Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1468: Großer Präsident Gauck liest kleinmütigen EU-Skeptikern die Leviten (SB)




Joachim Gauck, Sturmgeschütz deutscher Ideologieproduktion im Tarnüberzug pastoraler Leutseligkeit, hat seine Grundsatzrede gehalten. Für den Bundespräsidenten ist Kommunikation auf gesamteuropäischer Ebene "kein Nebenthema des Politischen. Eine ausreichende Erläuterung der Themen und Probleme ist vielmehr selbst Politik. Eine Politik, die mit der Mündigkeit der Akteure auf der Agora rechnet und sie nicht als untertänig, desinteressiert und unverständig abtut." [1] Zu viele Bürger lasse die Europäische Union "in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit" zurück. [2]

Unter allseitigem Beifall einer Konzernpresse, die ihren Mangel an journalistischer Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit mit der Fixierung auf salbungsvolle Beschwichtigung im Kleid gedrechselter rhetorischer Formeln vergeblich zu kompensieren hofft, hat Gauck eine Lücke geschlossen. "Ich könnte nicht, was sie leistet", hatte er über Angela Merkel gesagt und sogleich hinzugefügt: "Manchmal ist es mühsam zu erklären, worum es geht. Und manchmal fehlt die Energie, der Bevölkerung sehr offen zu sagen, was eigentlich passiert." [3] Die Bundeskanzlerin hatte am Vortag in ihrer Regierungserklärung zum EU-Gipfel, der Anfang Februar in Brüssel stattfand, den dort konzipierten Sparzwang für den Haushalt von 2014 bis 2020 als guten Kompromiß für Europa verteidigt. Erstmals in der Geschichte der EU wird ein Finanzrahmen vorgelegt, der kleiner als der vorherige ausfällt. Es sei niemandem zu vermitteln gewesen, wenn ganz Europa sparen müsse, die EU aber nicht, so die Kanzlerin lapidar.

Was Merkel in nüchternen Worten dargelegt hat, heißt noch mehr Depression und Verelendung in Europa, heißt Durchsetzung deutscher Vormachtstellung im europäischen Projekt der Eliten und führenden Nationalstaaten. Wenn zornige Demonstranten in Athen die Kanzlerin mit Hitler vergleichen, wenn das Bild des häßlichen Deutschen vielerorts wiederaufersteht, wenn die EU als Kerker und Knechtschaft der Schwachen erkannt wird, schlägt die Stunde Joachim Gaucks, des "wortmächtigen ersten Mannes im Staat". Nachdem der böse Cop einmal mehr brachial den Plan zur Rettung der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse und gesamteuropäischen Zugriffspräferenzen durchgedrückt hat, tritt der gute Cop in Aktion. Er lektioniert alle Skeptiker, wie man als "bekennender Europäer" die Fahne hochhält: Europa brauche jetzt "keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger - keine Zauderer, sondern Zupacker". Denn "selbst wenn einzelne Rettungsmaßnahmen scheitern sollten, steht das europäische Gesamtprojekt nicht in Frage", unterstreicht Gauck apodiktisch.

Die Angst vor einer deutschen Dominanz sei völlig unbegründet: "Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unsere Konzepte aufdrücken", so der Bundespräsident. "Ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern in Europa: Ich sehe unter den politischen Gestaltern in Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde", behauptet er vor 200 Gästen im Schloß Bellevue. Aus tiefer innerer Überzeugung könne er sagen: "Mehr Europa heißt in Deutschland nicht: deutsches Europa." Sollten deutsche Politiker "vereinzelt zu wenig Empathie für die Situation der anderen aufgebracht haben" oder als kaltherzig erschienen sein, verurteile er dies: "Sollte aus kritischen Kommentaren allerdings Geringschätzung oder gar Verachtung gesprochen haben, so ist dies nicht nur grob verletzend, sondern auch politisch kontraproduktiv."

