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RAUB/1080: Die Teilung der Welt über den Tod hinaus (SB)



Es wird Halbmast geflaggt, der Staat trägt Trauer. Präsident und Bundeskanzlerin ringen um die angemessenen Worte, um das Ausmaß der Katastrophe zu umschreiben. Millionen Menschen fühlen mit den Angehörigen, die Medienmaschine rotiert einmal mehr um den Absturz des Germanwings-Fluges 9525 in den französischen Alpen am 24. März. Der 150 Menschen, die dabei starben, wird im Kölner Dom in einem Staatsakt gedacht. Zum zweiten Mal nach der dreitägigen Staatstrauer im direkten Anschluß an die Flugzeugkatastrophe wird in der ganzen Bundesrepublik Halbmast geflaggt, zum zweiten Mal treten Bundespräsident und Bundeskanzlerin an, um den Toten Reverenz zu erweisen. Schon kurz nach dem Absturz der Verkehrsmaschine reisten die Spitzen der deutschen, französischen und spanischen Politik persönlich zum Unglücksort, nun stehen sie wieder scheinbar fassungslos vor dem Geschehen.

Was für die Angehörigen der Opfer ein Trost sein mag oder auch nicht, dient Zwecken einer staatstragenden Symbolpolitik, die mit den betroffenen Menschen so wenig zu tun hat, wie auf der anderen Seite bekräftigt wird, daß es genau darum gehe. Da die Funktionseliten in Staat und Gesellschaft nicht über ihren Schatten springen und den vermeintlichen Sachzwängen der Staatsschuld, des Geldverkehrs und der Verwertungslogik den Kampf ansagen wollen, bleiben ihnen nur Ersatzhandlungen. Diese affektiv mit menschlichem Leid zu besetzen und die Unfaßbarkeit des individuellen Schicksals zu beschwören täuscht darüber hinweg, daß die wesentlichen gesellschaftlichen Konflikte an ganz anderen Fronten ausgetragen werden.

Sehr deutlich wird dies, wenn die Frage aufkommt, wieso nicht auf annähernd vergleichbare Weise der bis zu 400 Menschen, die am 12. April im Mittelmeer ertranken, gedacht wird. Deren namenloses Schicksal wird zwar pauschal bedauert, findet im massenmedialen Aufmerksamkeitsbetrieb jedoch kaum mehr Beachtung als den einer Fußnote der Berichterstattung über die durch Krieg und Krisen bedingten Migrationsbewegungen. Allein zum Thema zu machen, daß die EU-Innenminister sich weigern, einen Seenotrettungsdienst für derartige Fälle einzurichten [1], übersteigt das vorgebliche Interesse daran, Menschen unabhängig von Nationalität und Herkunft in lebensbedrohlichen Situationen zu Hilfe zu eilen.

Wo die jüngste Katastrophe der Verkehrsluftfahrt in Europa das Ergebnis eines individuellen Todeswunsches zu sein scheint und dementsprechend schicksalsergeben kommentiert wird, bleibt der massenhafte Tod auf den Fluchtstrecken zur Festung Europa Folge eines globalen sozialen Krieges, der sich am meisten gegen diejenigen Menschen richtet, die nicht einmal mehr als billige Arbeitskräfte gebraucht werden [2]. Daß dieser sich in der EU-europäischen Peripherie Nordafrikas wie des Nahen und Mittleren Ostens zu konkreter militärischer Kriegführung verdichtet, ist von der neokolonialen Politik der EU-Staaten in der Region nicht zu trennen. Die zuletzt ertrunkenen Menschen, unter denen sich zahlreiche Kinder und Jugendliche befanden, wurden in dem Trümmerfeld, daß der NATO-Krieg in Libyen hinterlassen hat, in einem solchen Ausmaß Opfer von Mißhandlungen und Verfolgung, daß der von den EU-Innenministern durch die aktive Aussetzung jeglicher humanitären Nothilfe auf hoher See intendierte Abschreckungseffekt nur als zynische Steigerung der Preisgabe dieser Menschen an zerstörerische Gewalten verstanden werden kann.

