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PROPAGANDA/1411: Kriegsbereitschaft erhalten ... Schadensbegrenzung nach Wikileaks-Enthüllung (SB)



Alles schon mal dagewesen, alles schon bekannt, zudem gefährlich für die westliche Sicherheitspolitik und tendenziös seitens des Urhebers, der eine notorische Neigung habe, die USA an den internationalen Pranger zu stellen. So oder ähnlich lassen sich die jüngsten Kommentare großer Medien zur aktuellen Veröffentlichung von Dokumenten des Pentagon der Whistleblower-Plattform Wikileaks zusammenfassen. Nachdem erste Reaktionen der Presse über die Freisetzung von fast 400.000 Militärdokumenten niedriger Geheimhaltungsstufe aus fünf Jahren US-amerikanischer Besetzung des Iraks darin bestanden, die Folterung von Gefangenen durch irakische Polizisten und Regierungstruppen als Verletzung der Aufsichtspflicht der Okkupanten darzustellen - anstatt auf auch nach dem Skandal um das US-Lager Abu Ghraib von US-Truppen verübte Folterungen einzugehen - oder die angebliche Unterstützung des irakischen Widerstands durch den Iran hervorzukehren - um diesen Krieg zur Vorbereitung eines noch verheerenderen zu nutzen - gefällt man sich darin, das ganze Unterfangen einer nicht von Regierungsstellen regulierten Aufdeckung staatlicher Gewaltpraktiken in Mißkredit zu ziehen.

Es ist tatsächlich keine neue Erkenntnis, daß die Behauptungen der US-Regierung über das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen im Irak schon im Vorfeld des Überfalls auf das Land als Mittel zur Durchsetzung geostragischer Interessen zu durchschauen waren, ganz abgesehen davon, daß die Mandatierung eines Angriffskrieges selbst bei positivem Nachweis derartiger Rüstungsgüter zu verhindern gewesen wäre. Daran wollen die Journalisten, die die Wikileaks-Enthüllungen heute als unerheblich abtun, nicht gerne erinnert werden. Sie mögen auch nicht hören, daß ein Großteil der Presse in den NATO-Staaten das angebliche Errichten einer sogenannten Drohkulisse wenn nicht gutgeheißen, dann zumindest akzeptiert hat. Man schweigt darüber, daß weder deutsche noch britische oder US-amerikanische Medien in besonderer Weise darum bemüht waren, regelrechte Massaker wie die Eroberung der Stadt Fallujah oder die durch Hungerembargo und Kriegführung verschärfte Verelendung der Iraker in gleicher Weise anzuprangern, wie man es bei Vergehen von Regierungen tut, deren Länder sich westlichem Hegemonialstreben widersetzen.

Die Beschwichtigung jeglicher möglicherweise entstehenden Empörung über die Grausamkeiten einer Kriegführung, die nicht erst im März 2003, sondern schon mit der weitgehenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Landes im 1991er-Krieg und den anschließenden Wirtschaftssanktionen ihren verheerenden, das Leben von Millionen Menschen vernichtenden, verkürzenden und verelendenden Lauf nahm, war stets Programm westlicher Mehrheitsmedien. Wenn nun mit vereinten Kräften versucht wird, das in den von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten steckende Potential einer kritischen Aufarbeitung der Besatzungspolitik im Irak zu verharmlosen und den Wikileaks-Begründer Julian Assange als Person von fragwürdiger Seriosität und zweifelhafter Motivation herabzuwürdigen, dann geht es in erster Linie um den Erhalt der Kriegfähigkeit der NATO-Staaten.

Die dort beheimateten Verlagskonzerne und Staatsmedien mögen hinsichtlich des Schutzes ihrer nationalen Verwertungsbasis in eigenem Interesse handeln, sägen mit der Diffamierung einer staatlicherseits unautorisierten und unregulierten Veröffentlichung von Regierungsdokumenten jedoch an dem Ast, auf dem sie zumindest dann säßen, wenn sie sich als Korrektiv undemokratischer Machtwillkür verstünden. In diesem Fall hätten sie allen Anlaß, das Recht von Wikileaks und vor allem des von schwerster Bestrafung bedrohten angeblichen Informanten, US-Soldat Bradlay Manning, auf das Enthüllen womöglich zur Deckung von Verbrechen geheimgehaltener Regierungsinformationen zu verteidigen. Während die Staaten hinsichtlich der Möglichkeiten des Bürgers, Aufschluß über das zu erlangen, was ihre Sicherheitsbehörden an Erkenntnissen über seine Person generieren, ein regelrechtes Informationsmonopol anstreben und gerade die von ihnen produzierten Militärdokumente unter Verweis auf Sicherheitsbelange unter Verschluß gehalten werden, gefallen sich nicht wenige Journalisten als Sachwalter einer Diskurshoheit, die konform geht mit den Interessen von Staat und Kapital und daher nicht von "selbsternannten" Aufklärern in Frage gestellt werden soll.

