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PROPAGANDA/1451: Spielball westlicher Hegemonialinteressen - Symbolpolitik am Beispiel Ukraine (SB)




Was treibt gestandene Journalisten dazu, in die Niederungen regelrechter Verschwörungstheorien zu steigen, wie anläßlich der Anschlagsserie im ukrainischen Dnjepropetrowsk in Kommentaren deutscher Tageszeitungen und Sender geschehen? Die Spekulationen reichten von der Verdächtigung, der ukrainische Geheimdienst habe die Anschläge selbst durchgeführt, um von den Vorwürfen abzulenken, die seitens der Bundesregierung gegen die Inhaftierung und angebliche Mißhandlung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko erhoben werden, bis zur Vermutung, daß Ministerpräsident Viktor Janukowitsch sie mißbrauchen werde, um die Staatsgewalt aufzurüsten. Was in anderen Fällen als ideologische Borniertheit und paranoider Wahn ad hoc verworfen wird, erscheint im Falle eines im Westen weniger angesehenen, zudem in der sogenannten orangenen Revolution als Wahlfälscher angeprangerten Regierungsschefs allemal salonfähig zu sein.

Auch die um Timoschenko entfachte Kampagne, die Fußball-EM in der Ukraine zu boykottieren, genügt nicht im mindesten dem Anspruch an eine politische Seriosität, die zumindest den Anschein von innerer Kohärenz erweckte. In Ländern, wie den USA, der Türkei und Israel, mit denen die Bundesregierung freundschaftliche, im Kriegsfall militärische Bündnisbeziehungen unterhält, werden Gefangene zu Tausenden aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt, ohne daß ihnen rechtstaatliche Mittel zur Verfügung ständen, dagegen vorzugehen. Kurden und Palästinenser sind entrechtet und müssen sich gegen ihre Unterdrückung nicht mit Gewalt wehren, um in Administrativhaft gesteckt zu werden. Gefoltert wird, natürlich nicht nach offizieller Lesart, aber in der alltäglichen Vollzugspraxis oder in Verhörsituationen, in allen drei Ländern, wobei die Isolationshaft in den USA ein System von besonderer Grausamkeit ist. Letztes Jahr traten in Kalifornien bis zu 6000 Gefangene mit durchaus moderaten Forderungen gegen das System der Isolationsfolter in den Hungerstreik, ohne daß dies hierzulande außerhalb linker Medien zur Kenntnis genommen worden wäre.

Der humanitäre Pathos ist im Falle der Ukraine auch unglaubwürdig, wenn objektive Gründe dafür vorliegen. Da der Bundesregierung und den deutschen Leitmedien das Schicksal politischer Häftlinge und Flüchtlinge in Fällen, bei denen die Anprangerung ihrer Schicksale konträr zu den internationalen Interessen der Bundesrepublik und des deutschen Kapitals liegt, kaum eine Initiative oder Nachricht wert sind, wenn sie, wie im Fall der in der Türkei lebenden Kurden, nicht ohnehin aktiv an ihrer Diffamierung und Verfolgung beteiligt sind, ist die Maßregelung der ukrainischen Regierung vor allem instrumenteller Art. Nach wie vor geht es bei der ehemaligen Sowjetrepublik um den immensen strategischen Wert, den ihre Zugehörigkeit zur NATO hätte. Da es dazu einer prowestlichen Regierung bedürfte und Timoschenko lange Zeit als Hoffnungsträgerin einer solchen Entwicklung galt, wird nun mit einem seit der sogenannten orangenen Revolution vor acht Jahren nicht dagewesenen Furor versucht, hegemonialen Einfluß auf die Ukraine zu nehmen.

Das gilt auch trotz der vom russischen Präsidenten Medwedew geäußerten Kritik am Umgang der ukrainischen Justiz mit Julia Timoschenko. Die regelmäßig um Preise und Profite im Gashandel ausbrechenden Zwistigkeiten zwischen Moskau und Kiew sind im Verhältnis zur grundlegenden strategischen Ausrichtung des Landes von nachrangiger Bedeutung, zudem erfüllt Medwedew den eher prowestlichen Part in der russischen Führungsspitze. Unter den Oligarchen der Ukraine ist man in dieser Beziehung ohnehin hochflexibel, verfolgt die Eigentümerklasse des Landes doch Geschäftsinteressen, denen die in Kiew jeweils regierenden Parteien in erster Linie verpflichtet sind.

