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HERRSCHAFT/1887: Kabul - die Freiheit zu töten ... (SB)



Der Anschlag auf die von Médecins Sans Frontières (MSF) betriebene Entbindungsstation im Dascht-e-Barchi-Hospital in Kabul, bei dem 24 Menschen, darunter 16 Frauen und 2 Säuglinge, ums Leben kamen, richtete sich gezielt gegen eine Einrichtung, die werdenden Müttern gewidmet ist. Die Opfer des Angriffes waren nicht zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort, sondern wurden ermordet, weil sie als Frauen ein solches Angebot in Anspruch nahmen. Seit 2014 betreibt MSF die Geburtsstation, alleine seit Beginn 2020 wurden dort 5401 Babies zur Welt gebracht, das letzte während des Angriffes der vier Attentäter [1]. De facto handelte es sich bei diesem Anschlag um einen Femizid, um die Ermordung von Frauen aus dem einzigen Grund, weil sie Frauen sind.

Ob Taliban oder andere islamistische Gruppen, allen gemeinsam ist, daß ihnen eine moderne, nichtdiskriminierende Frauenmedizin ein Greuel ist. Die auch als Doctors without Borders oder Ärzte ohne Grenzen bekannte Organisation MSF ist im gesamten Nahen und Mittleren Osten und seit 1980 mit kriegsbedingten Unterbrechungen in Afghanistan aktiv. Bestandteil ihrer Arbeit ist das Eintreten für Frauenrechte, so im Rahmen einer Kampagne gegen unsichere Abtreibungen. An deren Folgen sterben jedes Jahr 22.000 Frauen, 7 Millionen werden durch die meist illegalen Eingriffe zum Teil mit bleibenden Schäden verletzt [2]. Es liegt nahe, daß sich MSF damit nicht nur in den Einsatzgebieten der Organisation, sondern auch unter christlichen FundamentalistInnen in Frankreich und den USA Feinde macht.

Wenn die Afghanistan seit 20 Jahren besetzenden Truppen wie die von ihnen ausgebildeten Streitkräfte des Landes nicht willens oder in der Lage sind, leicht angreifbare, im Feindbild des islamistischen Patriarchats besonders hassenswerte Einrichtungen zu schützen, dann sollten sie eher gestern als heute das Land verlassen haben. Wenn das Ergebnis des in den Ursprungsländern der Besatzungstruppen häufig propagierten Grundes für die Eroberung Afghanistans, dort seien Menschen- und insbesondere Frauenrechte durchzusetzen, darin besteht, daß afghanische Frauen über die Unterdrückung durch die Ehemänner und Familien hinaus kollektiv angegriffen werden, dann wurde in diesen 20 Jahren nicht nur nichts erreicht, sondern vieles zum Schlechteren verändert.

Ein wesentlicher Grund dafür besteht in der paternalistischen Ideologie, Menschen in anderen Ländern mit militärischer Aggression aus ihrer Unterdrückung befreien zu müssen, als ob die Betroffenen nicht in erster Linie selbst dafür zuständig sind, sozialen Widerstand zu leisten. Der Vorwandscharakter derartiger Kriegsgründe ist zwar leicht zu durchschauen, aber scheint dem Zweck, zumindest rhetorisch über tatsächlich relevante geostrategische und hegemoniale Motive hinweggehen zu können, allemal zu genügen. Nicht nur den afghanischen Frauen wurde die Möglichkeit genommen, sich vom Patriarchat zu befreien. Wo immer westliche Staaten neokolonialistische Kriege im Nahen und Mittleren Osten führen und geführt haben, hat sich die Situation der Frauen drastisch verschlechtert.

Ob Iran oder Irak, Palästina oder Syrien, häufig müssen Frauen nicht nur die physische Last der äußeren Aggression von sanktionsbedingtem Mangel und kriegsbedingter Zerstörung, von Hunger und Tod tragen, sie befinden sich auch häufig selbst in der prekären Lage, kaum auf die Straße gehen zu können oder in ihren Familien massiv unter maskuliner Gewalt zu leiden. So steht der liberale Menschenrechtskrieger im Zweifelsfall seinem islamistischen Gegner näher als den Menschen, die er zu schützen vorgibt.

Zwar gibt es überall feministischen Widerstand [3], doch dessen Aktivistinnen haben es schwer und werden nicht anders als Angehörige von LGBTIQ-Minderheiten zu Zielscheiben bisweilen tödlicher Attacken. Am weitesten vorgewagt haben sich kurdische Frauen, die sich am Freiheitskampf in den verschiedenen Teilen Kurdistans mit eigenen bewaffneten Einheiten beteiligen und diverse feministische Initiativen und Aktionskonzepte ins Leben gerufen haben. Auch sie stehen unter dem Druck patriarchaler Aggression insbesondere durch das Erdogan-Regime in der Türkei, dessen Truppen in die nordsyrischen Kurdengebiete eingefallen sind und das im eigenen Land versucht, Frauenrechte mit massiver Gewalt zurückzudrängen.

In Afghanistan jedoch ist die Situation derart schlimm, daß laut einer Umfrage 2019 47 Prozent der Frauen das Land verlassen wollen. Der Anschlag auf die Entbindungsstation in Kabul, den 20 Babies überlebt haben, während unter den weiblichen Opfern eine Mutter tot aufgefunden wurde, die noch ihr Baby im Arm hatte, dürfte den Wunsch zu fliehen weiter verstärken. Afghanische Frauen sollten in der Bundesrepublik so viel und schnell Zuflucht wie möglich finden, anstatt demütigenden Aufnahmeverfahren unterzogen oder gar wieder abgeschoben zu werden. Auch Deutschland ist mit der Beteiligung der Bundeswehr an der Besetzung des Landes dafür verantwortlich, daß der Krieg dort kein Ende nimmt. Erst dann könnten Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen die Herrschaft des islamistischen Patriarchates gebrochen wird. Das ist kein leichter Kampf, aber er muß von den Betroffenen geführt werden, weil sie am besten wissen, was sie unumkehrbar überwinden und beenden wollen.


Fußnoten:

[1] https://www.msf.org/revolting-attack-maternity-ward-afghanistan

[2] http://safeabortioncare.msf.org/en/#overview-video

[3] https://solidarischgegencorona.wordpress.com/2020/05/11/interview-fur-viele-frauen-im-irak-ist-die-quarantane-schon-lange-lebensrealitat/

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-gewalt-frauen-101.html

14. Mai 2020


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