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PROPAGANDA/1496: Pressefreiheit - Umgangsregeln und Verhalten schränken ein ... (SB)



Er hätte über die massive Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei sprechen und fragen können, was die Bundesregierung dafür tut, um beim NATO-Verbündeten wieder demokratische Verhältnisse einziehen zu lassen. Mehr als 150 JournalistInnen sitzen dort im Knast, wenige Tage zuvor wurden 14 JournalistInnen der Tageszeitung Cumhuriyet wegen angeblicher Unterstützung von Terrororganisationen zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und acht Jahren verurteilt. Indem die Bundesregierung mit der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung und türkischer KommunistInnen der repressiven Praxis der AKP-Regierung zuarbeitet, ist sie mitverantwortlich dafür, daß linke und liberale JournalistInnen in der Türkei um ihre Freiheit und ihr Leben fürchten müssen.

Er hätte die Konzentration im deutschen Verlagswesen zum Problem einer von Gefälligkeitsberichterstattung und Rationalisierungszwängen umlagerten Presselandschaft machen können. Aufgrund der Abhängigkeit von Werbeeinnahmen wird durchaus darauf geachtet, ein den Auftraggebern genehmes Umfeld zu schaffen, auch wird keineswegs stets unübersehbar kenntlich gemacht, wenn von Verbänden und Firmen verfaßte PR-Artikel publiziert werden. Zudem sind JournalistInnen alles andere als frei in der Artikulation ihrer Ansichten. Sie unterliegen nicht nur beim Springer Konzern, mit dessen Unternehmensgrundsätzen seinen Angestellten politische Vorgaben gemacht werden, sondern auch sonst informellen Leitlinien einer Konformität, die das gesellschaftliche Mittelmaß sachzwanggestützter und bezichtigungsträchtiger Marktkonkurrenz eins zu eins reflektiert.

Er hätte den 2015 eingeführten Straftatbestand der sogenannten Datenhehlerei als Angriff auf die journalistische Unabhängigkeit und den produktiven Beitrag von InformantInnen in Behörden und Unternehmen zum Ausgleich gesellschaftlicher Machtasymmetrien kritisieren können. Er hätte mehr Schutz für Whistleblower und die generelle Stärkung des journalistischen Quellenschutzes fordern können, was angesichts der immer tiefer in die Privatsphäre eindringenden Überwachungsinstrumente des Staates, nicht zuletzt während seiner Amtszeit als Bundesinnenminister initiiert, überfällig ist.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hätte in seinem Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai vieles sagen können, was der wortreich beschworenen Unabhängigkeit der durch ihn repräsentierten Volksvertretung jene Glaubwürdigkeit verliehen hätte, deren Verfall bei großen Medien er als Ergebnis gezielter Angriffe auf die freie Presse darstellte. Wenn die Leistungsfähigkeit verantwortungsvoller Medien geschwächt werde, dann werde die Demokratie schwächer, so Schäuble im Brustton der Überzeugung, seine politischen Auffassungen seien gegenüber kritischen Einwendungen gegen den klassengesellschaftlichen Charakter des politischen Systems der Bundesrepublik sakrosankt. Daß in nämlichen Medien nicht kritisch über diesen Vereinnahmungsversuch debattiert wurde, könnte den Pakt zwischen ihnen und dem Staat für mehr Sozialkontrolle durch weniger Kampf für soziale Gleichheit nicht besser belegen.

Indem der CDU-Politiker vor allem die vielen Möglichkeiten, sogenannte Fake News zu verbreiten, als besonders gefährlich für die Demokratie anprangerte, stellte er sich zumindest inhaltlich hinter die durch das Netzwerksdurchsetzungsgesetz geförderte Praxis der großen IT-Konzerne, mißliebige Meinungsbeiträge durch maschinelle, von Algorithmen gesteuerte Zensoren unsichtbar zu machen oder ganz zu entfernen. Die nach Maßgabe eines Katalogs vorherrschender Moral- und Sittenvorstellungen wie einer Gesellschaftsdoktrin, die dem autoritären Sicherheitsstaat als unhinterfragbarem Sachwalter des größeren Guten Kommandogewalt zuspricht, vollzogene Formierung gesellschaftlicher Debatten auf sozialen Netzwerken soll vor allem vergessen machen, daß Menschen selbst am besten wissen, wie sie ihre tagtäglich gemachten Erfahrungen politisch verarbeiten.

Sie zu bloßen KonsumentInnen von Informationen, die kaum in der Lage sind, sich selbst ein Urteil zu bilden, ohne vermeintlichen Rattenfängern auf den Leim zu gehen, und damit zu BefehlsempfängerInnen zu degradieren fördert das ganze Ausmaß paternalistischer Definitionsmacht zutage, mit der nicht nur Schäuble die öffentliche Kommunikation unter Kontrolle zu bringen versucht. Daß Menschen von sich aus daran interessiert sein könnten, den Verhältnissen, denen sie meist weit mehr ausgesetzt sind, als daß sie über ihr Leben verfügen könnten, auf den Grund zu gehen, wird von vornherein als Einfallstor für hinterhältige Propaganda und gefährliche Weltanschauungen diffamiert. Sich mit Empörung über angebliche Lügen einer Wahrheit anzudienen, die je nach Marktlage und Gesinnungskonjunktur ganz anderen Zwecken dient als dem der Emanzipation von fremden Einflüsterungen, kann denn auch nicht der Gegenentwurf zum Pochen auf die Ordnung des Oben und Unten sein.

Da in der kapitalistischen Gesellschaft viel Diskussions-, Handlungs- und Veränderungsbedarf besteht, ist es an den Menschen selbst, sich gegen die im Namen von Freiheit und Wahrheit daherkommende Gesinnungskontrolle aufzulehnen und den Priestern der Staats- und Marktreligion eine Absage zu erteilen. Was könnte schöner und lebendiger sein, als selbst zu denken und die Suggestionen der herrschenden Ideologie, deren zentrales Merkmal in der Behauptung besteht, im Unterschied zu allen anderen keine zu sein, wie mit übergroßem Druck missionarischen Glaubenseifers aufgeblasene Luftballons platzen zu lassen.

4. Mai 2018


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