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RAUB/1138: Elektronische Gesundheitskarte - durch die Schulter ins Herz ... (SB)



Die elektronische Gesundheitskarte ist tot - es lebe die elektronische Gesundheitskarte? Sie sollte der Schlüssel zur digitalen Gesundheitswelt werden, doch nach vierzehn Jahren Planung und mehr als 1,2 Milliarden Euro Kosten schien das informationstechnologische Großprojekt endgültig gescheitert zu sein. Die Geschichte der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) ist seit dem Jahr 2003 eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen. Sicherheitsprobleme verzögerten die Einführung, weil die Kartenlesegeräte in den Praxen und Krankenhäusern über Datenfunknetze angegriffen und die Versichertendaten ausgespäht werden konnten. Dann wieder klappte der Netzanschluß für die Praxen einfach nicht. In wieder anderen Fällen waren Programmierfehler für die fehlende Praxistauglichkeit der Karte verantwortlich. [1] Und mit diesen Beispielen, die sich zu einer langen Kette immer neuer Mängel ergänzen ließen, sind nur die immanenten Unzulänglichkeiten und unbewältigten Probleme der technischen Umsetzung genannt, nicht jedoch fundierte kritische Einwände gegen dieses System als solches.

Immer wieder wurde ein völliger Neustart des Projekts Gesundheitskarte gefordert, so auch auf dem 121. Deutschen Ärztetag Anfang Mai in Erfurt. Dieser forderte mit großer Mehrheit die Aussetzung der dysfunktionalen Telematikinfrastruktur wegen technischer und organisatorischer Mängel sowie offener Datenschutzfragen. Wie es zur Begründung hieß, beklagten schon angeschlossene Praxen Systemausfälle und Behinderungen der Abläufe. Es sei absehbar, daß die Industrie bis Ende 2018 weder eine zuverlässige Funktionsfähigkeit gewährleisten könne noch alle Teilnehmer angeschlossen würden. Die Finanzierung sei nicht gesichert, eine Praxistauglichkeit im Echtbetrieb nicht ausreichend nachgewiesen. Außerdem gebe es erhebliche Zweifel, ob die aktuelle Konzeption mit der am 25. Mai 2018 in Kraft tretenden EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGV) konform gehe. [2]

Schon zuvor hatte der neue Gesundheitsminister Jens Spahn die Zukunft der elektronischen Gesundheitskarte in Frage gestellt. Er werde in den nächsten Monaten genau analysieren,"wo wir stehen bei der elektronischen Gesundheitskarte und der Digitalisierung des Gesundheitssystems" und neue Vorschläge machen. Wenige Tage später bekam er Rückendeckung von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Sie habe Spahn "freie Hand" bei der Suche nach Lösungen gegeben. Dazu gehöre auch, das "Experiment mit der Gesundheitskarte" zu beenden.

So nachvollziehbar der Wunsch nach einer Entsorgung der ewigen Baustelle und einem Neubeginn war, fiel er doch in eine Zeit, da die telematische Infrastruktur des Gesundheitswesens installiert wird und sich die "Leistungserbringer" (Ärzte, Zahnärzte, Physiotherapeuten und Kliniken) mit sogenannten "Konnektoren" anschließen. Die Vorgängerregierung hatte auf Biegen und Brechen diesen "Online-Rollout" beschlossen und im Verweigerungsfall mit Sanktionen gedroht. [3] Nach wie vor ist die Compu Group Medical (CGM) einziger Anbieter von Konnektoren und Schnittstellen zu ihrer Software. Nach Angaben von CGM sind aktuell jedoch erst 25.000 von etwa 217.000 Arztpraxen angeschlossen. Erwartet wird, daß der Konnektor der Telekom im Juni die Zulassung erhält. Dessen ungeachtet gilt nach wie vor, daß ab dem dritten Quartal den Leistungserbringern, die sich noch keinen Kollektor zugelegt haben, die Installationspauschalen um bis 1200 Euro gekürzt werden. [4] Deswegen forderte der Ärztetag, die verpflichtende Anbindung zum Ende des Jahres 2018 auszusetzen und die Strafandrohung zurückzuziehen.

Zugleich wurde in Erfurt der Ruf nach einem zweiten E-Health-Gesetz samt der Anregung laut, das Smartphone in die Telematikstruktur der Gesundheitssparte einzubeziehen. "Wir wollen erreichen, dass die Versicherten jederzeit über eine App an ihre Patientendaten kommen", so die Vorsitzende des Kassenverbands, Doris Pfeffer. Jeder Versicherte müsse Herr über seine eigenen Daten sein und diese unkompliziert über seinen eigenen Computer oder sein Smartphone lesen können. Allerdings sei bisher nur die Karte als Authentifizierungsmittel für das digitale Netz zugelassen. Krankenkassen wie die Techniker oder die DAK fördern längst die Entwicklung von Gesundheits-Apps, und der Ersatzkassenverband erklärte, es sei richtig, beim Netzzugang neben Kartenlesegeräten über Varianten nachzudenken. Doch habe "der Schutz der sensiblen Gesundheitsdaten oberste Priorität".