Eine politische Aufarbeitung des Irakkriegs soll auf jeden Fall unterbleiben, darin ist man sich in der EU und den USA einig. Der Ruf einiger Menschenrechtsorganisationen nach Ermittlungen gegen Militärs und Politiker, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sein könnten, ist das kleinere Problem. So wurden gutdokumentierte Versuche dieser Art mit allen winkeladvokatischen Tricks abgewehrt, um etwa die Verfasser berüchtigter Foltermemos mit gutdotierten Richterämtern oder Juraprofessuren für ihre Handlangerdienste belohnen zu können. Unter allen Umständen vermieden werden soll jedoch, daß man den Wald vor lauter Bäumen sieht, sprich das ganze Ausmaß der Heimsuchung des Iraks zu einem weltbewegenden Thema wird. Die Wikileaks-Dokumente hätten das Potential, einen solchen Eklat auszulösen, wenn sie von wenigstens einigen großen medialen Verstärkern dabei unterstützt würden.

Die praktische Unmöglichkeit einer von Medien orchestrierten demokratischen Aufklärungsarbeit, die sich gegen die mächtigsten und aggressivsten Akteure der Weltpolitik richtet, anstatt sich an der Dämonisierung deren Interessen störender Politiker abzuarbeiten oder an den Zielorten westlicher Expansion als "bunte Revolutionen" glorifizierte Umstürze zu feiern, markiert denn auch das eigentliche Dilemma der nicht nur in Hollywoodfilmen notorisch überschätzten Wirkung publizierter "Wahrheit". Die großen kommerziellen, öffentlich-rechtlichen wie staatlichen Verlautbarungsorgane sind integrale Bestandteile einer Widerspruchsregulation, der der Frieden das wichtigste ist, so er in den Palästen herrscht. Um ihn zu gewährleisten, wird, wenn es sich nicht anders machen läßt, auch Krieg geführt, und zwar vorzugsweise, aber nicht zwingend fernab der eigenen Gesellschaften. Deren Ausplünderung bedient sich ziviler Formen, die für die Betroffenen im Ergebnis kaum weniger schmerzhaft sind.

Die seit Beginn der 1980er Jahre in der Region des Persischen Golfs geführten Kriege kamen unter Beteiligung oder als Ergebnis westlicher Hegemonialinteressen zustande. Das vollständige, in aller Konsequenz dokumentierte Eingeständnis dieser Verantwortung wäre ein wirksames Gegenmittel gegen das Entfachen neuer Kriege oder veranlaßte zumindest mehr Menschen, als es bisher der Fall ist, gegen Militarismus und Imperialismus zu kämpfen. Das gilt auch für die amtierende und frühere Bundesregierungen. Während sie den Eindruck erweckten, an der Aufrüstung, Bombardierung, Belagerung, Eroberung und Besetzung des Iraks unbeteiligt zu sein, haben sie stets in Form einseitiger Parteinahme, tolerierter Rüstungslieferungen, geheimdienstlicher Aufklärung wie politischer und logistischer Unterstützung ihren Teil dazu beigetragen, daß im Irak seit 30 Jahren kein normales Leben mehr möglich ist.

Selbst wenn sich über Kanäle wie Wikileaks Desinformationskampagnen betreiben lassen, sprich das antiaufklärerische Repertoire systematisch erzeugter Immunreaktionen keineswegs durch das bloße Enthüllen von Geheimdokumenten ausgereizt ist, ist die so erzeugte Öffentlichkeit ersteinmal zu verteidigen. Berichte über Vorwürfe ehemaliger Wikileaks-Mitarbeiter, die Assange bezichtigen, andere Projekte zu Lasten der gegen die US-Regierung gerichteten Enthüllungen zu vernachlässigen und von einer geradezu obsessiven Feindseligkeit gegenüber den USA erfüllt zu sein, lassen ahnen, daß der Kampf um staatlich unkontrollierte Formen der Veröffentlichung heftig tobt. Darüber hinausgehende Absichten, die datenelektronische Kommunikation im Sinne weitgehender Transparenz der Versender und Adressaten jeglicher Information wie deren Inhalt unter Kontrolle staatlicher Aufsichtsorgane zu bringen, lassen erkennen, daß dieser Kampf nicht nur mit den Mitteln kulturindustrieller Produktivität geführt wird.

26. Oktober 2010