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PROPAGANDA/1495: Europareif - ins Aus balanciert ... (SB)



Im Zuge des obligatorischen Jahresrückblicks zwischen den Tagen darf natürlich auch die 2017 überaus strapazierte Befindlichkeit "Europas" nicht fehlen. Fundierte Analysen oder gar handfeste Ansätze einer offensiven Konfrontation mit der vielzitierten Krise des europäischen Gedankens sind dabei eher nicht zu erwarten. Vielmehr scheint der Bedarf an beschwichtigenden Prognosen und mit guten Vorsätzen unterfütterten Perspektiven, die den Fortbestand der vertrauten Lebensverhältnisse beschwören, proportional zu deren akuter Gefährdung in den Himmel zu schießen. Im Arsenal der Beliebigkeit werden Europa, Europäische Union oder gar die Vereinigten Staaten von Europa, wie sie Martin Schulz auf seiner verzweifelten Suche nach Alleinstellungsmerkmalen seiner Person und Partei jüngst wieder einmal ins Gespräch gebracht hat, zu einem Brei verrührt. Der wird den Bürgerinnen und Bürgern in der Hoffnung eingeflößt, Immunreaktionen gegen Nationalisten und Rechtspopulisten auszubilden und europäische Identität zu nähren.

Bettina Klein, Korrespondentin des Deutschlandradios im Studio Brüssel, zieht in ihrer Jahresabschlußbilanz [1] ein positives Resümee, warnt aber zugleich vor einem Gären unter der Oberfläche, dem mit einer Verteidigung der Grundwerte zu begegnen sei. Das Jahr 2017 habe für die EU in einem Tal der Tränen begonnen, in einer Kurve über ein kaum für möglich gehaltenes Hoch geführt und ende in einer Art Ernüchterung. Die Furcht vor dem Rechtspopulismus und der Zerstörung der Europäischen Union und ihrer Grundwerte erschien nach den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich unbegründet, meint Klein. In Reaktion auf den Brexit und die Wahl Trumps sei der Zusammenhalt gewachsen, und mit der Verteidigungsunion habe die EU einen wichtigen Erfolg gefeiert. "Das Team Merkel-Macron ließ die Blütenträume von einer besseren, gefestigteren Union reifen. Menschen mit Europafahnen gingen zu Tausenden auf die Straße. Alles in allem steht die EU besser da als zuvor."

Bezeichnenderweise fällt der Kommentatorin unter all den Stimmungsbildern und Visionen als einzig benennbarer konkreter Fortschritt die Verteidigungsunion ein. Kein Wort von den sozialen Verwerfungen und Kämpfen ums Überleben, der Mangelbewirtschaftung und repressiven Staatlichkeit. Statt dessen die Feier militärischer Stärke dank vereinter Kräfte, als sei dies nicht ein säbelrasselndes Aufrüstungssignal an die Adresse der näheren und ferneren Nachbarschaft, daß der Krieg auf der Tagesordnung steht.

Auch Hansjörg Schmitt, einer der Begründer der Bürgerbewegung "Pulse of Europe", verfällt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [2] recht zügig auf die Waffengewalt, wenn er nach identitätsstiftenden Komponenten sucht. Wie er argumentiert, müsse es künftig nicht alles doppelt geben. Ein gemeinsamer europäischer Paß reiche ebenso aus wie eine einzige europäische Verteidigungsarmee statt jeweils teuren nationalen Heeren. Es wäre absurd, würde jemand heutzutage vorschlagen, daß Bayern und Baden-Württemberg und Hessen ihre eigene Armee brauchen. Man müsse auch in Europa zu einem Stadium kommen, wo das Gewaltmonopol sowohl innerstaatlich als auch außerstaatlich in einer europäischen Institution verankert ist.

Daß sich Schmitt bedenkenlos einer gesamteuropäischen Rüstungskonzentration verschreibt, hängt unmittelbar damit zusammen, daß er die EU allen Ernstes für ein großes Friedensprojekt hält. Er erinnert an die Montanunion als Vorläuferin der EU, dank der die Kontrolle der Rüstungsindustrien auf supranationaler Ebene möglich geworden sei. Sollte "Pulse of Europe" entgangen sein, daß die westeuropäische Friedensordnung den Zusammenschluß im Zeichen des Kalten Krieges erzwang, also die alten Fronten teils zu dem Zweck pazifizierte, die neuen um so massiver aufzurüsten? Inzwischen ist es der EU gelungen, interne Konflikte einzuhegen und den Krieg nach Afrika und in den Nahen Osten zu exportieren. Dies als bedeutendes Friedensprojekt zu feiern, bringt - wenngleich ungewollt und unverstanden - die Verschränkung von Krieg und Frieden im Dienst der Herrschaftssicherung nach innen und außen auf den Punkt.

