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RAUB/1154: Ankara - blutige Denkmäler ... (SB)



Wir werden nicht zulassen, dass die Baustelle zu einem Sklavencamp wird!
Bauarbeitergewerkschaft am neuen Flughafen Istanbuls [1]

"Türkiye büyüktür" (Die Türkei ist groß) - und die ganze Welt soll es wissen. Mit dieser Zauberformel und kraft seines autokratischen Präsidialregimes hofft Recep Tayyip Erdogan, sich mit gigantomanischen Megaprojekten als Monumenten seiner Macht zu verewigen, seine Landsleute auf nationalistischen Größenwahn einzuschwören und die Türkei bis 2023, hundert Jahre seit Gründung der Republik, in die Liga der weltweit zehn größten Wirtschaftsmächte zu katapultieren. In der Errichtung imposantester Bauwerke sieht er einen unabweislichen Schlüssel, die Ökonomie vom Feldherrnhügel aus zu befehligen, alle Widerstände mit harter Hand niederzuwerfen, gewachsene Urbanität im Dienst brachialster Modernisierung zu schleifen und eine Infrastruktur der Superlative zu erschaffen. Daß er Milliarden an Steuergeldern in ein Wachstum auf tönernen Füßen pumpt, mafiöse Verfilzungen von Staat und Sektoren der Baubranche alimentiert, nebenbei seinen Familienclan bereichert, massive Umweltzerstörungen herbeiführt, sklavenähnliche Arbeitsbedingungen erzwingt und auch dabei über Leichen geht, liegt auf der Strecke.

So sind nach Angaben der Zeitung Cumhuriyet vom Februar während der rund vierjährigen Bauzeit des neuen Großflughafens in Istanbul bereits 400 Arbeiter tödlich verunglückt. Das Arbeitsministerium dementierte diese Zahl und sprach von lediglich 27 Toten. Mehr als 30.000 Arbeiter bauen rund um die Uhr, die Eröffnung soll bereits am 29. Oktober, dem türkischen Nationalfeiertag, stattfinden. Dieser präsidial verfügte Termindruck fordert zwangsläufig seinen Tribut. Das gesamte Team, vom Führungspersonal bis zum einfachen Arbeiter, sei einem unfaßbaren Produktionsdruck ausgesetzt, berichtet Özgür Karabulut, Vorsitzender der regierungskritischen Gewerkschaft Dev-Yapi-Is. Der Zwang, möglichst schnell zu arbeiten, führe zu den meisten oft tödlichen Unfällen. Ursache seien vor allem Stürze aus der Höhe und Unfälle mit Bauschuttlastern, fast täglich verunglückten Lastwagen oder Busse.

Nachdem zwei Männer schwer verletzt worden waren, als sie von einem Dach stürzten, und wenig später beim Unfall eines Shuttlebusses 17 Arbeiter Verletzungen davongetragen hatten, traten am Freitag Tausende Arbeiter spontan in den Ausstand. Sie protestieren nicht nur gegen die unzureichenden Sicherheitsbedingungen, sondern auch gegen schlechte Essensversorgung und unhygienische Zustände in den Wohncontainern. Zudem fordern die Beschäftigten ihre teilweise seit einem halben Jahr ausstehenden Löhne, da zahlreiche Subunternehmer aufgrund des Währungsverfalls bankrott gegangen sind. "Wir werden nicht zulassen, dass die Baustelle zu einem Sklavencamp wird", heißt es in einer Erklärung der Bauarbeitergewerkschaft Insaat-Is.

Die Polizei löste eine Protestkundgebung auf der Baustelle mit Tränengas auf, und gegen Mitternacht stürmten Einheiten die Schlafcontainer der Streikenden und nahmen rund 600 Arbeiter fest, die in verschiedene Kasernen der Militärpolizei verschleppt wurden. Am Samstag kam es zu weiteren Festnahmen vor Ort, und in Istanbul wurden bei einer Pressekonferenz der Gewerkschaften zahlreiche Teilnehmer verhaftet. Dennoch setzten am Samstag mehrere tausend Arbeiter auf der von der paramilitärischen Polizei mit Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen besetzten Baustelle ihren Ausstand fort.

