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RAUB/0996: Administrativer Zugriff auf Organe stellt Lebensrecht in Frage (SB)



Dem Mangel an Spenderorganen für die Transplantationsmedizin soll künftig mit einer sogenannten Entscheidungslösung im wahrsten Sinne des Wortes zu Leibe gerückt werden. Für diese machen sich führende Politiker in CDU und SPD wie Unions-Fraktionschef Volker Kauder und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach stark. Ihrer Vorstellung nach soll künftig jeder Bürger etwa bei der Ausstellung des Führerscheins oder anderer Personaldokumente angeben, ob er nach seinem Tod Organe spenden will oder nicht [1]. Nach der bisherigen Sprachregelung soll die Beantwortung dieser Frage freiwillig sein. Für diejenigen Bürger, die sich zu Lebzeiten weder positiv noch negativ zu einer Organspende geäußert haben, müßte die bisherige Gesetzeslage gelten. Absehbar ist dennoch, daß die Freiwilligkeit dieser Lösung lediglich die Vorstufe zu einer obligatorischen Angabe sein wird. Da eine größere Verfügbarkeit von Organen die Schwelle zu ihrer Nutzung senkt und die Fortschritte der Transplantationsmedizin weitere Anwendungsbereiche erschließen, wird der vermeintliche Sachzwang ungenügender Organernte auch in Zukunft seine Gültigkeit behalten.

Bayerns Gesundheitsminister, der CSU-Politiker Markus Söder, will sich gar nicht erst mit solchen Halbheiten aufhalten und fordert die Umwandlung der bisher gültigen Zustimmungslösung in die sogenannte Widerspruchslösung [2]. In diesem Fall gingen die Explanteure beim Fehlen eines zu Lebzeiten eingelegten Widerspruchs davon aus, daß die Organentnahme rechtens ist. Die bereits in Österreich, Portugal, Polen, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn und der Slowakei gültige Widerspruchslösung eröffnet den Explanteuren den bislang direktesten Zugriff auf die Organe von Menschen, von denen lediglich eine Minderheit darüber aufgeklärt sein dürfte, was ihnen bei dieser Praxis blühen kann.

So ist keineswegs allgemein bekannt, daß tot längst nicht mehr gleich tot ist. Mit dem Entnahmekriterium des Hirntodes wurde die bis dato gültige Feststellung des Todes anhand der zentralen Merkmale des Stillstandes der Atmung und des Herzens aufgegeben und durch die Definition ersetzt, daß der Mensch auch schon anhand der "irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms" [3] für tot erklärt werden kann. Der durch künstliche Beatmung in seinen Vitalfunktionen aufrechterhaltene Körper wirkt daher wie der eines Schlafenden. Er ist warm, durchblutet und zu Spontanbewegungen in der Lage, denen angeblich keine Absicht des "Toten" zugrunde liegt [4].

Diese Behauptung ist der Annahme geschuldet, daß im Gehirn als Sitz des Bewußtseins das Leben des Menschen angesiedelt sei. Wenn das sogenannte Vegetativum in seinen Lebensentäußerungen fortfährt, weil der Ausfall zentralnervöser Steuerfunktionen künstlich ersetzt wird, dann sei der belebte Körper eben so etwas wie ein leeres Gefäß. Problematisch ist dieses zweckrationale Postulat der medizinischen Anthropologie nicht nur im Falle irreversibel hirngeschädigter Unfallopfer. Es bringt auch Komapatienten in die gefährliche Nähe einer Aufkündigung ihres Lebensrechts. Darüberhinaus relativiert die von Bioethikern wie Peter Singer vollzogene Unterscheidung zwischen "Mensch" und "Person" die Unteilbarkeit des menschlichen Lebensrechtes um ein weiteres [5].

Dem unaufhaltsam erscheinenden Marsch in die Enteignung des Körpers durch eine Ratio des Fremdnützigen, für die im Falle der Transplantationsmedizin mit der Zahl dadurch zu rettender Leben geworben wird, steht krasse medizinische Unterversorgung in großen Teilen der Welt gegenüber. Die mit den für die Entwicklung der HighTech-Medizin eingesetzten und für die Privilegien einer nur privat zu bezahlenden Elitenmedizin aufgebrachten Mittel verhülfen einer ungleich größeren Zahl von Menschen zu einem längeren Leben, wenn diese nur in den Genuß von Basisleistungen der medizinischen Versorgung gelangte. Die Haltlosigkeit des moralischen Drucks, mit dem der Zugriff der Explanteure durchgesetzt werden soll, zeigt sich nicht nur im globalen Vergleich. Auch die immer weiter voranschreitende Einführung einer Zweiklassenmedizin in der Bundesrepublik belegt den sozialen Charakter der Mittelverteilung im Gesundheitswesen.

Wesentlich für die Versuche, die rechtlichen Hürden zur Organentnahme zu senken, ist darüberhinaus eine medizinische Innovationsdynamik, die in der Substitution von Organen einen regelrechten Zukunftsentwurf für Überlebensoptionen aller Art erkennt. Je besser die Technik der Transplantation und die Pharmazie der Immunsuppression funktioniert, desto weiter werden die Lebenshorizonte einer durch Ersatzorgane zu erwirtschaftenden Langlebigkeit. In Anbetracht der anwachsenden Gefahren, durch nicht mehr einzudämmende ökologische Risiken und Pandemien aller Art zu erkranken, birgt die Transplantationsmedizin das Versprechen auf eine biomedizinische Kontrolle des Lebens, die seine Fortsetzung auch unter erheblich verschlechterten Umweltbedingungen sichert.

Selbstverständlich wird sich das Verhältnis, das schon heute dafür sorgt, daß eine Minderheit der Menschen in den Genuß hochwertiger Überlebenstechnologien gelangt, während die große Mehrheit dem auf ihrem Rücken ausgetragenen Raubbau anheimfällt, dabei zuungunsten letzterer verschärfen. Wie in den literarischen und cineastischen Dystopien, in denen die Kompensation katastrophaler Entwicklungen bei der Ressourcensicherung oder Seuchenbekämpfung einen kannibalistischen Verlauf nimmt, besteht die höchst reale, im internationalen Organhandel bereits realisierte Gefahr, daß Entscheidungen über Leben und Tod, über Nutzen und Schaden des Organtransfers anhand sozialökonomischer und administrativer Kriterien getroffen werden.

Ohne die umfassende Aufklärung über die mit der Hirntoddefinition einhergehenden Unwägbarkeiten, ohne eine breite gesellschaftliche Debatte über die bioethischen Normierungen eines utilitaristischen Menschenbildes, das einem die Bevölkerung weitgehend in Unkenntnis belassenden Interesse der Life Sciences zuarbeitet, stellt jede weitere Begünstigung der Transplantationsmedizin mindestens so sehr einen Angriff auf die Lebensinteressen davon Betroffener dar, als sie die Lebensinteressen der davon profitierenden Kranken repräsentiert.

Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/inland/organspende110.html

[2] http://www.focus.de/politik/deutschland/transplantationsgesetz-soeder-will-organspende-zur-regel-machen_aid_638211.html

[3] http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.45.3252#Def

[4] Ausführlich zur Hirntodproblematik und ihrer Bedeutung für die Transplantationsmedizin siehe:
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0010.html
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0013.html
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0021.html
BERICHT/027: "Die Untoten" - Transplantationsmystik - Wenigstens meine Organe sollen überleben... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0027.html
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkri0004.html


[5] KULTUR/0888: Neue Akzeptanz für Sozialeugenik schaffen ... Ethik-Preis für Peter Singer (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0888.html


27. Juni 2006