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PROPAGANDA/1361: Vom Egoismus der Armen ... (SB)



In der Tageszeitung Die Welt ist man nicht darüber begeistert, daß die SPD über die Wiedereinführung der Vermögenssteuer nachdenkt. Dem Springer-Blatt paßt die ganze Richtung einer Politik nicht, die eine Umverteilung von oben nach unten auch nur im Ansatz für akzeptabel oder gar moralisch gerechtfertigt hält. In ihrem Kommentar zum Dresdner Parteitag prophezeit die Welt der SPD, sie schaffe mit einer solchen Begünstigung der Armen die beste Voraussetzung dafür, bei 20 Prozent der Wählerstimmen zu bleiben. Das zeugt angesichts der Tatsache, daß ungefähr ein Drittel der Bevölkerung der Bundesrepublik inzwischen von Armut betroffen ist, nicht eben von großer Prognosesicherheit. Eher kann man davon ausgehen, daß den Kapitaleignern allmählich die Argumente dafür ausgehen, sich als die wahren Leistungsträger darzustellen.

Um so bereitwilliger greift man zur Demagogie und bezichtigt die Betroffenen, an ihrer desolaten Situation selbst schuld zu sein:

"Arme sind nicht immer unverschuldet arm geworden, das gehört auch zur Realität. Das 'Prekariat' ist zu erheblichen Teilen anders, als die SPD es sich weismacht. Unter sozial Benachteiligten wissen die meisten genau, dass bald zwei Drittel des Bundeshaushalts für sie aufgewendet werden. Solidarität erweisen viele von ihnen dem Staat deshalb nicht. Im Gegenteil. Im sogenannten unteren Segment der Gesellschaft blüht der Egoismus."
(Die Welt, 16.11.2009)

Daß die SPD tatsächlich humanistischem Altruismus frönt und nicht einfach auf Wählerstimmen unter den Habenichtsen spekuliert, ist wohl eher unwahrscheinlich. Schließlich wurde die Kultur der sozialchauvinistischen Bezichtigungslogik, laut der Erwerbslose häufig einfach faul seien und daher einem parasitären Lebenswandel frönten, von Sozialtechnokraten dieser Partei propagiert. Die von Müntefering erhobene Forderung, daß wer nicht arbeitet, auch nicht essen solle, bleibt unter all denjenigen, die sich die Hacken nach einem Job ablaufen und ausbeuterische Lohnpraktiken akzeptieren, weil das generelle Lohnniveau durch das Hartz IV-Regime weiter abgesenkt wurde, unvergessen. Der Sozialchauvinismus eines Wolfgang Clement wurde von der SPD mit einem Ministeramt belohnt, und der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin wurde trotz seiner sozialrassistischen Ansichten nicht aus der SPD ausgeschlossen.

Dem Sprachrohr der deutschen Neokonservativen geht es mit diesem Angriff auf die SPD vor allem darum, die Ausgrenzung der überflüssig gemachten Menschen unter allen Umständen fortzusetzen. Wenn man dem Staat Steuern vorenthält, obwohl man zu den von seinem strukturellen und militärischen Gewaltpotential besonders Geschützten gehört, dann ist das wohl kaum Ausdruck einer ihm gegenüber gewährten Solidarität. Was mittellosen Bürgern mit dieser Forderung abverlangt wird, meint nichts anderes als Unterwerfung unter die Herrschenden. Wie anders sollten Leistungsempfänger ihre Solidarität mit dem Staat bekunden als sich mit allen Härten, die sie durch ihn erleiden, einverstanden zu zeigen?

Wer sich niemals für einen Stundenlohn von drei bis fünf Euro für knochenharte Arbeit hat ausbeuten lassen, wer niemals miterleben mußte, wie die eigenen Kinder von Mitschülern aus wohlhabenden Familien gemobbt werden, weil sie nicht über die angesagten Klamotten verfügen, wer keinen frühzeitigen Tod erleiden muß, weil er sich notwendige medizinische Behandlungen nicht leisten kann, der bleibt davon verschont, wirklich etwas über Armut in der BRD zu erfahren. Daß notorische Egoisten ihre sozialdarwinistische Weltanschauung auf mittellose Menschen projizieren und ihnen ihre negativen Charaktereigenschaften anlasten, ist Ausdruck ihres Erfolgsrezepts, die Verwerflichkeit des Raubs stets beim andern anzusiedeln und ihn desto erfolgreicher zu praktizieren. Nur mit einem Egoismus, der über Leichen geht, und seien es die Verhungerten in anderen Weltregionen oder die Opfer von NATO-Kriegen, schafft man es in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, nicht nur nach oben zu kommen, sondern auch dort zu bleiben.

Wer gerade eben so egoistisch ist, daß er aus Scham nicht verelendet, sondern staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, gehört in diesem Haifischbecken zu den Opfern. Die moralische Bezichtigung, in einer auf Überlebenskonkurrenz getrimmten Gesellschaft egoistisch zu sein, kann nur vom größeren Räuber erhoben werden. Daß dieser sich der Reprojektion eigener Ambitionen auf andere bedient, zeichnet die Effizienz seiner Überlebensstrategie aus. Desto mehr empfiehlt es sich für die von ihm an den Pranger gestellten Menschen, den Würgegriff der Herrschaftsmoral durch deren vollkommen amoralische Analyse und Kritik gegen ihre Urheber zu kehren.

16. November 2009