Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1039: Deutschland ... eine Insel der Seligen? (SB)




Ein Plus der Sozialversicherung von 11,6 Milliarden Euro, eine positive Steuerbilanz des Staates im letzten Halbjahr von 0,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts und der in diesem Jahr voraussichtlich höchste Leistungsbilanzüberschuß gegenüber den Abnehmern deutscher Waren und Dienstleistungen weltweit - die Bundesrepublik erscheint als Insel der Seligen inmitten einer mit Krisen und Katastrophen geschlagenen Welt. Erfolgsmeldungen dieser Art nähren die Hoffnung, als Bürger eines im globalen Produktivitätswettbewerb zur Weltspitze gehörenden Staates Schutz vor Not und Mangel zu genießen. Das Wissen darum, lediglich aufgrund des biologischen Zufalls, über diese spezielle Staatsbürgerschaft zu verfügen, privilegiert zu sein, wird um so bereitwilliger in den Glauben umgemünzt, sich dieses Geburtsrecht auf irgendeine Weise verdient zu haben, als es anderen Gesellschaften immer schlechter geht.

Anders wäre kaum zu erklären, daß der durch den Euro bedingte Zusammenhang zwischen der Stärke der deutschen Exportpolitik und dem Niedergang südeuropäischer Volkswirtschaften fast ausschließlich in Richtung der Bezichtigung interpretiert wird, letztere hätten nicht genug für ihre Wettbewerbsfähigkeit getan. Der ökonomische Erfolg des Standorts Deutschland sei wesentlich den notwendigen Reformen am Arbeitsmarkt geschuldet, die durchzusetzen die Regierungen Griechenlands, Spaniens, Portugals und Italiens nicht bereit gewesen wären. Dies wird ihnen nun durch Sparauflagen aufgenötigt, wobei die Weigerung, den Forderungen der größten Regierungen der EU wie der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF stattzugeben, den volkswirtschaftlichen Untergang fast zwingend zur Folge hätte.

Bestenfalls wird hierzulande darüber gestritten, ob man weiterhin "gutes Geld" in ein schwarzes Loch werfen solle, wenn damit doch immer nur der bloße Aufschub des haushaltspolitischen Zusammenbruchs zu erreichen sei, oder ob man den Euro durch neue Kredite an überschuldete Staaten retten sollte, um die dominante Position des deutschen Kapitals abzusichern. Die Frage, was den Bundesbürger die griechische Familie, die nach Auslaufen der ein Jahr lang gewährten Arbeitslosenhilfe bar jeglichen Einkommens mit Hunger und Obdachlosigkeit konfrontiert ist, angehen sollte, wird damit beantwortet, daß sie ihm ein warnendes Beispiel für das sein soll, was ihm selber droht, wenn er seinen im wesentlichen aus Verzicht bestehenden Beitrag zu dieser Art nationalen Wirtschaftens nicht mehr entrichten möchte.

Dankbar für Hartz IV und Niedriglohnjob, schlechte Tarifabschlüsse ebenso duldsam hinnehmend wie Werkverträge und Leiharbeit wird europapolitischen Entscheidungen, mit denen die Vormachtstellung Deutschlands ausgebaut wird, in vorauseilendem Gehorsam zugestimmt. Das Krisenmanagement der Bundesregierung baut auf die Bereitschaft der Bevölkerung, sich mit diesem Staat zu identifizieren und dies gegen die Interessen anderer zu wenden. Daß sich Menschen vom Munde absparen, was als Staatseinnahme positiv zu Buche schlägt, daß sie die Erfolgsbilanzen der Exportwirtschaft nähren, indem sie als Steuerzahler die Refinanzierung der daraus resultierenden Defizite in anderen Ländern absichern, daß sie sich für die nationale Ressourcensicherung als Söldner verdingen, wird als Preis dieser Teilhaberschaft selbstredend in Anspruch genommen.

So besteht die Stärke des Wirtschaftsstandorts Deutschland weniger im Erhalt seiner industriellen Schlagkraft, in der Innovationsfähigkeit seiner Ingenieure, in seiner gut ausgebauten Verkehrsinfrastruktur, in den Steuervergünstigungen für sogenannte Leistungsträger und Großkonzerne oder der Deregulierung des Arbeitsmarktes. All dies sind mittelbare Folgen der Einbindung der Bevölkerung in die Politik eines nationalen Wettbewerbstaates, zu dessen Erfolg es nicht darauf ankommen soll, wie und zu welchen Bedingungen dies geschieht. Die kaum vorhandene Bereitschaft all derjenigen, deren schmaler werdende Sozialtransfers die Staatskasse aufbessern und deren Unterwerfung unter den Primat- der Anpassungs- und Leistungsbereitschaft im Job den Lohnkostenanteil in Fabrikarbeit und Dienstleistungsjob niedrig hält, für das eigene Interesse an einem angemessenen Lebensunterhalt auf die Barrikaden zu gehen oder sich mit leidgeprüften Menschen in anderen Staaten und Kontinenten solidarisch zu zeigen sind das zentrale Vermögen eines Staates, der als Sachwalter der auf seinem Territorium angesiedelten und von seinen Eliten repräsentierten Kapitalmacht agiert.