Hansjörg Schmitt meint zudem, daß die daraus entstandene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schon lange nicht mehr ausreicht, um eine wirkliche "europäische Identität" zu stiften. Auch diesbezüglich wäre einzuwenden, daß die EU von Beginn an nie ein Projekt aller Europäer, sondern der wichtigsten Kapitalfraktionen in den einflußreichsten Nationalstaaten war, um die Verwertungsbedingungen entscheidend zu verbessern. Durchgesetzt wurde ein freier Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften, während eine Sozialunion nie vorgesehen war. Statt dessen fallen Schmitt positiv konnotierte Momente wie Schüler- und Studierendenaustausch, Städtepartnerschaften oder gemeinsame Kulturmetropolen wie Paris, Rom oder auch Berlin ein. Aber auch "kollektive Sehnsuchtsgebiete", die nicht zuletzt durch die europäische Literatur geschaffen worden seien, findet er bemerkenswert.

Ausgespart bleibt wohlweislich die Eurozone, die als Währungsunion im Dienst der führenden Volkswirtschaften die schwächeren Partnerländer der Peripherie an der Abwertung ihrer Landeswährung hindert, die ihrer Ökonomie einen gewissen Schutz verleihen würde. Ihnen bleibt nur die innere Abwertung, sprich ein massiver Abbau des Sozialstaats mit den verheerenden Elendsfolgen, wie sie insbesondere aus Griechenland, aber auch den anderen südlichen Ländern der Eurozone bekannt sind. Daß die EU nicht nur Stärke nach außen, sondern auch eine massive Ausbeutung im Inneren forciert, ist kein Webfehler in der gesamteuropäischen Textur, sondern deren immanenter Zweck. Wer daher "Europa" als Erfolgsmodell verkaufen möchte, muß sich die Frage gefallen lassen, von wessen Erfolg zu welchem Preis für andere er eigentlich spricht.

Da hilft auch die eigenwillige Ideologie der Bürgerbewegung "Pulse of Europe" nicht weiter, die unter Berufung auf einen Roman des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse [3] der EU eine "schleichende Revolution" attestiert. Erstmals in der Geschichte würden in einer Stadt die Rahmenbedingungen für einen ganzen Kontinent produziert, und dieser Prozeß gehe jetzt schon seit einem halben Jahrhundert in kleinen Schritten voran, freut sich Schmitt, als habe das Römische Reich nie existiert. Wahr sei sicherlich, daß die Veränderungen, die der europäische Vereinigungsprozeß seit 1945 herbeigeführt hat, "revolutionär in einer Art und Weise" seien und diese Revolution teilweise ganz unbemerkt erfolgt sei. Jetzt aber sei die Revolution bemerkt worden, und die Bewegung "Pulse of Europe" vereine seit einem Jahr all jene, die diese Umwälzung befürworten.

So unbenommen es sein mag, in der Herausbildung der EU eine Umwälzung zu sehen, mutet der inflationäre Gebrauch des Begriffs "Revolution", die überdies seit vielen Jahrzehnten schleichend daherkomme, nicht nur allzu vage, sondern geradezu abwegig an. Zumindest sollte die Erinnerung an Zeiten noch nicht vollends verblaßt sein, in denen man unter "Revolution" die Erhebung gegen eine herrschende Klasse und deren Sturz mit der Folge einer neuen Gesellschaftsordnung verstand. Hier hingegen geht es um europäische Identität, die wie eine zweite Identität zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzukommen könne. Dies sei kein Widerspruch zum Nationalstaat, sondern erforderlich, um Europa weiterbauen zu können: "So wie wir Vater und Mutter haben, und uns so in unserer Existenz definieren, so können wir gute Franzosen, Italiener oder Deutsche sein und dennoch auch leidenschaftliche Europäer."