Der noch namenlose riesige Airport am Schwarzen Meer mit sechs Landebahnen soll als dritter Istanbuler Flughafen den weiter südlich an der Küste des Marmarameeres gelegenen Atatürk-Flughafen ersetzen. Das neue Luftdrehkreuz für die Fluggesellschaft Turkish Airlines, die ihr Streckennetz in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut hat, gehört zu den ambitioniertesten Projekten Erdogans. In der Anfangsphase sollen dort 90 Millionen Passagiere verkehren, doch soll ihre Zahl mittelfristig auf 200 Millionen steigen, womit dies der größte Flughafen der Welt wäre. [2] Die Gesamtkosten des Projekts werden auf weit über 30 Milliarden Euro geschätzt. Verkehrsminister Lütfi Elvan verkündete vor zwei Jahren großspurig: "Wir haben die Welt überholt, in der Luft kennen wir keine Konkurrenten."

Die Auswahl des Standortes in einem Waldgebiet stieß auf Kritik von Umweltschützern. Ein Expertenbericht hatte schon vor Jahren davor gewarnt, die Wälder im Norden der Stadt zu bebauen, da sich dort wichtige Trinkwasserreservoirs befinden und gravierende Auswirkungen auf die Vogelzugrouten zwischen Europa und Asien befürchtet werden. Bei Protesten rief Erdogan den Demonstrierenden höhnisch zu: "Geht und lebt im Wald!" [3]

Der neue Großflughafen ist indessen nur ein Glied in der Kette höchst waghalsiger Vorhaben des Präsidenten. Der erste transkontinentale Tunnel der Welt wurde 2013 eröffnet, wie von Erdogan gewünscht rechtzeitig zum 90. Geburtstag der Republik. Der Bahntunnel verläuft als 14 Kilometer lange Röhre unter Bosporus, Schwarzem Meer und Marmarameer, die S-Bahnen können stündlich bis zu 75.000 Menschen transportieren. Technisch war der Bau enorm aufwendig, was sich in Kosten von mehr als 2,5 Milliarden Euro niederschlägt. Da sich in nur 20 Kilometern Entfernung die berüchtigte Nordanatolische Verwerfungszone befindet, wird befürchtet, daß der Tunnel nicht gegen die zahlreichen Erdbeben in der Region gewappnet sei. Doch der Verkehrsminister behauptete, der Tunnel sei "der sicherste Ort in Istanbul" und würde auch Beben der Stärke 9,0 aushalten.

Der Präsidentenpalast in Ankara wurde 2014 fertiggestellt und von Erdogan an seinem Geburtstag eingeweiht. Natürlich ist Ak Saray - der "Weiße Palast" - größer als der Buckingham Palace, der Élysée in Paris oder das Weiße Haus. Die steingewordene Machtdemonstration verfügt auf etwa 40.000 Quadratmetern über rund 1000 Zimmer. Es soll einen unterirdischen Fluchtweg geben, einen abhörsicheren Bunker und vieles mehr. Je nach Quelle soll das pompöse Dienstgebäude zwischen 270 und 400 Millionen Euro verschlungen haben. Erdogan setzte sich damit über Gerichtsurteile und Gesetze hinweg, nachdem das höchste türkische Verwaltungsgericht den Bau verboten hatte, weil das Gebäude mitten in einem Naturschutzgebiet steht.

Auf einem Hügel über dem asiatischen Teil Istanbuls wurde binnen drei Jahren die Camlica-Moschee errichtet, die größte Moschee der Türkei. Sie hat die höchsten Minarette der Welt - vier Türme mit je 107,1 Metern Höhe, zwei weitere mit 90 Metern. Die 107,1 Meter verweisen auf das Jahr 1071 - damals kam es zur Schlacht von Manazgirt, bei der die Seldschuken die christlichen Byzantiner besiegten und damit die Eroberung Anatoliens durch die Türken einleiteten. Der gewaltige Sakralbau für bis zu 60.000 Gläubige thront als Prestigeobjekt über Istanbul und signalisiert den säkularen Bevölkerungsteilen gleichsam die zunehmende Islamisierung des Landes.