Allein einzugestehen, daß es sich um einen solchen handelt, liegt außerhalb der analytischen Reichweite der meisten in die Sicherung der Festung Europa integrierten Medien. Dabei böte die Erkenntnis, daß diese Menschen nicht hätten sterben müssen, weil ihr Tod nicht durch einen suizidalen Piloten bewirkt wurde, praktische Handhabe für weitergehende Forderungen an den Umgang mit Flüchtlingen. Dieser hat jedoch den Charakter eines institutionell komplex strukturierten und territorial weit ausgreifenden Selektionssystems angenommen, dessen Trennschärfe die sozialen Antagonismen in der Union wie in ihrem Verhältnis zu den Ländern des Südens adäquat vollzieht. Weithin verkannt wird der universale Charakter eines "Migrationsmanagements", dessen Kontrollprozeduren und Erfassungsroutinen Herrschaftstechniken antizipieren, deren Anwendung sich nicht auf die Teilung der Welt in Metropolengesellschaften hoher ökonomischer Produktivität und Kapitalkonzentration auf der einen und verelendete Regionen der Rohstoffausbeutung und Substistenzökonomie auf der anderen Seite beschränkt. Die Transnationalisierung globaler Wertschöpfung betrifft nicht nur, wie die derzeit diskutierten Freihandelsabkommen belegen, die bloße Deregulierung ordnungspolitischer und exekutiver Kompetenzen, sondern verlagert diese in noch unerreichbarere Instanzen administrativer Intervention, während staatsbürgerliche Garantien wie etwa der Schutz vor Auslieferung und unrechtmäßiger Verfolgung im gleichen Atemzug ausgehöhlt werden.

"Die Klassenschranken im Globalismus verlaufen an der Linie der Mobilität", hat der Migrationsforscher Eberhard Jungfer in einem 2009 veröffentlichten Text unter Verweis auf die weltumspannende Bewegungsfreiheit der Eliten und die sich vor politisch Verfolgten und mittellosen Migranten und Migrantinnen auftürmenden Grenzbefestigungen festgestellt. Die Wanderungsbewegungen, die im Mittelmeer unter Inkaufnahme massenhaften Ertrinkens gestoppt werden sollen, resultieren nicht nur aus der andauernden Proletarisierung einer Landbevölkerung, deren Subsistenz durch die agrarindustrielle Bewirtschaftung ihrer Flächen zerstört wird. "Ein weiterer Grund ist die Inanspruchnahme weiter Territorien als 'Areas of vital interest' - also als Räume der Großprojekte, der Ölförderung, der Rohstoffgewinnung, als Bio-Reservate oder als Räume von strategischer Bedeutung, aus denen die Bevölkerungen durch Inszenierung von Stammeskonflikten, Hungerkatastrophen oder durch Militäreinsätze vertrieben werden." [3]

Mag der individuelle Schmerz, von Not und Tod betroffen zu sein, auch unteilbar sein, so könnten doch in der sozioökonomischen Realität des kapitalistischen Weltsystems die Unterschiede der Mobilität nicht größer sein. Wer im Mittelmeer auf der Flucht vor Hunger und Krieg elendiglich ersäuft, tritt selbst als Gruppe im Wortsinn ausgegrenzter und überflüssig gemachter Menschen kaum mehr in Erscheinung. Wer hingegen die in ihrer globalen Reichweite privilegierte Mobilität der westlichen Metropolengesellschaften in Anspruch und dabei Schaden nimmt, muß nicht Schlimmeres als diese Flüchtlinge erleiden, um ungleich größeren Mitgefühls und möglicherweise rechtsgestützter Entschädigung teilhaftig zu werden. So bleiben die Klassenschranken über den Tod hinaus erhalten. Nicht die Frage danach, wie gerecht die Teilung der Welt vonstatten geht, ist von Belang, sondern der Widerstand dagegen, daß sie überhaupt geteilt und verwertet werden kann.


Fußnoten:

[1] Erneut 400 Tote: Das Sterben an den EU-Grenzen nimmt dramatisch zu
http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/weitere_400_bootsfluechtlinge_sind_tot_das_sterben_an_den_eu_grenzen_nimmt_dramatisch_zu-1/

[2] RAUB/1073: Wo die Ohnmacht am größten ist ... Lampedusa ist überall (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1073.html

[3] Eberhard Jungfer - Migrationen im Sozialen Weltkrieg
http://www.materialien.org/texte/migration/JungferWeltkrieg.pdf

17. April 2015


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