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PROPAGANDA/1321: "Wir" haben über unsere Verhältnisse gelebt ... (SB)



Wer bezahlt die Zeche für die Bereicherung auf Pump? "Wir" alle. Die Vereinnahmung aller Bundesbürger nicht etwa zur Begleichung von Schulden, von denen man gut gelebt hätte, sondern zur Rettung von Investoren, die sich übernommen haben, wird den dafür in Anspruch Genommenen auf so einleuchtende Weise zwar nicht schmackhaft, aber als alternativloser Sachzwang plausibel gemacht, daß Widerstand von vornherein zwecklos ist. Die pauschale Subsumierung aller, die an anderer Stelle fein säuberlich in "Unterschichten" und "Leistungsempfänger", in "Arbeitnehmer" und "Lohnabhängige", in "Arbeitgeber" und "Leistungsträger" eingeteilt werden, unter das große "Wir" der Volksgemeinschaft kündet stets davon, daß es Mangel, Zwang und Not zu verteilen gibt.

So erklärt der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf mit einem ihm nach seiner Zeit als Landesvater offensichtlich zur zweiten Natur gewordenen Paternalismus im Deutschlandfunk (24.02.2009), daß die Wirtschaftskrise "die Folge eines plötzlich verloren gegangenen Vertrauens" wäre, "weil die Anleger und die Banken untereinander das Gefühl hatten, dass das, was sie da kaufen, keinen Wert hat, ganz praktisch gesprochen".

Leider handelt es sich nicht um eine gefühlte Krise, die schon gar nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel über die Wirtschaft kam, und der Verlust der psychologistischen Kategorie des Vertrauens ist nicht minder synonym zu setzen mit der Weigerung, sich Gedanken über die materiellen Grundlagen und Folgen der krisenhaften Entwicklung zu machen. Derartige Ignoranz ist jedoch Voraussetzung dafür, die Verallgemeinerung so weit zu treiben, daß am Ende alle schuld daran haben, daß der kapitalistischen Wertschöpfung die volkswirtschaftliche Substanz inklusive der von ihr lebenden Menschen geopfert wurden. Biedenkopf diagnostiziert messerscharf, daß es an Aufklärung darüber mangelt, "dass die Menschen an diesem Prozess ja voll beteiligt waren". Alle seien irgendwie "Interessenten", und alle erwarteten, daß der Staat diese Interessen erfülle, was er nicht könne:

"Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt in den letzten Jahrzehnten. Es ist uns immer besser gegangen, der Wohlstand ist gestiegen, und trotzdem haben wir uns immer höher verschuldet."

Löhne, die im Verhältnis zur Preisentwicklung und aufgrund der Einführung des Euros seit Jahren stagnieren, wachsende Armut unter einem immer größeren Teil der Bevölkerung, doch Herr Biedenkopf behauptet ungerührt, "wir" wären es "nicht gewohnt", daß es nicht "immer mehr Wachstum, immer mehr Wohlstand" geben könne. Nun bekämen "wir" die Quittung für ein Wohlleben ausgestellt, daß sich viele Bundesbürger nicht einmal angestrengt einbilden, geschweige denn fühlen können.

"Wir bekommen jetzt die Rechnung präsentiert, und zwar nicht von uns und nicht von unserer Regierung, sondern von der Weltwirtschaft."

Der Exportweltmeister Deutschland hat diesen Titel auf dem Rücken der Lohnabhängigen hier wie in anderen Ländern erwirtschaftet. Eine hohe Produktivkraftentwicklung bei geringer Lohnquote und dem Abbau gut bezahlter und vertraglich gesicherter Arbeitsplätze zugunsten des expandierenden Niedriglohnsektors und der prekären Jobkultur sind die Voraussetzungen einer exportgestützten Konjunktur gewesen, die insbesondere in der EU zu Lasten weniger produktiver und in der Lohnpolitik nicht so rücksichtslos vorgehender Volkswirtschaften ging. Daß die Länder, die bislang als Expansionsräume des deutschen Kapitals fungierten, nun erst recht unter einer Wirtschaftskrise zusammenbrechen, für deren Zustandekommen die neoliberale Politik der Deregulierung, Privatisierung und Lohnzurückhaltung wesentlich verantwortlich ist, ist für die dort lebenden Menschen so katastrophal, daß sie alles andere im Sinn haben, als Biedenkopfs Zwangskollektiv eine Rechnung auszustellen.

Sie wissen, daß sie nichts erhalten werden, weil sie ebenso Opfer der kapitalistischen Umverteilungspolitik sind wie die Armutsbevölkerung hierzulande. Wenn überhaupt, dann haben "wir" unter unseren Verhältnissen, das heißt unter der beim Stand der Produktivität möglichen Besserstellung der Arbeiter und Erwerbslosen, gelebt. Hiobsboten wie Biedenkopf bereiten die Bevölkerung darauf vor, die Hauptlast der Krisenbewältigung durch weiter schwindende Löhne und Sozialleistungen, durch Entrechtung als Leistungsempfänger wie als Lohnarbeiter, durch weniger Demokratie und mehr Repression zu schultern. Wenn Biedenkopf davon spricht, daß die Krise "uns jetzt so völlig durcheinanderbringt", dann hat er mit einer Volksverdummung, wie sie heute im Deutschlandfunk präsentiert wurde, keinen geringen Anteil daran.

24. Februar 2009