So auch Julia Timoschenko, gegen die in Rußland auch zu ihrer Zeit als Ministerpräsidentin der Ukraine ein Haftbefehl wegen Beamtenbestechung, die sie während ihrer Zeit als Chefin des Unternehmens Vereinigte Energiesysteme der Ukraine (EESU) begangen haben soll, vorlag. Die gelernte Ökonomin hatte ihren Aufstieg in die ukrainische Oligarchie der Protektion des ehemaligen Ministerpräsidenten Pawlo Lazarenko zu verdanken, der ihr den Zugang zum ertragreichen Gasgeschäft eröffnete. Lazarenko floh 1997 aufgrund von Korruptionsvorwürfen aus der Ukraine und wurde in Kalifornien wegen Geldwäsche und Erpressung zu einer Haftstrafe verurteilt. Seither steht Timoschenko unter dem Verdacht, im Zusammenhang mit Lazarenkos Geschäften als Chefin der EESU russisches Erdgas am ukrainischen Zoll vorbeigeschmuggelt und an eine britische Tochterfirma verkauft zu haben. Die auch als "Gasprinzessin" bekannte Politikerin mußte ihr Anfang 2000 angetretenes Amt als Vertreterin des damaligen Ministerpräsidenten Juschtschenko schon ein Jahr später wieder abgeben, da man ihr Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung nachgewiesen hatte. Die während ihrer Zeit als Gasmanagerin erhobenen Vorwürfe sind nun Gegenstand eines zweiten Prozesses.

Die Zugehörigkeit Timoschenkos zur Oligarchie des Landes ebnete ihr nicht nur den Weg in die Regierungspolitik, sondern war auch ihrer Karriere zur orangenen Revolutionärin dienlich. Was damals mit starker Unterstützung westlicher Vorfeldorganisationen angeschoben und als Aufbruch für Freiheit und Demokratie gefeiert wurde, hat sich längst als Wechsel in ihrer sozialfeindlichen Haltung austauschbarer Oligarchien erwiesen. Daß die Ukraine sich unter der orangenen Regierung an der Besetzung des Iraks beteiligte, ist nur eine Folge der maßgeblichen Einflußnahme regierungsnaher US-Institutionen auf die Inszenierung dieser bunten Revolution.

Wie auch immer der jüngste gegen sie gerichtete Vorwurf des Amtsmißbrauchs im Zusammenhang mit ukrainisch-russischen Gasgeschäften vor drei Jahren gelagert ist, so hatte er ein rechtskräftiges Urteil zur Folge. Die nun im Mittelpunkt der Kritik stehende Mißachtung ihrer Verhandlungsunfähigkeit unterstützt die zweckdienliche Glorifizierung Timoschenkos als politische Märtyrerin. Die dabei propagierte Empörung entspricht der symbolpolitischen Erregung, mit der vor acht Jahren ein für den deutschen Imperialismus vorteilhafter Regimewechsel hierzulande als Akt politischer Befreiung gefeiert wurde. Das soziale Massenelend in der Ukraine, das deutsche Politiker damals so wenig interessierte, wie es heute der Fall ist, dokumentiert die Negation eines jeglichen revolutionären Potentials, das sich neuen Herrschaftsinteressen nicht andiente.

So muß auch die Frage gestellt werden, ob Timoschenko nicht eine für sie nachteilige rechtliche Entwicklung dadurch umzukehren versucht, daß sie ihr Schicksal in den Dienst westlicher Hegemonialinteressen stellt. Angesichts der hochgradigen Bereitschaft der NATO- und EU-Regierungen, mit Hilfe symbolpolitischer Mittel strategische Vorteile zu erwirtschaften, eignet sich der Boykott eines sportlichen Events, das europaweite Aufmerksamkeit genießt, besonders dazu, die Verhältnisse in der Ukraine wieder zugunsten eigener Hegemonialinteressen zu wenden. Wie die sich je nach Großwetterlage ändernden Bündnisverhältnisse in der ukrainischen Politik belegen, geht es bei der Frage, wer in Kiew was entscheidet, um profane Machtfragen. Soziale Forderungen wie die Enteignung der wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes, die ihren Reichtum nach dem Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion meist auf räuberische Weise erlangt haben, sind weder von der einen noch der anderen Seite zu vernehmen. Das derzeit in aller Öffentlichkeit aufgeführte Hauen und Stechen ist ein Verteilungskampf unter denjenigen, die etwas zu verteilen hätten und dies nicht wollen. Indem internationale Akteure wie die Bundesregierung diese Bruchlinien für sich ausnutzen, handeln sie im machtpolitischen Sinne so rational, wie das Propagieren eines aus humanitären Gründen erfolgenden Boykotts der Fußball-EM an irrationale Reflexe appelliert.

29.‍ ‍April 2012