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HERRSCHAFT/1884: Corona-App - digitales Anwachsen fördert soziale Kontrolle ... (SB)



Diese umfassende und feinst-granulare Bevölkerungsvermessung eröffnet (zunächst) für den deklarierten Ausnahmezustand einen maßgeschneiderten Zugriff auf individuell zugestandene bzw. entziehbare Bevölkerungsrechte, der sich nicht mit den bisher bekannten Maßnahmen einer für alle geltenden Allgemeinverfügungen begnügt. Dies geschieht ohne jene Gruppe nachvollziehbar zu qualifizieren, für die diese Sondermaßnahmen gelten. Das ist eine konsequente Weiterentwicklung der Konstruktion des Gefährders. Nicht nur quantitativ, sondern qualitativ neu ist: alle sind gefährdet, alle können (per App) zum Gefährder deklariert werden.
capulcu - Die Corona-Krise - Gewöhnung an das Regiertwerden im Ausnahmezustand [1]

Daten seien das "neue Öl", wurde vor 5 Jahren auf der Hannoveraner CeBIT gejubelt [2]. Der zu den weltweit größten Messen für Informationstechnik gehörende Unternehmenstreff ist Geschichte, und Wolfgang Schäuble ermahnt die Bevölkerung, die Entwicklung in Richtung Digitalisierung sei bislang zu schwerfällig gewesen, dort müsse es einen starken Schub geben. Seine Forderung fällt auf den fruchtbaren Boden des von ihm kurz zuvor beschworenen Opfermythos - gestorben wird sowieso, dann doch am besten im Dienst an Staat und Nation [3].

Nicht Daten, Menschen sind das neue Öl des kapitalistischen Akkumulationsregimes, davon zeugt der große Aufwand, der betrieben wird, das Innere so hochauflösend wie möglich nach außen zu kehren. Menschen sind zutiefst soziale Tiere, ihr Leben spielt sich im Wechselverhältnis zum jeweils anderen ab, und ihre Persönlichkeit ist als Folie der sie treibenden Zwänge und motivierenden Hoffnungen detailliert lesbar. Die Tiefen menschlicher Subjektivität treten an der Oberfläche ihrer über Arbeit und Konsum organisierten Reproduktion paßförmig hervor, um von Staat und Kapital bewirtschaftet zu werden.

Daß die Menschen dies mit sich tun lassen, erfolgt auch aus eigener Teilhaberschaft an diesem Herrschaftsverhältnis. Die große Bereitschaft, sich den aufgrund der gesundheitlichen Gefahren der Coronapandemie verordneten Einschränkungen zu unterwerfen, dokumentiert ein Streben nach Rettung, das staatliche Herrschaft zivilreligiös legitimiert. Was durch die epidemiologischen Maßgaben und Prognosen gut begründet ist, bring einen Überschuß an sozialer Kontrolle hervor, der ganz anderen Zwecken und Zielen dienstbar gemacht wird als nur der Infektionsabwehr. Der nun anstehende Innovationssprung in der Digitalisierung der Gesellschaft wäre in dieser Tiefe und Breite unter Präcorona-Bedingungen nicht annähernd möglich gewesen. Er bedurfte eines schockartigen Bruches mit der gesellschaftlichen Normalität, der den materiellen Charakter von Not und Elend auf eine Weise spürbar machte, wie es außerhalb persönlicher Krisen kaum ein anderes Ereignis unterhalb der Schwelle offen entbrannter Staatenkriege vermag.

Ohne Social Distancing erfreute sich die Kommunikation über informationstechnische Systeme nicht der neuen Wertschätzung, die sie durch den Verzicht auf vertraute Begegnungsformen erlangt hat. Die räumliche Isolation wird, sei es im Home Office oder beim Videotelefonat, beim Streamen von TV-Serien oder dem Eintauchen in Gamer-Welten, mit Mitteln überwunden, deren suggestives und imaginäres Potential in der Lage ist, den Ersatz für verlorene Freiheit in ein neues und besseres, weil scheinbar sicheres Leben zu verwandeln. Sich mit der Reduktion auf kognitive Kanäle zufriedenzugeben und den Verlust persönlichen Kontaktes nicht als Mangel zu empfinden, ja im schlagartig verwirklichten Abstand sogar einen Freiheitsgewinn zu erkennen, schafft beste Voraussetzungen für die herrschaftskonforme Zurichtung auch von Menschen, die bislang als unzuverlässige KandidatInnen galten. Wer, von der Konkurrenz um Erwerbsmöglichkeiten, um vermeintliche FreundInnen oder um letzte Überlebensressourcen zerschlissen, der marktförmigen Atomisierung bereits ausgesetzt wurde, wird wenig Widerstand gegen die Durchsetzung medizinisch begründeter Individualerfassung entwickeln.

Die vieldiskutierte Corona-App fungiert, über ihre konkrete technische und organisatorische Verwirklichung hinaus, als Label für die feinkörnige Auflösung aller Sozialkontakte und Tauschverhältnisse, anhand derer sich weit mehr als nur die individuelle Infektiosität evaluieren läßt. Der Aufbau informationstechnischer Kontrollstrukturen hat in der Bundesrepublik eine jahrzehntelange Geschichte, vom Kampf für informationelle Selbstbestimmung in den 80er Jahren über den Lauschangriff auf "Gangsterwohnungen" in den 90er Jahren und die diversen Angriffe administrativer Verfügungsgewalt auf den Restbestand privaten Lebens seit 9/11. Die immer wieder aufflammende Debatte um das Recht auf anonyme Nutzung sozialer Netzwerke repräsentiert den staatlichen Anspruch darauf, gerade dann identifizierbar zu sein, wenn vermeintliche Freiräume genutzt werden.

Nach 2001 wurde das staatliche Sicherheitsdispositiv zudem mit dem Bedrohungsszenario des sogenanntem Bioterrorismus aufgeladen und das Repressionsinstrument der Terrorismusbekämpfung mit Blick auf Kritische Infrastrukturen um eine biopolitische Dimension erweitert. Für medizinaladministrative Zwecke werden immer wieder Vorstöße in Richtung eines flächendeckenden Screenings der Bevölkerung unternommen, so etwa im Rahmen der NAKO-Gesundheitsstudie [3]. Die Coronapandemie setzt all dem die Krone auf, indem sie einen derart übermächtigen Sachzwang produziert, demgegenüber in Bürger- und Freiheitsrechten verankerter Widerstand unschwer zu delegitimieren ist. Das um so mehr, als etwa rechtslastigen Auftritten wie der Berliner "Hygiene-Demo" alles fehlt, was an materialistischer Staatskritik und fundamentaler Herrschaftskritik zu leisten wäre, um das epidemiologische Problem mit dem notwendigen sozialen Widerstand unter einen Hut zu bringen.

Den biopolitischen Charakter informationstechnischer Kontrollgewalt hervorzuheben und auf den Punkt offenliegender Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital, zwischen autonomem Leben und kapitalistischer Verwertung zu bringen wäre von großem Interesse, weil damit die Waffen linker Kritik geschärft werden könnten. Sie befinden sich in einem schlechten Zustand, weil der noch in den 90er Jahren vitale Widerstand gegen pharmazeutische Kontrollregimes insbesondere in Psychiatrien und den biomedizinischen Zugriff auf Behinderte, nichteinwilligungsfähige PatientInnen, schwangere Frauen, Menschen im Endstadium ihres Lebens oder im Intergeschlecht weitgehend eingeschlafen ist. Auch ist heute wenig bekannt, daß die Errichtung des Warschauer Ghettos unter explizit seuchenmedizinischen Vorwänden erfolgte, wie auch mißliebige Minderheiten wie flüchtende Menschen, Sinti und Roma, Obdachlose, Prostituierte und andere marginalisierte Gruppen häufig unter Infektionsverdacht gestellt werden, um sie zu stigmatisieren und auszugrenzen [4].

Heute droht der ganzen Bevölkerung ein Zustand permanenter epidemiologischer Evaluation und Selektion. Was im chinesischen Modell des Social Scoring vor kurzem noch als Ausfluß postkommunistischer Autokratie verworfen wurde, steht Pate bei der Schaffung eines Immunitätsnachweises, anhand dessen künftig darüber entschieden werden könnte, wer Zugang zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit und kollektiven Mobilitätsformen hat und wer nicht. Schon dadurch würde die Einführung einer Corona-App der behaupteten Freiwilligkeit enthoben [5] und ein Wettrennen zur eigenen Ansteckung mit dem Virus eröffnet. So würde das Erreichen der Herdenimmunität zugleich beflügelt und als Ausdruck voluntaristischer Selbstermächtigung von dem Vorwurf befreit, es handle sich um eine gegenüber älteren und vorerkrankten Menschen rücksichtslose Regierungsstrategie. Einmal daran gewöhnt, mit dem Smartphone den Beweis der Zugangsberechtigung zu erbringen und zu bezahlen, nachdem Bargeld aus Hygienegründen abgeschafft wurde, sind weitere Schritte der Einführung auf Funktionserfüllung und Leistungsbereitschaft orientierter Systeme der Verhaltenskontrolle programmatisch absehbar. Gesellschaftliche Zugehörigkeit neu zu definieren heißt immer auch, mehr Handhabe über die Entscheidung zu erhalten, wer leben darf und wer sterben muß.

Widerstand gegen diese Maßnahmen zu leisten heißt nicht die konkrete Bedrohung durch Infektionskrankheiten zu leugnen oder geringzuschätzen, ganz im Gegenteil. Gerade jetzt besteht aller Anlaß dazu, die herrschende Produktionsweise auf ihre Verträglichkeit mit den Interessen von Mensch und Natur zu überprüfen. Die dabei hervortretenden Probleme neokolonialistischer Landnahme und patriarchaler Naturzerstörung zu überwinden, den Einfluß der antifeministischen Rechten und eugenischen Denkens auf die soziale Reproduktion zurückzudrängen und an Kämpfe um Ernährungssouveränität, kollektives Leben und selbstbestimmtes Arbeiten anzuknüpfen sind freiliegende Fäden einer Entwicklung, die der Ermächtigung zu informationstechnischer Sozialkontrolle entgegenstehen.


Fußnoten:

[1] https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2020/03/DieCoronakrise.pdf

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0035.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0047.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1047.html

[5] https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2020/04/Corona-App-final.pdf

2. Mai 2020


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