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RAUB/1065: Massenprotest in Brasilien - Risse im Paradies (SB)




Die größten Massenproteste seit dem Ende der Militärdiktatur in zahlreichen brasilianischen Städten zeugen von aufbrechenden Widerspruchslagen im Vorzeigeprojekt vorgeblich erfolgreichen Klassenkompromisses. Ursprünglicher Auslöser des rasch um sich greifenden Protests war eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr, deren längst erfolgte Rücknahme die sozialen Unruhen nicht beschwichtigen konnte. In Rio de Janeiro, Sao Paulo und Dutzenden anderen Städten fordern Hunderttausende Demonstranten mehr Investitionen in Bildung und Gesundheit wie sie auch ihrer Wut Ausdruck verleihen, daß auf ihre Kosten Milliarden für sportliche Prestigeobjekte verschleudert werden. Der enormen Mobilisierung dieser Bewegung versucht die Polizei mit repressiven Mitteln wie Tränengas, Blendgranaten, Gummigeschossen, Schlagstöcken und berittenen Einheiten Herr zu werden. In offenbar von außen gesteuerten Aktionen werden linke Demonstranten und Gewerkschaftler unter Parolen wie "Keine Parteien!" gewaltsam aus den Kundgebungen vertrieben. Zugleich hofft die Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei, das Aufbegehren einzudämmen, indem sie Verständnis und Zustimmung vortäuscht: Die Erwartungen seien gestiegen, weil man das Land verändert habe. Die Bürger forderten mehr und hätten ein Recht darauf.

In einer Mischung aus politischem Ausbremsen, Spaltungsversuchen und offener Repression will man dem Protest Zügel anlegen, bevor er die Schwelle zu Sozialkämpfen erreicht, die den Kitt der sorgsam ausgesteuerten Herrschaftsverhältnisse zu lockern beginnen. Die für gebannt erklärte Wirtschaftskrise hat auch Brasilien erreicht. Die vormals stolze Wachstumsrate ist unter ein Prozent gesunken, die industrielle Produktion ist rückläufig, die Verbraucherausgaben sinken, bei der Mehrheit der Bevölkerung steigt die Schuldenlast. Ausbleibende Lohnerhöhungen, Entlassungen, steigende Kosten für Grundnahrungsmittel, der überteuerte und marode Nahverkehr und fehlende berufliche Perspektiven belasten zunehmend auch die Mittelschicht. [1]

Die Tageszeitung Folha de Sao Paulo faßte das Entsetzen des Establishments angesichts die Protestwelle in folgendem Satz zusammen: "Alles ging so gut, und plötzlich haben wir hier Zustände wie auf dem Tahrir-Platz, ohne Vorwarnung und Vorentwicklung." [2] Der "Lulaismus" als sozialdemokratischer Gegenentwurf zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" unter Führung des verstorbenen Hugo Chávez, als Befriedung aufbegehrender Interessen in ganz Lateinamerika und nicht zuletzt als Bannerträger ewigen Wachstums der kapitalistischen Verwertung in Zeiten weltweiter Krise stößt an seine Grenzen.

Die Dauerpropaganda der Regierung, Brasilien sei auf dem Weg zur Weltmacht mit einer der stärksten Ökonomien überhaupt, steht in direktem Widerspruch zu den realen Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung. Das wachsende Unverhältnis von öffentlichem Diskurs und sozialer Wirklichkeit dürfte einer der wichtigsten Gründe für den explosiven Charakter massenhafter Proteste in den letzten Wochen sein. Brasilien gilt weltweit als das Land mit der größten sozialen Ungleichheit, woran auch die Reformpolitik der Arbeiterpartei mit ihrem Wirtschaftswachstum, einer tendentiellen Reduzierung der Armut und der Befeuerung des Binnenkonsums nichts geändert hat. [3]

Die ökonomische Führungsmacht Südamerikas hat vor allem von den hohen Weltmarktpreisen für Nahrungsmittel und andere Rohstoffe wie auch den engen Wirtschaftsbeziehungen zu China profitiert, die den Export beflügelten. Mit hohen Zinsen und einer Privatisierungswelle holte man ausländisches Kapital ins Land und befeuerte einen kreditgetriebenen Boom, der wie in allen anderen kapitalistischen Ländern nun auch in Brasilien zu platzen droht. Die privaten Haushalte sind heute so verschuldet wie noch nie, was bei ausbleibendem Wachstum gravierende Kriseneffekte zeitigt. Zugleich ist die Kluft zwischen Arm und Reich unablässig gewachsen.

Die seit 2002 regierende Arbeiterpartei genießt die Unterstützung der Gewerkschaften, was unter anderem dazu führte, daß 90 Prozent aller Kollektivvertragsabschlüsse unter der Inflationsrate erfolgten, ohne daß es nennenswerten Widerstand gegeben hätte oder die Privatisierungspolitik und Pensionsreform entschieden zurückgewiesen worden wäre. Nun schlägt die Abschwächung der chinesischen Ökonomie auf Brasilien zurück, bringen die Kürzungen im Bildungswesen, im Gesundheitssektor und bei anderen öffentlichen Dienstleistungen immer mehr Menschen in Bedrängnis. Gleichzeitig verschlingen sportliche Großprojekte Milliarden, wobei die FIFA der brasilianischen Regierung drakonische Bedingungen im Zusammenhang mit diesen Bauprojekten wie etwa die Beschränkung des Streik- und Demonstrationsrechts auferlegt. Sportminister Aldo Rebelo erklärte rigoros, man werde keine Proteste dulden, die die Spiele des Confederations Cup stören. Es werde unmöglich sein, in der um das Maracana-Stadion in Rio errichteten Sperrzone zu demonstrieren: "Es gibt Menschen, die diese Ereignisse ausnutzen wollen, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen."

