Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1093: Tierausbeutung fängt nicht in Schlachtfabriken an (SB)



Über mangelnde Beachtung in den Medien kann sich die Tierrechtsorganisation Animal Rights Watch (ARIWA) dieses Mal nicht beklagen. Nachdem das ARD-Magazin Panorama über ihre umfassende, zwei Jahre währende Recherche in zwölf Mast- und Tierzuchtbetrieben berichtet hat, wurden die in diesen Ställen aufgedeckten Zustände von zahlreichen Presseorganen und Sendern aufgegriffen. Die in den Berichten zu sehenden Schreckenszenarios sind nicht unbekannt, bilden sie doch ein alltägliches Geschehen ab, das die anwachsenden Proteste gegen Massentierhaltung schon seit längerem befeuert. So hermetisch Mastbetriebe und Schlachtfabriken von der Öffentlichkeit abgeschottet sein mögen, so ist doch inzwischen den meisten Menschen bewußt, daß die niedrigen Preise für Fleisch, Eier und Milch in direktem Zusammenhang zu einer Form von Tierausbeutung stehen, die in ihrer Grausamkeit deutlich über das traditionelle Verhältnis des Menschen zum sogenannten Nutz- oder Schlachtvieh hinausgeht.

Daß die Bilder auf groteske Weise verunstalteter, verendender, erschlagener, zu Produktionsmitteln und Waren degradierter Tiere dennoch ihre Wirkung nicht verfehlen, spricht für die Virulenz eines Konfliktes, der den Menschen auf ganz körperliche, zwischen dem Hunger leiblicher Reproduktion wie dem Ekel vor den Verbrauchs- und Verfallsprozessen der Physis changierende Weise erfaßt. Einmal abgesehen von den zu allem entschlossenen Draufgängern, die ihre Männlichkeit dadurch unter Beweis zu stellen trachten, daß sie angesichts dieser Leiden demonstrativ nach einer Wurst oder einem Steak rufen, sind die meisten Menschen durchaus ansprechbar für das elende Dasein der "Mitgeschöpfe". Es nach Möglichkeit zu lindern, ohne zugleich auf den Konsum tierischer Produkte verzichten zu müssen, bringt denn auch eine Form von organisiertem "Tierschutz" hervor, der in der von Bauern- und Wirtschaftsverbänden getragenen "Initiative Tierwohl" von den Produzenten selbst propagiert wird. So besteht die große Brisanz der ARIWA-Kampagne darin, daß die untersuchten Betriebe offensichtlich eigens in Hinsicht auf ihre Betreiber oder Gesellschafter ausgesucht wurden, zu denen einige hochrangige Mitglieder der Tierindustrielobby gehören.

Tierausbeutung ethisch zu bemänteln ist nicht nur ein platter PR-Trick, wie man angesichts des Nebeneinanders pekuniärer Motive und tierfreundlicher Bekenntnisse meinen könnte. Wie in vielen Bereichen gesellschaftlicher Widerspruchsregulation nutzt sich die spontane Empörung über wahrgenommene Mißstände bei der Frage danach, wie weit man persönlich gehen möchte, um gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Demütigung und Unterdrückung zu kämpfen, schnell ab, wenn die eigene soziale Existenz dadurch bedroht sein könnte. So viel Bewunderung dem Kampf zahlloser legendärer wie unbekannt gebliebener Sozialrevolutionäre auch gezollt werden mag, der praktische Schritt, es ihnen gleichzutun, wird eher selten vollzogen.

Der scheinbare Widerspruch, daß sich eine mehrheitlich von Tierfreunden gebildete Gesellschaft eine monströse Form industrieller Tierausbeutung leistet, läßt sich auf dem gemeinsamen Nenner einer individuellen Beteiligung an diesem Gewaltverhältnis, das mit einem positiv verstandenen Naturbegriff letztbegründet wird, durchaus aufheben. Den Menschen als Tier zu begreifen, das sich diesem Gewaltverhältnis nicht einmal als bloßer Pflanzenesser vollständig entziehen kann, rührt an die Wurzeln eines humanistischen Selbstverständnisses, das auch in seiner posthumanistischen Entgegnung nicht dem Problem entkommt, zur Sicherung der materiellen Existenz und sozialen Reproduktion zerstören zu müssen.

Dementsprechend ist eine Tierliebe, die zugleich durch den Magen wie durch das Herz geht, kein so großes Kunststück, wie es der Anspruch auf moralische Kohärenz erscheinen läßt. Der vermeintliche Widerspruch entspringt einer idealistischen Kosmologie, deren Moralvorstellungen in ihrer anthropozentrischen Grundlegung wie Konsequenz unantastbar sein müssen, weil mit ihrer Aufkündigung mehr auf dem Spiel stände als nur der Verzicht auf den Konsum von Tierprodukten. Ein moralisches Anliegen ist stets verhandel- und im Zweifelsfall korrumpierbar, was eine streitbare Positionierung gegen die Ausbeutung von Tier wie Mensch zu einem Anliegen macht, das zu verwirklichen keiner Moral bedarf und mitunter erfordert, gegen die herrschende Moral zu verstoßen. Zeitgemäße Überlegungen unter Tierbefreierinnen und Tierbefreiern über die Intersektionalität, also wechselseitige Bedingtheit zwischen verschiedenen Gewaltverhältnissen, lassen etwas von der Totalität des Problems erkennen, mit dem es Menschen zu tun bekommen können, die in aller Unbescheidenheit wagen, vermeintlich eherne Grenzen aus Natur und Gesetz in Frage zu stellen.

Mit ihren sicherlich nicht ungefährlichen, da im Falle ihrer Entdeckung auch harsche Reaktionen provozierenden Enthüllungen haben die ARIWA-Aktivistinnen und -Aktivisten einer Debatte Zündstoff gegeben, die zu Fragen grundsätzlicher Art Anlaß gibt. So kann die Gewährleistung einer angemessenen Ernährung aller Menschen nicht nur mit einer pflanzenbasierten Alternative für die Bundesrepublik oder EU beantwortet werden, so erstrebenswert die von ARIWA vorgeschlagene Unterstützung des bioveganen Landbaus und die Streichung von Subventionen für Tierfabriken aller Art auch ist. Die von den hochproduktiven Staaten Nordamerikas, Europas und Ostasiens massiv durchgesetzte agroindustrielle Produktionsweise zerstört kleinbäuerliche Betriebe und verbliebene Subsistenzmöglicheiten in aller Welt. Wo Menschen notorisch mangelernährt sind, geht es erst einmal um ihr Überleben. Der Zusammenhang von industrieller Tierausbeutung, ökologischer Zerstörung, Landraub und Welthunger ist auch den kapitalistischen Verwertungsbedingungen in der Bundesrepublik und EU geschuldet. Die Gewalt des gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisses zu überwinden bedarf mithin einer politischen Analyse- und Kritikfähigkeit, der mit der Vorstellung, bei massenhafter Tierausbeutung gehe es lediglich um Profitinteressen, keinesfalls Genüge getan ist.

23. September 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang