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PROPAGANDA/1472: Wir gegen die anderen - Krisenmanagement durch Feindbildproduktion (SB)




Bundeskanzlerin Angela Merkel wird gerne ein betont pragmatischer, unideologischer Regierungsstil nachgesagt. Gerade das Leidenschaftslose und Unspektakuläre, mit dem die vielzitierte schwäbische Hausfrau alles beieinander halte, mache sie so beliebt, ist etwa dem heutigen Kommentar der Süddeutschen Zeitung zu entnehmen. Diese Wahrnehmung ist zweifellos der Zugehörigkeit zu jener staatstragenden Funktionselite geschuldet, der Spitzenjournalisten angehören, sonst wären sie keine. Aus Sicht derjenigen, die laut der Kanzlerin nicht zur schweigenden und damit inkludierten Mehrheit der Bevölkerung gehören, geht Merkel allemal mit populistischen, auf die Ideologie des Sozialrassismus gestützten Argumenten hausieren.

"Diejenigen, die sich nicht einbringen wollen in unsere Gesellschaft, diejenigen, die glauben, wenn man schreit, dann hat man schon Anspruch auf staatliche Unterstützung, die können wir nicht unterstützen", soll die Bundeskanzlerin am 14. August bei einem Wahlkampfauftritt in Seligenstadt erklärt haben. Indem sie an das Publikum appelliert, sich zum konsensuellen Bündnis "Wir gegen die anderen" zusammenzuschließen, nimmt sie die Definitionsmacht darüber in Anspruch, wer dazugehört und wer ausgegrenzt wird. Nicht anspruchsberechtigt und damit kein Teil der Gesellschaft soll sein, wer in Anbetracht um sich greifender Erwerbslosigkeit und Armut dabei versagt, sich mit Lohnarbeit über Wasser zu halten.

Wer mittellosen Bürgerinnen und Bürgern keine andere Wahl läßt, als ihre Arbeitskraft und Lebenszeit zu Markte zu tragen, der übernimmt auch die Verantwortung dafür, ihr Überleben zu gewährleisten, wenn sie keinen Käufer für das einzige finden, was sie anzubieten haben. Merkel jedoch übt das Kommando über "unsere Gesellschaft" aus, indem sie selbstredend voraussetzt, daß Lohnabhängige sich zu fast jeder Bedingung verfügbar machen und auch noch dankbar dafür sind, sich die Freiheit der Marktwirtschaft durch das Abtragen ihrer qua Herkunft und Klasse angehäuften Bringschuld erst verdienen zu müssen. Gnade in ihren Augen finden auch diejenigen Erwerbslosen, die sich still und leise unter verschärfter Aufsicht der Arbeitsverwaltung in ihr notdürftig alimentiertes Schicksal fügen.

Wer all das nicht einsieht und die Ansicht vertritt, daß die herrschende Eigentumsordnung auf Raub basiert, der wird nicht nur nicht unterstützt, sondern aktiv ausgegrenzt. Sich im völlig fiktiven "Wir" der christdemokratischen Volksgemeinschaft einzufinden und alle Unverwechselbarkeit selbstbestimmten Lebens für austauschbare Erwerbsformen und Konsumentscheidungen aufzugeben, erscheint als das kleinere Übel. Der Gegenentwurf der Subalternen läßt ahnen, daß von dem nicht erbrachten Beweis der Zugehörigkeit auf kurze oder lange Sicht eine existentielle Bedrohung ausgeht.

Greift die Regierungschefin einer verfassungsrechtlich demokratischen und egalitären Gesellschaft zur Dichotomie des "Wir und die anderen", dann redet sie im Grunde genommen dem Bürgerkrieg das Wort. Indem sie einem Teil der Bevölkerung anlastet, seine legitimen Forderungen seien überzogen und entsprängen einer durch nichts gedeckten Anspruchshaltung, baut sie ein Feindbild auf, das die von ihr hofierte Mehrheit auf fortgesetzte Zustimmung zum kapitalistischen Verwertungsmodell einschwört. Wird die Unterstellung, die Habenichtse würden in der Annahme schreien, daß man ihre Schreie auch hört, auch noch so sehr von der Realität einer regressiven, im Zweifelsfall Zuflucht zu Nationalismus und Sozialneid suchenden Masse von Versorgungsbedürftigen widerlegt, so verrichtet allein die Möglichkeit, aus dem Schattenreich kapitalistischer Mehrwertproduktion könne sich so etwas wie ein aufbegehrendes Subproletariat erheben, ihre angsteinflößende Wirkung.

Wie schon mit der nachgewiesenermaßen so gut wie gegenstandslosen Bezichtigung von Langzeiterwerbslosen, sich zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung in der sozialen Hängematte auszuruhen, vorexerziert, werden unterschwellige Bruchlinien aufgeladen, um eine reale Widerspruchseskalation gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wer dennoch aufbegehrt, verfängt sich in einem immer kleinmaschiger gewebten Netz aus Überwachung und Repression, das nicht etwa auf Beute wartet, sondern diese ganz im Sinne der in Anspruch genommenen Definitionsmacht über produktiv und unproduktiv, über wir und die anderen, über gut und böse produziert.

So steht die schwäbische Hausfrau nicht nur am Sturmgeschütz, das den südeuropäischem Schlendrian mit deutschen Tugenden bekämpft, sie fungiert auch als Zuchtmeisterin der eigenen Bevölkerung. Vor die Wahl gestellt, sich als anständiger Mensch nichts zuschulden kommen zu lassen und die Schuld einer Kapitalmacht zu übernehmen, die, der Bindung an materielle Wertschöpfung längst enthoben, ihr Heil in der finanziellen Rückendeckung des staatlichen Gemeinwesens sucht, oder zu jenen verwerflichen Existenzen zu gehören, die gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen aufstehen, kuscht das Gros der Bevölkerung erwartungsgemäß. Merkels Adressatinnen und Adressaten wird suggeriert, potentielle Opfer parasitärer Nutznießer zu sein, um dem Zusammenhang zwischen anwachsendem Mangel und der Akkumulation fiktiven Kapitals nicht auf die Spur zu kommen. Ideologischer im Sinne der Verdrehung herrschender Gewaltverhältnisse könnte nicht argumentiert werden, wenn keinesfalls nur Merkel, sondern auch die sozialdemokratische Konkurrenz den Wert einer Arbeit glorifiziert, der für diejenigen, die sie leisten, durch die Unbezahlbarkeit der ihr aufgelasteten Schulden immer gegenstandsloser wird.

19. August 2013