Nach tagelangem Aussitzen der Protestwelle ist Präsidentin Dilma Rousseff in die Offensive gegangen, um mit gewissen Zugeständnissen und Versprechen dem Aufbegehren den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit dem Schreckensszenario bürgerkriegsähnlicher Unruhen im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro vor Augen schlägt sie eine Volksabstimmung über die Einberufung einer außerordentlichen Verfassungsversammlung zur Beratung einer Politikreform vor, berät mit Gouverneuren und Bürgermeistern Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Dienste und will umgerechnet 16 Milliarden Euro in den Personennahverkehr investieren. Auch sollen mehr Stellen im Gesundheitssystem geschaffen und Ärzte aus Kuba zur besseren Betreuung ärmerer Bevölkerungsschichten engagiert werden. Zudem wiederholte Rousseff ihr Versprechen, die gesamten Einnahmen aus Ölförderlizenzen in das Bildungswesen zu investieren. [4]

Daß diese flexible Herangehensweise der von der Arbeiterpartei getragenen Präsidentschaft ausreichen wird, die Krisenfolgen zu bändigen, muß bezweifelt werden. Das vielgepriesene Erfolgsmodell Brasilien, das viele zu den weltweit zukunftsfähigsten Entwürfen eines aufstrebenden Schwellenlands zählten, läßt tiefe Risse erkennen. Lange hatte man ihm zugute gehalten, die extremen inneren Widersprüche des Landes gezügelt, ja die Koexistenz von Armut und Reichtum auf Grundlage einer beiderseits nutzbringenden Strategie der Versöhnung und Bündelung aller Kräfte möglich zu machen.

Wie kein anderer hatte es Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva verstanden, allen Widerspruch gegen die herrschenden Verhältnisse zugunsten einer erfolgreichen Positionierung im parlamentarischen System zu entsorgen. Auf dem langen Marsch durch die Institutionen warf er jeglichen Ballast ab, der ihm den Einzug in die Sphäre nationaler Eliten verwehrt hätte. Was ihn wie die gesamte neue brasilianische Politikergeneration auszeichnete, war die Befähigung, Widerstände zu befrieden, Gegenkräfte einzubinden und einen inspirierenden nationalen Mythos zu generieren, der die horrende soziale Kluft dauerhaft zu brücken schien. US-Präsident Barack Obama bezeichnete ihn als den "populärsten Politiker auf Erden" und das "Time"-Magazin erklärte ihn zur "einflußreichsten Person weltweit". Wie die "Financial Times" anerkennend schrieb, habe Lulas Präsidentschaft "Brasiliens Umarmung des Kapitalismus und der Globalisierung" auf den Weg gebracht. Seine Regierung galt als vertrauenswürdige Garantie, das Rad kapitalistischer Verwertung allen Unkenrufen zum Trotz weiterzudrehen und dem globalisierten Raubzug in finsterster Nacht den Weg zu leuchten.

Solange die Profite der Banken in den Himmel schossen, Konzerne wie Brasil Foods, Petrobas, das Bergbauunternehmen Vale do Rio Doce oder der Flugzeugbauer Embraer in die Weltspitze ihrer Branchen aufstiegen, sich die Zahl der Milliardäre Jahr für Jahr verdoppelte, war auch Geld für die Wohlfahrtsprogramme da, die nach Version der Regierung 25 Millionen Menschen aus bitterer Armut in die Mittelklasse gehoben haben. Bald erklärte man dieses Modell in ausdrücklicher Abkehr von allen Ansätzen grundlegender gesellschaftlicher Umgestaltung zum Königsweg der weltweiten Armutsbekämpfung. Wie sich nun in aller Deutlichkeit zeigt, bleibt jedes Wohlfahrtssystem ein Lehen, das den Empfängern Almosen gewährt oder entzieht, ohne an den bestehenden Besitzverhältnissen und Einflußmöglichkeiten zu rühren. Floriert die Wirtschaft, mag etwas für die Armen abfallen und sie in das paternalistische Gefüge einbinden. Wird die Kasse knapp, sind sie die ersten, die den Gürtel bis an die Grenze ihrer schieren Existenz enger schnallen müssen. Der "Lulaismus" wurde hofiert, weil er die Frage, zu wessen Lasten die neuen Reichtümer erwirtschaftet werden, vollständig ausblendete. Verständlicherweise setzt die brasilianische Führung alles daran, die aktuelle Protestbewegung einzuhegen, bevor sie vom Baum solcher Erkenntnis gegessen und sich aus dem Paradies verabschiedet hat.

Fußnoten:

[1] http://www.wsws.org/de/articles/2013/06/25/bras-j25.html

[2] http://www.wsws.org/de/articles/2013/06/22/bras-j22.html

[3] www.marxist.com/brasilien-massen-revolte-scheitern-des-reformismus-und-rechtsextreme-ubergriffe.htm

[4] http://www.jungewelt.de/2013/06-26/058.php

30. Juni 2013