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RAUB/1054: Lance Armstrong - In Aufstieg und Fall Ikone der Ausbeutung bis ins Mark (SB)




Ob zum Übermenschen verklärt oder als Dopingsünder verteufelt - Lance Armstrong verkörpert wie kaum eine andere Ikone der spätkapitalistischen Gesellschaft die restlose Ausbeutung und Zurichtung des Menschen bis ins Mark seiner Physis und die Schemen seiner Identität. Was immer man an dieser personifizierten Überantwortung an die Fremdbestimmung verteidigen oder verurteilen mag, gleicht einem flüchtigen Wellenschlag auf dem Meer unterschiedsloser Verwertung. So ist es müßig, in seinem Fall nach Täter- und Opferschaft zu sortieren, verschmelzen diese doch unauflösbar in der Gemengelage höchster Vorteilsnahme und tiefster Beteiligung. Wer oder was dieser Mensch sei, nähme allenfalls dann Kontur an, ließe er auch nur einen Funken widerständigen Geistes gegen die herrschenden Verhältnisse erkennen, die er im vermeintlichen Sieg zu kontrollieren glaubte, bis sie ihn vom Helden zum Delinquenten degradierten. Nichts anderes gilt für das Millionenheer seiner Apologeten oder Pseudokritiker, die sich im Abglanz seines Ruhms zu wärmen, an seinem Vorbild Hoffnung zu schöpfen oder in seiner Demaskierung Befriedigung zu finden glaubten. Nichts von alledem hat Substanz und befördert ihre eigenen Lebensverhältnisse, die vom Grundsatz her zu bestreiten ihnen so wenig einfiele wie dem weltberühmtesten Radfahrer.

Daß Armstrong allen vorausgefahren ist und es zu beträchtlichem Ansehen und Wohlstand gebracht hat, erweist sich unter dem Strich als befristeter Sonderfall in der Textur der Verfügung, glamourös zwar, doch desto weniger geeignet, deren Fesseln zu sprengen. Mach es wie Armstrong, hieß die Devise, die ihn zeitweise reich und seine zahllosen Anhänger handhabbarer denn je gemacht hat. Quäl dich wie er, verlange dir selbst das Äußerste ab, dann winkt auch dir der Sieg selbst über Krankheit und Tod, denn du allein bist deines Glückes Schmied. Radfahrer in aller Welt, ob im wörtlichen oder übertragenen Sinn - was genau besehen kaum einen Unterschied macht -, strampelten sich nach seinem Vorbild ab, als trieben sie dabei nicht die Ausweglosigkeit ihres Arbeitslebens auf die selbstgewählte Spitze.

Ruf nicht nach der Gesellschaft, wenn dich der Arbeitsstreß zermürbt, der Lohn hinten und vorn nicht reicht, wenn du vor die Tür gesetzt und auf Hartz IV abgeschoben, wenn du krank und gebrechlich wirst. Lebe gesund, stähle den Körper und richte entschlossen den Blick nach vorn oder noch besser auf ein Poster von Lance Armstrong, das noch vor kurzem in tausenden Wartezimmern, Reha-Zentren und Klinikfluren hing. Jetzt werden sie wohl rasch abgenommen und auf den Müll geworfen werden, schließlich will sich niemand mit einem Erzbetrüger gemein machen. Die Untertanen jubeln, wenn der König gekrönt und wenn ihm der Kopf abgeschlagen wird - so bleiben sie, was sie sind: Zuschauer und Konsumenten, Konkurrenten und Neider, abzuspeisen nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse.

Nichts geht verloren, wenn das Idol ausgedient hat, Krokodilstränen fließen, Empörung gemimt wird. Hochmut kommt eben doch vor dem Fall, auch große Diebe läßt man nicht immer laufen, und nicht einmal Lance Armstrong steht über dem Gesetz. Das ist eine schöne Botschaft für das Volk, die den Verlust des Podestheroen allemal wettmachen dürfte. Und sollte diese Moral zu altbacken anmuten, kann man sich in die Dopingfrage verbeißen, die uns reflexauslösend vorgeworfen wird wie der Knochen dem Hund. So läßt sich wunderbar lamentieren, ob man von nichts gewußt, immer schon so etwas geahnt habe, den Skandal bestürzend oder im Gegenteil aufklärend finde.

Wie absurd und gezielt irreführend in einer von extremen Unterschieden geprägten Klassengesellschaft das gleiche Voraussetzungen und faire Bedingungen unterstellende Dopingkonstrukt ist, geht im pausenlosen Getöse der Bezichtigung, Hetzjagd und Überführung der Täter unter. Welcher Türöffner wäre besser geeignet als dieser, die vollständige Überwachung, unangemeldete Kontrolle, Aushebelung jeglicher Privatsphäre und erzwungene Entnahme von Körperflüssigkeiten so selbstverständlich zu machen, daß jede Verweigerung mit einem Betrugsversuch gleichgesetzt wird? Welche Gerichtsbarkeit wäre illegitimer, anmaßender und selbstgerechter - kurz auswegloser für ihre Opfer - wie die der Dopingjäger, welche Umkehrung der Beweislast akzeptierter als jene auf dem Feld des Sports?

Wenn Lance Armstrong zu Recht argumentiert, ohne verbotene Hilfsmittel sei die geforderte sportliche Leistung unmöglich zu erbringen, geschieht dies im Kontext so hohen Drucks von Kindesbeinen an, daß die Einnahme diverser Substanzen in Freizeit, Schule, Ausbildung und Universität wie auch an zahllosen Arbeitsplätzen längst zur Normalität geworden ist. Ob notgedrungen eingeworfen oder als Erweiterung persönlicher Potentiale mißdeutet, ist das, was man im weitesten Sinn als künstliche Steigerung der eigenen Fähigkeiten auslegen könnte, in dieser Gesellschaft längst ein Alltagsphänomen. Was jeweils legalisiert, geduldet oder sanktioniert wird, hängt von einem wechselnden Zusammenspiel diverser Faktoren ab, da Staatsräson und Ökonomie einander mitunter zu widersprechen scheinen.

Auch das gehört zur Lebensleistung des inzwischen auf Normalmaß geschrumpften Lance Armstrong, daß er über Jahre Unmengen verschiedenster Substanzen eingeworfen oder injiziert hat, um sein körperliches Vermögen zu perfektionieren und sich in ein Sport- und Medienphänomen zu verwandeln, das weltweit Milliardenumsätze generierte. Dieser Radfahrer hat viele reich gemacht, die Bürgermoral gehoben, neue Standards der Selbstverantwortung für was auch immer gesetzt. Als Mensch mag er stürzen und verschwinden, doch die von ihm angeschobene Verwertung und Verfügung bleibt.

19. Januar 2013