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RAUB/0916: Sarrazin-Interview ... vom Sozialrassismus der Eliten (SB)



Gefragt nach seiner Meinung zum umstrittenen Interview des ehemaligen Berliner Finanzsenators und Bundesbankers Thilo Sarrazin verlegt sich Daniel Cohn-Bendit im Deutschlandfunk (07.10.2009) auf die Behauptung, der Mann sei einfach verwirrt. Der soeben mit dem Cicero-Rednerpreis 2009 für herausragende rhetorische Leistungen ausgezeichnete Grünen-Politiker liefert ein erbärmliches Beispiel dafür ab, wie man es vermeidet, unter keinen Umständen eindeutig Stellung zu beziehen. Cohn-Bendit beschränkt sich darauf, die rassistischen Äußerungen Sarrazins zu relativieren und den von ihm verwendeten Elitenbegriff nicht nur auf sogenannte Leistungsträger anzuwenden, sondern auch auf Menschen, die wie etwa Krankenschwestern beruflich viel leisten.

Damit nimmt er im Spektrum der Debatte, die um das in der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitung Lettre International veröffentlichte Interview entbrannt ist, zwar eine eher kritische Position ein, vermeidet jedoch tunlichst, den Kern des Affronts beim Namen zu nennen. So werden die gegen Türken und Araber gerichteten Verunglimpfungen Sarrazins durchaus kontrovers diskutiert, gibt es doch nicht wenige Kommentatoren, die vertreten, so etwas müsse unter dem Primat der Meinungsfreiheit gesagt werden dürfen. Es sind in der Regel dieselben Personen und Zeitungen, die etwa beim Streit um die Mohammedkarikaturen einem liberalen Absolutismus frönten, dem keinerlei Gültigkeit mehr zukommt, wenn das Objekt der Bezichtigung, wie etwa im Fall eines Artikels über mutmaßlichen Organraub israelischer Soldaten in den Palästinensergebieten, nicht zu den ad hoc verwerflichen Gruppen und Ideologien gehört.

Der zu Recht als rassistisch identifizierte Tenor des umfangreichen Sarrazin-Interviews ist der dort eingeschlagenen Stoßrichtung eines nationalliberalen Sozialrassismus jedoch lediglich vorgelagert. So könnte sich der SPD-Politiker gegen den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit verwahren, indem er sich darauf beruft, die diversen Migrantengruppen unterschiedlich zu beurteilen. Grundlage seiner Bewertung ist die Frage des Nutzens, den die einzelnen in Deutschland lebenden Ausländer seiner Ansicht nach für die bundesrepublikanische Gesellschaft haben. Dieser ist in erster Linie ökonomisch bestimmt, und zwar aus der Sicht eines Politikers, der sich keineswegs dem von ihn angestellten Vergleich aussetzt und den Nutzen seiner Lebensleistung ins Verhältnis zu dem dabei erhaltenen Salär setzt. Sarrazin sieht sich als deutscher Bourgeois wie selbstverständlich in der Position, andere Menschen, und zwar nicht nur Ausländer, den Kriterien seiner utilitaristischen Logik zu unterwerfen und damit über ihr Wohl und Wehe zu befinden.

Dem Leitthema des Lettre-Hefts "Berlin auf der Couch - Autoren und Künstler zu 20 Jahren Mauerfall" gemäß erklärt Sarrazin in dem Interview, das unter dem programmatischen Titel "Klasse statt Masse" veröffentlicht wurde, die Bundeshauptstadt zu einer Metropole der Eliten, in der seiner Ansicht nach unproduktive Menschen nichts zu suchen hätten:

"Die Stadt hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen."

Sarrazins Laufbahn als Mitglied des öffentlichen Dienstes gibt Aufschluß darüber, daß er zeitlebens an den Schalthebeln einer Verteilungsbürokratie saß, die seine Zugehörigkeit zu nämlichem "produktiven Kreislauf" auch ganz anders auslegbar macht. Als Mitarbeiter der Treuhandanstalt und Chef der Treuhandliegenschaftsgesellschaft verscherbelte er das Volksvermögen der DDR zu Lasten der Menschen, die es erarbeitet haben, als Berliner Finanzsenator machte er mit mehreren Dutzend Nebentätigkeiten in diversen Aufsichtsräten als, mit Verlaub gesagt, Made im Speck von sich reden. Wenn er diese Produktivität zum Merkmal einer Zugehörigkeit erklärt, deren negative Definition im Ausschluß von Menschen besteht, die es nicht wie er zu Wohlstand und Einfluß gebracht haben, wenn er mit dem Begriff des "Auswachsens" eugenische Praktiken biologischer Selektion oder andere Zwangsmaßnahmen wie die Vertreibung der unnützen Esser durch Entzug ihrer Sozialleistungen - "Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht" - zur Lösung des Problems einer angeblich zu großen Armutsbevölkerung Berlins nahelegt, dann erweist er sich als Sozialrassist reinsten Wassers.

Das von Sarrazin ausgemachte Problem, "daß vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden", daß sich die von ihm als besonders integrationsunwillig ausgemachten Türken und Araber angeblich der Waffe der Demografie bedienen, um Deutschland zu "erobern", ist ein eliminatorischer Angriff nicht nur auf Menschen bestimmter ethnischer Herkunft, sondern auf alle, die der SPD-Politiker implizit eines parasitären Verhaltens bezichtigt. Das von ihm vorexerzierte Klassendenken verabschiedet sich sogar von der neoliberalen Doktrin einer leistungsorientierten Chancengleichheit, um vom Gleichheitsgebot des Grundgesetzes nicht zu reden, wenn es heißt: "Man muß davon ausgehen, daß menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich."

Die Verkürzung der Debatte um das Sarrazin-Interview auf einen ethnisch definierten Rassismus unterschlägt die Gefahr, daß der von ihm gepredigte Sozialrassismus durch die Hintertür der in den sogenannten Life Sciences vorangetriebenen biologistischen Determination des Menschen hegemonial wird. Ein Blick auf Internet-Foren, in denen Sarrazin von zahlreichen Gleichgesinnten als ein Held bejubelt wird, der endlich einmal ausspricht, was viele denken, verrät, daß sein sozialdarwinistischer Entwurf einer von Leistungseliten und Kapitalmacht beherrschten Gesellschaft in der schwarzgelben Republik durchaus Schule machen kann. Erforderlich ist radikale Kritik an einem Menschenbild, das auf vulgärmaterialistische Weise auf den Nenner einer erbbiologisch bedingten Klassenzugehörigkeit gebracht wird, an einem Gesellschaftssystem, in dem das Primat der Ökonomie zum entscheidenden Kriterium der Privilegierung und Sanktionierung des einzelnen Menschen durch die ihn bedingende staatliche Verfügungsgewalt erhoben wird.

7. Oktober 2009