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RAUB/1145: Getreideanbau - eine Chance zum korrektiven Umdenken ... (SB)



Wetterbedingte Einbrüche bei der Getreideernte ... was in früheren Jahrhunderten sofort die Angst vor einer Hungersnot aufkommen ließ, wird heute als Problem der Zuständigkeit diskutiert. Betroffene Landwirte möchten staatliche Unterstützung erhalten, um den Verdienstausfall zu kompensieren. Es werden jedoch auch Gegenstimmen laut wie die des Bauernbundes Brandenburg. Diese Interessenvertretung vor allem kleiner Betriebe spricht sich gegen Dürrehilfen aus, weil diese den Wettbewerb verzerrten. "Sie retten risikofreudige Unternehmer, die sich aufgrund übermäßiger Investitionen in Schwierigkeiten befinden, und bestrafen damit alle Bauern, die sparsam und fleißig gewirtschaftet haben", so Bauernbund-Vorstand Jens Gerloff [1]. Die Konkurrenz der Freßfeinde beginnt nicht erst an den Fleischtöpfen, sondern wird selbst von denjenigen in Anspruch genommen, die gute Gründe hätten, die Produktion von Lebensmitteln als Grundlage einer solidarischen Gesellschaft zu begreifen.

Angebaut wird ein Handelsgut, das Marktdynamiken unterliegt, die wenig Rückschluß auf die elementare Frage der Ernährung zulassen. Vor dem Hintergrund internationaler Handelskriege, regionaler wetterbedingter Unterschiede bei den Ernteerträgen, höchst unterschiedlicher Produktivitätsniveaus zwischen kleinbäuerlicher Subsistenz und agroindustrieller Effizienz, einer ständig am Rande des Zusammenbruchs entlanglavierenden Geldwirtschaft und diverser nicht zur menschlichen Ernährung vorgesehener Verwendungszwecke für Getreide bildet sich ein komplexes Preissystem ab, in dem zum Beispiel zur gleichen Zeit Weizen teurer, aber Gerste billiger werden kann. Wurde in früheren Jahrhunderten bei außergewöhnlicher Dürre zuerst das Entstehen einer Hungersnot befürchtet, so müssen sich heute nur diejenigen Menschen mit dem Mangel an Nahrungsmitteln auseinandersetzen, die für die Kapitalakkumulation im Agrobusiness ausfallen, weil sie über keine zahlungsfähige Nachfrage verfügen. Sie hungern in guten und schlechten Zeiten, und natürlich sind sie als erstes von einer allgemeinen Verknappung betroffen, wenn diese Auswirkungen auf das Angebot staatlicher und karitativer Lebensmittelhilfen zeitigt.

Wie die Reservearmee der Arbeitslosen den Preis der Lohnarbeit nach unten drückt und die Lohnabhängigenklasse in Schach hält, so gewährleistet der Sockel von rund einer Milliarde Menschen, die in Ernährungsunsicherheit leben oder mit lebensbedrohlicher Konsequenz hungern, die preistreibende Wirkung der Verknappung einer elementaren Lebensressource. Daß dies allen Beschwörungen über das Gemeinsame der "Menschheit" zuwider gewollt ist, erschließt sich auch aus der Verwendung für die menschliche Ernährung tauglicher Getreidesorten zur Produktion von Agrosprit und Bioenergie. Nachwachsende Energierohstoffe müssen sich nicht negativ auf das Angebot an Nahrungsmitteln auswirken, wenn sie etwa auf Flächen angebaut werden, die für Ernährungszwecke ungeeignet sind, oder aus Abfällen bestehen, die beim Anbau und der Verarbeitung von Feldfrüchten übrigbleiben.

In der Praxis wandern allerdings große Mengen für Menschen verzehrbarer Landwirtschaftsprodukte in die Energieerzeugung, und selbst wenn es sich um für Ernährungszwecke untaugliche Pflanzen handelt, ist deren Anbau häufig mit Formen der indirekten Flächennutzung verbunden, mit der ansonsten für Nahrungsmittel taugliches Land zweckentfremdet wird. Ein erheblicher Teil der Ernteerträge an Getreide und Hülsenfrüchten wird in der Tiermast verwertet, bei der je nach Schlachttier ein mehr oder minder großer Bruchteil der kalorischen Ursprungsmenge für den menschlichen Verzehr übrigbleibt. Darüber hinaus werden bei der Erzeugung von Agrosprit und Bioenergie, von Fleisch, Milch und Eiern erhebliche Mengen von Süßwasser verbraucht, die ebenfalls für den primären Anbau pflanzlicher Nahrungsmittel ausfallen. Gleiches gilt für Düngemittel, Pflanzengifte, Treibstoffe für die Bewirtschaftung der Felder und den Transport der Agrarprodukte. Schließlich ist die Umlenkung von Feldfrüchten in diese Zwecke ökologisch kontraproduktiv, weil weit mehr klimaschädliche Treibhausgase freigesetzt werden, als wenn die originären Pflanzenprodukte ohne Umweg über andere Nutzungszwecke direkt verspeist würden.

Offensichtlich gibt es zahlreiche Gründe dafür, bei den aktuellen Ernteausfällen nicht daran zu denken, daß es sich bei Getreide um ein essentielles, nicht ohne weiteres zu ersetzendes Lebensmittel handelt. Es stellt sich schnell heraus, daß das Sattwerden aller Menschen kein Ziel ist, das ernsthaft verfolgt wird. Ganz im Gegenteil, die körperlich und gesundheitlich einschränkende Mangelernährung von Milliarden Menschen, die fast ausschließlich von Getreide oder Gemüse leben und sich freuen, wenn sie ihrem kargen Mahl ein paar eiweißhaltige Bohnen und etwas nahrhaftes Speiseöl hinzufügen können, erscheint geradezu als Schattenwurf der um die Finessen gesunder Ernährung kreisenden Philosophien, die in den Metropolengesellschaften des globalen Nordens ins Kraut schießen.

Von daher könnten die Ernteinbußen dieses Jahres zum Anlaß genommen werden, auf die prinzipielle Frage zurückzukommen, ob es nicht zuerst einmal darum geht, allen Menschen zu einer angemessenen Ernährung zu verhelfen, anstatt den Landwirten durch die monopolistischen Strukturen des Agrobusiness das Leben schwerzumachen und den sogenannten Verbrauchern einzureden, irgend etwas an ihrer Ernährung sei immer falsch und ungenügend. Das in seiner Produktpalette hochgradig ausdifferenzierte und zugleich industriell denaturierte Nahrungsmittelangebot in den wohlhabenden Gesellschaften Westeuropas trägt längst dazu bei, nicht nur die Lebensgrundlagen derjenigen Bevölkerungen zu zerstören, in denen transnationale Agromultis die Bedingungen der Landwirtschaft diktieren und kontrollieren, sondern auch jeden Gedanken an Ernährungssouveränität zu unterdrücken. Der kommt immer dann auf, wenn der Überdruß mit der herrschenden Konsumkultur, das Unbehagen angesichts des Leides sogenannter Nutztiere und der Ausbeutung von Lohnsklaven bei der Erzeugung des hiesigen Luxusangebotes andere Möglichkeiten der selbstbestimmten und weniger destruktiven Produktion von Nahrungsmitteln wie ihres Gebrauchs aufkommen läßt.


Fußnoten:

[1] http://www.maz-online.de/Brandenburg/Bauernbund-Brandenburg-ist-gegen-Duerrehilfen-fuer-Landwirte-nach-Trockenheit

14. August 2018


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