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RAUB/0942: Hartz IV-Debatte ... soziale Ausgrenzung als Königsweg zur Gerechtigkeit (SB)



Die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Regelsätzen angestoßene Debatte dreht sich nicht um die Frage der sozialen Gerechtigkeit, sie zielt auf die Antwort der sozialen Ausgrenzung. Die ihr zugrundeliegende Bezichtigung, "unproduktive" Bürger erhöben zu große Ansprüche an den Sozialstaat und unterminierten damit die Attraktivität geringbezahlter Lohnarbeit, mündet in klassische Stigmata rassistischer Art. Der "Leistungsverweigerer" liegt auf der faulen Haut und nötigt den Erwerbstätigen dazu, anhand der in Bild aufgeworfenen Frage "Bin ich dumm, wenn ich noch arbeiten gehe?" und der gleich darauf gegebenen Antwort "Jetzt ist es amtlich: Arbeiten lohnt sich nicht mehr!" den Sozialneid zu kultivieren. Der Leistungsempfänger thront auf den Schultern des "Leistungsträgers", die Einkommenspyramide steht Kopf und droht am Gewicht der "Ballastexistenzen", wie man "asoziale" Elemente im eugenischen NS-Jargon nannte, einzustürzen.

Da kann es nicht ausbleiben, daß die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, die höhere Quote von Hartz IV-Beziehern unter Bürgern mit Migrantenhintergrund beklagt und CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach nach Sanktionen gegen Ausländer verlangt, die Sprach- oder Integrationskurse abbrechen oder verweigern. Der Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, sekundiert, indem er die Anprangerung dieser "Fehlentwicklung" in seiner Zeitung zu einem Akt der Zivilcourage erhebt, falle ihre "Erörterung aus Angst, noch ganz andere Ressentiments zu wecken", doch besonders schwer. Die Gründe, die Migrantenfamilien vor das Problem stellen, in der Bundesrepublik ein normales Erwerbseinkommen zu beziehen, werden fast ausschließlich in ihrer angeblich ungenügenden Integrationsbereitschaft verortet. Daß diese Gruppe, wenn sie schon durch eine fremdenfeindliche Ressentiments schürende Sozialstatistik als solche ausgewiesen wird, es auch aufgrund des Rassismus sogenannter Herkunftsdeutscher schwer hat, daß ihre Erwerbslosigkeit ein Problem des Kapitalverhältnisses ist und nach Solidarität zwischen allen Lohnarbeitern verlangt, soll in dieser Debatte keineswegs zur Sprache kommen. Auch die Tatsache, daß die von der Bundesrepublik im Rahmen einer nationalistischen Zuwanderungspolitik ins Land geholten "Spätaussiedler" die mit Abstand höchste Quote von Leistungsbeziehern aufweisen, wird in Anbetracht der vorherrschenden Antipathie gegen Muslime nicht eben an die große Glocke gehängt.

Die gegen Migranten in Stellung gebrachte Bezichtigung hat nichts mit der Höhe der Regelsätze zu tun, aber alles mit dem Bedarf an einem Feindbild, mit Hilfe dessen sich die desolate Situation einkommensarmer Bundesbürger herrschaftsförmig kanalisieren läßt. Wo Thilo Sarrazin "unproduktiven" Araber und Türken ganz unverhohlen unterstellt, sich mit einer hohen Geburtenquote zu Lasten der "Herkunftsdeutschen" breit zu machen, da wird in den Regierungsparteien nachgelegt, indem der Verteilungskonflikt ethnisch überdeterminiert wird. Um Kritik an ihrer sozialrassistischen Demagogie vorzugreifen verklären sich deren Urheber als von politischer Korrektheit verfolgte Unschuld, um die Verunglimpfung von Langzeiterwerbslosen und Migranten desto unbeirrter zu einem Akt bürgerlicher Befreiung aufzuwerten.

Die am Hochkochen sozialrassistischer Ressentiments maßgeblich beteiligte Springerpresse macht keinen Hehl daraus, daß Westerwelle und Konsorten ganz absichtlich zündeln, um die Ordnung des Oben und Unten unumkehrbar zu machen. So hält die Die Welt (20.02.2010) Guido Westerwelle zugute: "Eine gehörige Portion Populismus erfüllt ihren Zweck in einem politischen Kosmos, der die nötige Temperatur oft nicht erreicht, weil die gesamte Kraft dafür verbraucht wird, alles auszubalancieren." Das Programm, die soziale Spaltung der Gesellschaft gegen die davon am meisten Betroffenen ins Feld zu führen, erhält die Weihen einer Wahrheit, die man nur zum Schaden Deutschlands verschweigt. Das unterscheidet einen Westerwelle von einem "Populisten vom Schlage Lafontaines" - dem FDP-Chef fehle der "zerstörerische Impuls", da er ein "konstruktiver Politiker" sei und doch darunter zu leiden habe, "der Ungeliebte, der die Wahrheit ausspricht", zu sein.

20. Februar 2010