Warum geht die Bedeutung der Bevölkerung als zentrale Produktivkraft eines Landes bestenfalls als "Humanressource" in die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen der Manager und Ökonomen ein? Weil ihr Einverständnis, bloßes Rad im Getriebe der Kapitalverwertung zu sein, stillschweigend vorausgesetzt wird. Nicht danach zu fragen, wieso man ein System am Laufen hält, dessen überbordende Prosperität Not und Mangel andernorts nicht nur voraussetzt, sondern produziert, nimmt die sozialdarwinistische Antwort vorweg. Über diesen Zusammenhang nichts mitzuteilen ist die beste Voraussetzung dafür, daß Nationalstolz an die Stelle einer Kritik tritt, die, wenn sie den zentralen gesellschaftlichen Konflikt nicht explodieren ließe, zumindest für die massenhafte Aufkündigung dieses Nutznießes sorgen könnte.

Die aus dieser Teilhaberschaft an einem Gemeinwesen, dem Erwerbslose und Lohnabhängige dem Konzept der human ressources gemäß bloßer Brennstoff sind, geborene Verkennung herrschender Gewaltverhältnisse arbeitet einer Strategie der Spaltung zu, die die vermeintlich privilegierte Bevölkerung des europäischen Zentrums zum prospektiven Opfer der gleichen Verzichtsdoktrin macht, die in ihrem Namen gegen die Bevölkerungen der südeuropäischen Peripherie gerichtet wird. Die zum zehnjährigen Jubiläum vielgelobten Hartz-Reformen wurden zum Vorbild für andere Staaten der Eurozone erklärt, um die damit geschaffenen Verwertungsmöglichkeiten über die Bundesrepublik hinaus zu verallgemeinern. Mit der dadurch geschaffenen Konkurrenz lassen sich Arbeiter und Angestellte noch besser als bisher europaweit gegeneinander ausspielen, was den Kostensenkungsdruck auf in Deutschland lebende Lohnabhängige weiter steigert.

Mit diesem Produktivitätswettbewerb wird nicht bezweckt, das angebliche Erfolgsmodell Deutschland gegen sich selbst zu kehren, indem andere Volkswirtschaften zu Lasten hiesiger Kapitalinteressen wettbewerbsfähiger gemacht werden. Die Verfügbarkeit der Arbeit soll generell maximiert werden zu Lasten derjenigen, die sie verrichten. Ihnen wird ohne jedes bestimmbare Ziel, an dem der Druck ein Ende hat und die Rentabilität der Arbeit ein sicheres und gutes Auskommen ermöglicht, vorgeworfen, zu teuer, zu anspruchsvoll, zu unflexibel und zu immobil zu sein. Es handelt sich um eine Roßkur in Permanenz, die längst nicht mehr der neoliberalen Suggestion bedarf, daß schlußendlich alle vom erreichten Wirtschaftswachstum profitierten. Sie geht mit der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge in den angeblich nicht leistungsfähigen Ländern einher, um die Ergebnisse der ihnen verordneten Austeritätspolitik denjenigen Investoren zugutekommen zu lassen, die sich die feilgebotenen Staatsbetriebe und maroden Unternehmen zu Billigpreisen einverleiben.

Deutschland ist keine Insel der Seligen, wie die aktuellen Erfolgsmeldungen verheißen, sondern Labor und Generator einer Kapitalakkumulation, die den Menschen selbst zu einer in nämlichem Sinne zu verheizenden Ware macht. Diese soll sich, um die Suggestion einer längst an den fiktiven Horizonten der "Märkte" vergangenen Wertbestimmung zu retten, zu billigsten Bedingungen reproduzieren. Aus jedem Rahmen gefallen, in dem sich Geld noch in Beziehung zu allgemeinem menschlichen Nutzen setzen ließe, wird der Homo oeconomicus auf die Überlegung reduziert, wie er seinen Anspruch auf Teilhaberschaft untermauern kann, um nicht in jenem Elend zu vergehen, das ihm angedroht wird. Daß dieses Verhältnis Nationalismus und Rassismus, Aggression und Krieg gebiert, leugnen all diejenigen, die meinen, auf der gewinnbringenden Seite des Raubes zu stehen.

23. August 2012