Schweigen gebracht hat.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/ausland/article191273203/Tuerkei-Erdogan-und-AKP-fechten-Wahl-an-Gewaltige-Unruhen-befuerchtet.html

[2] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ungueltiger-stimmzettel-nach-wahlen-in-der-tuerkei-16121140-p2.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/352225.landesweite-wahlen-in-türkei-akp-erhebt-einspruch-gegen-wahlergebnisse.html

[4] www.welt.de/politik/ausland/article191206165/Tuerkei-Wahlen-Die-ohnmaechtige-Wut-der-Kurden-auf-Erdogan.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/352258.wahlbeobachtung-in-türkei-beleidigt-bedroht-und-aufgefordert-akp-zu-wählen.html

3. April 2019


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