In der Ärzteschaft mehren sich Stimmen, daß man "gerne vorneweg laufen würde", sofern man nur die Kompetenzen dafür erhielte. Andere warnen vor Übereifer und plädieren dafür, daß der laufende Ausbau der Netzinfrastruktur mit der Auslieferung der Konnektoren in jede Arztpraxis und Klinik fortgesetzt werden müsse. Sollte Spahn jedoch auch an deren Nutzen zweifeln, müßte das geltende Recht zügig abgeschafft werden, das die Ärzte verpflichtet, die teuren Verschlüsselungsgeräte anzuschaffen, und die Kassen, sie zu refinanzieren. [5]

Angesichts der drängenden Frage, ob das bislang verfolgte Vorhaben komplett zu Grabe getragen oder in Teilen erhalten, aber mit einer neuen Ausgestaltung forciert werden sollte, formierte sich eine Triade, die offenbar die Gelegenheit zum Befreiungsschlag witterte. Gesundheitsminister Jens Spahn, Digital-Staatsministerin Dorothee Bär und Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Bundesärztekammer, einigten sich auf die Stoßrichtung, keineswegs das gesamte System der Gesundheitskarte und der medizinischen Telematik-Infrastruktur zu zerschlagen, es aber "aufzubohren", so daß es smartphonetauglich wird. Was soll das bedeuten? Das naheliegende Unterfangen, den inzwischen antiquierten Zugang per Desktop und Lesegerät um einen Zugriff der Patienten auf ihre Daten mit Mobilendgeräten zu erweitern, soll nach dem Willen der drei Protagonisten zugleich den Gordischen Knoten der ungelösten Sicherheitsarchitektur mit einem Streich durchtrennen. "Aber wenn jemand sagt, ich möchte auch per Handy, auf dem Smartphone per App auf meine Daten zugreifen können, dann kann man sich auch möglicherweise für ein, zwei Standards niedriger entscheiden", so Spahn. Noch deutlicher wurde Montgomery: "In Deutschland wird mit dem Datenschutz übertrieben." Hier müßten pragmatische Lösungen gefunden werden.

Der Kunstgriff besteht also darin, die elektronische Gesundheitskarte als solche zu erhalten, einen akzeptanzfördernden Zugriff per Smartphone zu ermöglichen und die Sicherheitsstandards zu senken. Letzteres wäre schon deshalb erforderlich, weil die bisherigen App-Entwicklungen an der Telematikstruktur vorbeilaufen und sichere Schnittstellen zu schaffen gelinde gesagt eine massive Herausforderung darstellen würde. Dabei geht es Spahn nicht nur um die Rettung der eKG, die im Falle einer Einstellung des bislang betriebenen Projekts vollständig zu scheitern drohte und verbrannte Erde hinterließe. Er macht sich darüber hinaus für sogenannte "Bürgerportale" stark, bei denen gleichermaßen auf Krankheitsdaten, Steuererklärungen oder Verwaltungsvorgänge zugegriffen werden könne. Der Ansatz, über eine einzige digitale Authentifizierung Zugang zu allen staatlichen Leistungen zu ermöglichen, war hierzulande vor vierzehn Jahren im Gespräch, als der damalige Wirtschafts- und Sozialminister Wolfgang Clement im Rahmen der Hartz-IV-Debatte eine Chipkarte mit digitaler Unterschrift für alle Bürger einführen wollte. Die "Job-Card" verschwand jedoch wieder in der Schublade, da sie damals politisch nicht durchsetzbar erschien.

Da die strikte Trennung der medizinischen von anderen Behördendaten ein zentrales Sicherheitsmerkmal darstellt, stoßen die weitergehenden Überlegungen des Gesundheitsministers in der Ärzteschaft auf Skepsis. Diese befürchtet eine noch größere Komplexität, die zwangsläufig zu neuerlichen Verzögerungen führen würde. Hingegen denkt Spahn in umfassenderen politischen Zusammenhängen, wenn er das Projekt eines einzigen Schlüssels für alle Türen in Kartenform erneut ins Gespräch bringt. Er hat das Potential der eGK erfaßt, dort eine Bresche des Akzeptanzmanagements zu schlagen, wo die "Job-Card" allzu sehr nach Überwachung roch und Abwehrreflexe stimulierte. Dabei steht bei informationeller Selbstbestimmung im Gesundheitsbereich sogar noch mehr auf dem Spiel: Es geht um die intimsten körperlichen oder seelischen Schwächen wie auch die persönlichsten Lebenskonflikte eines Menschen, die er im Rahmen des ärztlichen Vertrauensverhältnisses geschützt wissen will.

Nur wenn die medizinischen Daten in den Händen der Patienten und der jeweils behandelnden Ärzte verbleiben, ist die Sicherheit der ärztlichen Schweigepflicht und damit eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung dauerhaft zu gewährleisten. Zudem wird die entufernde Bürokratisierung des Praxisbetriebs eingedämmt, so daß mehr Zeit für den eigentlichen Zweck des Arztbesuches bleibt. Und nicht zuletzt könnte dies dazu beitragen, der weiteren Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Funktionalisierung des Arztberufes zum Dienstleister der Krankenkassen und ausführenden Organ sozialökonomischer Maßregelungen Einhalt zu gebieten. Der "gläserne Patient" als Kunde in der Gesundheitswirtschaft, wie ihn das System der elektronischen Gesundheitskarte schafft, kann weder das Ziel einer im urtümlichen Sinne helfenden Medizin noch das eines Menschen sein, der auch und gerade in bedrängten Lebenslagen seine Würde und Selbstbestimmung nicht preisgeben möchte.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/neustart-nach-pleiten-pech-und-pannen-wiederbelebung-der.684.de.html

[2] http://www.bundesaerztekammer.de/aerztetag/121-deutscher-aerztetag-2018/beschlussprotokoll/

[3] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Analyse-eGK-Jens-Spahn-und-das-schwere-Erbe-des-Hermann-Groehe-4047085.html

[4] www.heise.de/newsticker/meldung/Elektronische-Gesundheitskarte-Aerzte-wollen-den-Reset-Knopf-druecken-4053610.html

[5] www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-elektronische-gesundheitskarte-steht-vor-dem-aus-15578934.html

29. Mai 2018


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