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RAUB/1005: Rebellion gegen die Misere des chilenischen Bildungssystems (SB)



Als der Ökonom Milton Friedman im November 2006 zu Grabe getragen wurde, rühmte George W. Bush ihn als einen "revolutionären Denker und außergewöhnlichen Wirtschaftswissenschaftler, dessen Lebenswerk die Würde und Freiheit des Menschen" gefördert habe. Margaret Thatcher würdigte ihn als "intellektuellen Freiheitskämpfer". Die New York Times charakterisierte ihn als "Giganten der Ökonomie", für den die Kritik am Experiment Chile nicht mehr als ein einzelnes Schlagloch auf der Straße gewesen sei.

Der chilenische Diktator Augusto Pinochet hatte Milton Friedman und dessen "Chicago Boys" 1975 ins Land gerufen, um die Wirtschaft einer radikalen Privatisierung und Deregulierung zu unterziehen. Ziel dieses Schulterschlusses im Dienst der Herrschaftssicherung war es, Macht und Profite der Eliten zu sichern und zu mehren, indem man den Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung systematisch senkte und deren Einflußmöglichkeiten drastisch beschnitt. So wurden die Steuern auf hohe Einkommen und Unternehmensgewinne gesenkt, der Mindestlohn abgeschafft, die Rechte der Gewerkschaften eingeschränkt sowie nicht zuletzt Staatsbetriebe, Bankwesen, Altersversorgung und Bildungssystem privatisiert.

Die marktwirtschaftliche Doktrin erfüllte ihren Zweck, forcierte sie doch die angestrebte Akkumulation von Reichtum der Eliten zu Lasten wachsender Teile der Bevölkerung, deren Verelendung die Substanz des angeblichen chilenischen Wirtschaftswunders bereitstellte, das nicht nur Ronald Reagan in den höchsten Tönen als beispielhaftes Modell lobte. Während 1970 etwa 20 Prozent der Chilenen in Armut lebten, waren es 1990 am Ende der Juntazeit 40 Prozent, wobei die Reallöhne im selben Zeitraum um mehr als 40 Prozent sanken. So hatte die Diktatur dafür gesorgt, daß die Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum in Händen weniger deutlich zunahm.

Die Bedeutung des chilenischen Modells als Experimentierfeld einer ökonomischen Trendwende, die mit der Verantwortung des Staates für einen gewissen Standard an Sozialleistungen und dem Ansatz einer Kaufkraftsteigerung gründlich aufräumte, reichte weit über die Region hinaus. In den Vereinigten Staaten setzte die Reagan-Administration die Doktrin brachial um und brach dabei nicht zuletzt den Einfluß der Gewerkschaften. In Großbritannien verkündete Margaret Thatcher, daß es zu dem neoliberalen Ansatz keine Alternative gebe, und bald folgten die Europäer und Australier mit Privatisierung, Deregulierung und der Demontage möglicher Widerstandspotentiale.

Die Misere des chilenischen Bildungssystems, an der sich der aktuelle Protest der Schüler und Studenten entzündet, nahm seit Ende der 1970er Jahre ihren Lauf. Damals wälzte die Junta die Verantwortung für das Schulwesen auf die Gemeinden ab, was insbesondere die finanzschwachen Städte vor gravierende Probleme stellte. In den 1980er Jahren führte die Regierung großzügige Subventionen für Privatschulen ein, um den Sektor für private Investoren aufzuwerten. Festgeschrieben wurde die Ausrichtung des chilenischen Bildungssystems auf die Privatwirtschaft schließlich durch ein Bildungsgesetz, das am 10. März 1990, dem letzten Tag der Diktatur, verabschiedet wurde. Heute zeichnet sich die Bildungslandschaft durch einen leistungsfähigen, aber teuren und für die breite Mehrheit nicht zugänglichen Privatsektor aus. Hinzu kommt ein staatlich bezuschußter halbprivater Bereich sowie ein völlig unterfinanzierter öffentlicher Sektor, der von den Gemeinden betrieben wird. [1]

Chile weist das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Lateinamerika, doch zugleich eine der extremsten Polarisierungen von Reichtum und Armut in dieser Weltregion auf. Die hohe Quote von 1,1 Millionen Studenten an chilenischen Universitäten in einem Land von rund 17 Millionen Einwohnern ist erkauft mit einer nicht selten horrenden Verschuldung zahlloser Familien, deren Kindern andernfalls der Zugang zu besserer Bildung verwehrt wäre. Die Rebellion der Schüler und Studenten, die seit Monaten mit Massendemonstrationen von bis zu 100.000 Teilnehmern und einer Vielfalt von Aktionsformen bis hin zum Hungerstreik für ein kostenloses Bildungswesen kämpfen, läßt sich nicht mit halbherzigen Reformen abspeisen. Sie zielt tendentiell auf den Kern gesellschaftlicher Verhältnisse und wird daher von staatstragenden Kräften mit immer repressiveren Zwangsmaßnahmen bedroht.