Auch wenn es Schmitt, der "Pulse of Europe" als Gegenentwurf zu nationalistischen Bewegungen auffaßt, vehement bestreiten würde, ist sein Konzept von Identität gar nicht so weit von dem der "Identitären" in Deutschland oder rechten Bestrebungen in anderen europäischen Ländern entfernt. Wenn er von "guten" Franzosen, Italienern oder Deutschen und leidenschaftlichen Europäern spricht, definiert er Identität als nationale, völkische oder eben auch supranationale Kategorie, sieht also von gesellschaftlichen Widersprüchen und Zugehörigkeiten in den damit verbundenen Auseinandersetzungen ab. Unterwerfung zum Zweck der Herrschaftssicherung und Widerstand gegen dieselbe tauchen in diesem Identitätskonzept nicht auf, das sich von den vermeintlich kritisierten "destruktiven" Kräften nur in der Frage einer Befürwortung oder Ablehnung der EU unterscheidet. Beide verbindet wiederum eine unzulängliche Analyse und Kritik der Europäischen Union, welche die Befürworter als eine Quelle der Solidarität, die Gegner als eine Bevormundung der Nationalstaaten mißdeuten.

Bettina Klein beklagt ihrerseits, daß rechtspopulistische Parteien zum Allgemeingut in Europa geworden seien und sich offen die Zerstörung der Europäischen Union zum Ziel gesetzt hätten. In Deutschland säßen sie im Bundestag, in Österreich befänden sie sich an der Macht, Polen und Ungarn seien an rechtstaatlichen Normen nicht mehr interessiert. Katalonien würde bei Unabhängigkeit aus der EU herausfallen, die Zukunft Großbritanniens nach dem Brexit sei völlig ungewiß. Und dabei könne doch niemand im Ernst die Zerstörung der Europäischen Union als Zukunftsmodell begreifen. Indem Klein all diese Strömungen in einen Topf wirft und ihnen ein rationales Konzept abspricht, bleibt ihr als Erklärungsmodell für deren Aufblühen nur ein krudes psychologistisches Konstrukt aus Verführung und Wunschdenken.

Die Rebellion gegen Strukturen sei ein Phänomen dieser Zeit und müsse als solches ernstgenommen werden, fordert sie. Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen aller Art wirkten immer ansteckend und in gewisser Weise faszinierend. Etwas darin sei authentisch und vielen von uns vertraut, was ihre Ansteckungsgefahr ausmache. Allerdings würden Freiheitssehnsucht und Unabhängigkeitsdrang von Menschen auch auf Systeme und Strukturen projiziert. Werde eine Form zerstört, entstehe eine neue Form des Zusammenlebens. Die werde oftmals aber nicht als besser empfunden.

Was das bedeuten soll, illustriert Klein am Beispiel der DDR. Als sie "überwunden" war, "schien aus Sicht ganzer Bevölkerungsschichten theoretisch alles möglich zu sein: Tabula rasa, eine bessere DDR, ein dritter Weg, das Paradies. Was auch immer." Als dann "eine funktionierende Demokratie und Marktwirtschaft" gekommen sei, hätten viele das neue System als aufoktroyiert und schlechter als das vorherige empfunden, weil es so sehr von dem erträumten Ideal abweiche. Die nie enden wollende Abrechnung mit der DDR als einem Reich von Träumern, die hinterher mit den Segnungen von Demokratie und Marktwirtschaft nicht zurechtgekommen seien, treibt schon aberwitzige Blüten. Die Sieger im Kampf der Systeme scheinen sich ihrer Sache denn doch nicht so sicher zu sein, wenn sie Kohls Ammenmärchen gebetsmühlenartig reproduzieren.

Offenbar will Bettina Klein so verstanden werden, daß überzogene Erwartungen an die EU dazu führen, daß sich viele Menschen vom keineswegs perfekten, aber bestmöglichen europäischen Zukunftsentwurf abwenden. Ihnen müsse "glaubhaft vermittelt werden", daß "Spielregeln für alle gut sind". Und überhaupt: "Unser derzeitiges Leben ist kein auf ewig gottgegebenes Geschenk. Es muß zu bestimmten Zeiten verteidigt werden. Die Kreativität des Aufstands in diese Bahn zu lenken, das wäre ein lohnendes Ziel." Den bessergestellten Menschen im Land der europäischen Führungsmacht scheint zu schwanen, was sie zu verlieren haben, wenn sie zur Verteidigung ihrer Lebensart Bürgerbewegungen mobilisieren oder gar einen Aufstand für sich einspannen wollen.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/eu-2017-bewahren-und-optimieren.720.de.html?

[2] http://www.deutschlandfunk.de/reihe-fragen-nach-identitaet-die-vision-der-vereinigten.691.de.html?

[3] Robert Menasse: Die Hauptstadt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 459 Seiten, 24.- EUR, ISBN 9783518427583

27. Dezember 2017


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