Auf der Suche nach einem Leim, der das Auseinanderbrechen des überstaatlichen Kontroll- und Interventionsapparats abwenden könnte, bedauert es Gauck, daß den 500 Millionen EU-Bürgern eine gemeinsame Erzählung für ihre europäische Identität fehle. "Wir Europäer haben bis heute keinen Gründungsmythos nach Art einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität bewahren konnte." Solch einer martialischen Historie bedürfe es indessen auch nicht, da das Verbindende der Europäer der gemeinsame Wertekanon sei: "Unsere europäische Wertegemeinschaft will ein Raum von Freiheit und Toleranz sein."

Wohl wissend, daß die ideologische Bindekraft dieser Doktrin nur auf Grundlage einer vollendeten administrativen Architektur Haltbarkeit gewinnt, fordert Gauck "eine weitere Vereinheitlichung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik." Dies sei Voraussetzung dafür, daß sich das vereinte Europa als "Global Player" behaupten könne. Nach der schnellen Osterweiterung der Union und der Einführung des Euro müßten zudem Konstruktionsfehler der EU beseitigt werden, da eine "durchgreifende finanzpolitische Steuerung" ausgeblieben sei. Wem das Brüsseler Regime suspekt ist, weil die Lebensverhältnisse unaufhaltsam in den Keller stürzen, dem hält der Bundespräsident entgegen: "Die Europäische Union ist kompliziert, weil sie auch Kompliziertes leisten soll." Daß die EU die Unterwerfung und Ausbeutung nach innen und außen perfektionieren soll und somit die Verelendung vieler zugunsten weniger unmöglich die Wohlfahrt aller befördern kann, ist Gaucks Thema nicht.

Er verlangt "mehr Mut bei allen", fordert "gelebte und geeinte Vielfalt", will selbst "liebe Engländer, Schotten, Waliser, Nordiren und britische Neubürger" weiter im Boot halten. Gauck empfiehlt Englisch als gemeinsame Verständigungssprache der Europäer, die daneben aber weiter ihre Muttersprachen pflegen sollten, und träumt von einem europaweiten Fernsehsender nach Vorbild des deutsch-französischen Arte-Programms, um eine vereinheitlichte Öffentlichkeit herzustellen. Mit seiner Grundsatzrede eröffnete er zugleich das "Bellevue Forum", in dessen Rahmen künftig auf Einladung des Bundespräsidialamts über wichtige gesellschaftliche Themen debattiert werden soll. So ist für das Frühjahr ein Thementag geplant, an dem Mitglieder der Initiative "Ich will Europa" angehört werden sollen.

Nörgler, die dieses Europa nicht wollen, kann der Bundespräsident so wenig brauchen wie die neuesten Armutsberichte aus Südeuropa, weshalb er letztere auch gar nicht erst erwähnt. Wer wie Gauck mit Leidenschaft für ein europäisches Projekt in die Bresche springt, das von deutscher Politik und Wirtschaft maßgeblich mitkonzipiert und zum eigenen Vorteil instrumentalisiert wird, kann sich ungeteilten Lobes all jener sicher sein, die seine "große Rede" zur Erbauung und Richtschnur im finsteren Tal eingefordert haben. "Ehrlich, emotional, überfällig - Chapeau, Herr Präsident!", stellt ihn Der Spiegel stellvertretend für eine breite Phalanx bundesdeutscher Leitmedienborniertheit in eine Reihe mit den "großen Präsidenten dieses Landes", als spiegle sich diese Größe in der Urteilsfähigkeit des Journalisten wider, der sie dem Staatsoberhaupt so bereitwillig attestiert.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/politik/deutschland/article113831990/Gauck-wuenscht-sich-gesamteuropaeischen-Fernsehkanal.html

[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/gaucks-grundsatzrede-nicht-deutsches-europa-sondern-europaeisches-deutschland-12090390.html

[3] http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article113821300/Merkel-faellt-durch-den-Gauck-Test.html

22. Februar 2013