Nach einer ersten Welle heftiger Proteste von mehr als einer Million Schüler im Jahr 2006 ersetzte die sozialdemokratische Präsidentin Michelle Bachelet das Bildungsgesetz aus der Diktaturzeit durch ein Reformwerk, das jedoch den grundlegenden Charakter des Systems unberührt ließ. Seither steht die Forderung nach kostenlosem und offenem Zugang zu Schulen und Universitäten auf der Tagesordnung der Schüler- und Studentenbewegung. Sebastián Piñera, der im vergangenen Jahr inaugurierte erste rechtsgerichtete Staatschef seit der Juntazeit, ist sich des innewohnenden Sprengstoffs einer rebellierenden Jugend durchaus bewußt. Als seine eilends angekündigten Reformen jedoch ausblieben, formierte sich Ende April eine erneute Woge um sich greifenden Protests, der vom chilenischen Lehrerverband unterstützt wurde und Zustimmung in weiten Teilen der Bevölkerung fand. Die erhobenen Forderungen reichen von einem staatlichen Bildungsministerium, das die Qualität und Finanzierung des gesamten Schul- und Hochschulsystems sicherstellt, bis hin zu einer Verfassungsänderung, die kostenlose und hochwertige Bildung von der Vorschule bis zum Universitätsabschluß als Rechtsanspruch für alle Bürger festschreibt. [2]

Im Zuge ihres Kampfes besetzten die AktivistInnen Dutzende Bildungseinrichtungen, legten Hunderte weitere vorübergehend lahm und trugen ihren Protest immer wieder auf die Straße. Dort wurden sie von Polizeikräften empfangen, die mit Wasserwerfern, Tränengas und Massenverhaftungen die harte Hand staatlicher Ordnung durchzusetzen trachteten. Demonstranten errichteten Barrikaden, die sie in Brand setzten, während das ganze Land gebannt die Eskalation verfolgte. Wie große Sympathien die Bewegung in den ärmeren Teilen und damit der Mehrheit der Bevölkerung genießt unterstrich das rasch um sich greifende Trommeln auf Töpfen und Pfannen, die in lateinamerikanischen Ländern seit der Diktaturzeit weithin bekannte Praxis, dem Aufbegehren gegen Willkür und Repression lautstark Ausdruck zu verleihen.

Die Schüler und Lehrer zeigen sich fest entschlossen, den Fehler von 2006 nicht zu wiederholen, als "die Pinguine" - so benannt nach den blau-weiß-gestreiften Krawatten mancher Schuluniformen - mit ihrer Forderung nach weitreichenden Reformen gescheitert waren. Was die Sozialdemokratin Bachelet damals konsensumwickelt einzudämmen verstand, reizt den Konservativen Piñera, der anfangs Reformbereitschaft vorhielt, um dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen, Farbe zu bekennen. Das "Große Nationale Bildungsabkommen" schrumpft zusehends zu einem Paket eingeschränkter Zugeständnisse zusammen, denn Bildung, so unterstreicht der Präsident, bleibe stets ein "Konsumgut" und eine "Investition". Eine Abkehr vom Vorzug privater Trägerschaft gegenüber öffentlichen Schulen und Universitäten werde es mit ihm nicht geben.

Da die Protestierenden kosmetische Angebote strikt zurückweisen, auf ihren Forderungen beharren und zu deren Durchsetzung in die Offensive gehen, setzt Piñera auf eine Innenpolitik der harten Hand. Alles habe seine Grenze, droht er nun der Rebellion verschärfte Zwangsmaßnahmen an. Unter Berufung auf Gesetze aus der Ära Pinochet werden Kundgebungen verboten und dennoch Demonstrierende von der Militärpolizei gewaltsam zerstreut, durch die Straßen gejagt oder festgenommen. Die Zahl der teils schwer verletzten AktivistInnen steigt. Scharfe Kritik am Vorgehen der chilenischen Polizei übte das Kinderhilfswerk UNICEF, daß sich in einer Stellungnahme besorgt über "den übermäßigen Einsatz von Gewalt gegen Jugendliche und Kinder" zeigt. Chile verstoße damit gegen die UN-Kinderrechtskonvention, die das Land 1990 unterschrieben habe. [3]

Indessen ist die Bewegung nicht nur weitreichender in ihren Forderungen und fester in der Bevölkerung verankert als vor fünf Jahren, sondern auch deutlich radikaler in ihrer gesellschaftspolitischen Positionierung. Nachdem die Generation ihrer Eltern die Nachjuntazeit politisch apathisch über sich ergehen ließ und sich in den Fortbestand der alten Ordnung in demokratischem Gewand fügte, konfrontiert die Jugend unverhofft Regierung und Wirtschaftseliten mit ihrem Aufbegehren, das sich nicht nur gegen das Bildungssystem, sondern auch die niedrigen Löhne, die ausgedünnten Sozialleistungen, die Energiepolitik oder das Verkehrswesen richtet. Und nicht zuletzt stellt sie ihre Kritik in einen Zusammenhang mit den Umwälzungen in den arabischen Ländern und den aufbrechenden Sozialkämpfen in anderen Weltregionen. Das könnte Konsequenzen haben, die nicht nur Präsident Piñera und den chilenischen Eliten schlaflose Nächte bereiten.

Fußnoten:

[1] http://www.jungewelt.de/2011/07-26/004.php

[2] http://www.nytimes.com/2011/08/05/world/americas/05chile.html

[3] http://www.jungewelt.de/2011/08-06/065.php

10. August 2011