Ende August 2016 wurde nach knapp vierjähriger Bauzeit die dritte Brücke über den Bosporus eröffnet. Eine achtspurige Fahrbahn und zwei Gleistrassen verbinden den europäischen und den asiatischen Teil von Istanbul. Die breiteste und mit 322 Metern an der Spitze ihrer Pfeiler höchste Brücke der Welt ist nach Yavuz Sultan Selim (1470-1520) benannt. Er ist auch als "der Grausame" bekannt, da er Krieg gegen Persien führte, Truppen nach Kairo und Aleppo entsandte sowie Blutbäder unter Aleviten und Schiiten anrichtete. Das imposante Bauwerk soll die Steuerzahlenden rund drei Milliarden Euro gekostet haben. Auch diesem Projekt fielen große Waldgebiete zum Opfer, die Gefährdung wichtiger Trinkwasserreservoirs wurde in Kauf genommen.

Ein weiteres fragwürdiges Prestigeprojekt ist die im vergangenen Jahr in Angriff genommene Canakkale-Brücke. Das auf 2,4 Milliarden Euro veranschlagte Bauwerk soll die Dardanellen überspannen und mit einer Spannweite von über zwei Kilometern die längste Hängebrücke der Welt werden. Die Eröffnung ist für 2023 geplant, das Jahr des Jahrhundertjubiläums.

Zu den Bauvorhaben, die in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden, gehört der "Große Istanbul Tunnel", der erste dreistöckige Unterwassertunnel der Welt. Er wird unter dem Bosporus das europäische Ufer Istanbuls mit der asiatischen Seite verbinden. Nach der für 2020 geplanten Fertigstellung sollen auf der untersten und der obersten Ebene der Röhre Autos auf zwei Fahrspuren in jeweils einer Richtung fahren. Dazwischen verlaufen im mittleren Stockwerk des Tunnels zwei Gleise für die U-Bahn. Pro Tag sollen 120.000 Autos die 6,5 Kilometer lange Röhre durchfahren.

Selbst Erdogan spricht von einem "verrückten Projekt", wenn es um den geplanten "Kanal Istanbul" geht. Die 145 Meter breite und 25 Meter tiefe künstliche Schiffsroute soll das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden und so den Bosporus als parallele Wasserstraße entlasten. Die Kosten für den 40 bis 50 Kilometer langen Kanal werden derzeit auf bis zu 14 Milliarden Euro geschätzt. Ein besonderes Augenmerk gilt auch hier wieder der symbolischen Bedeutung: Die ersten Ideen für solch einen Kanal sind mehrere hundert Jahre alt und stammen von osmanischen Sultanen, an deren Ideen Erdogan bewußt anknüpft, und der angedachte Fertigstellungstermin ist - wie könnte es anders sein - wiederum 2023. An den Ufern der Wasserstraße soll eine neue Trabantenstadt entstehen. Umweltschützer befürchten, der neue Kanal werde den natürlichen Grundwasserhaushalt der ganzen Region stören und damit die Trinkwasserversorgung der 18-Millionen-Metropole Istanbul gefährden.

Damit nicht genug, sind weitere Großprojekte wie Regionalflughäfen, Hochgeschwindigkeitstrassen der Bahn, Brücken, Tunnels und Autobahnen geplant. Mit der Investitionsoffensive will Erdogan die Konjunktur anfeuern, obgleich die hohe Inflation, das wachsende Leistungsbilanzdefizit, rückläufige ausländische Investitionen und ein dramatischer Verfall der Landeswährung die Gefahr einer Krise verschärfen. Der türkische Wirtschaftsboom basiert zu wesentlichen Teilen auf Krediten, und ein großer Teil der privaten Haushalte ist überschuldet. Schon seit Jahren warnen Wirtschaftsexperten vor einer gigantischen Immobilienblase, die sich in der Türkei aufbaut. Als der Wohnungsmarkt 2014 schwächelte, standen allein in Istanbul 1,5 Millionen Wohnungen leer, die Verkäufe sanken rapide. Die Regierung versuchte gegenzusteuern, indem sie Ausländern den Immobilienkauf in der Türkei erleichterte, aber das bremste den Sturz nicht nachhaltig. Während heute die Preise in Zentrumsnähe ungebrochen hoch sind, fallen sie in weiter abgelegenen Bezirken ins Bodenlose. [4]

Dessen ungeachtet pumpt die Regierung weiter Unsummen aus der Steuerkasse in die private Bauindustrie, türkische Großunternehmen und internationale Konsortien scheffeln Milliarden. Daß Erdogan lukrative Projekte unter seinen Günstlingen in der Wirtschaft verteilt, wurde bereits im Korruptionsskandal Ende 2013 publik, der enge Verflechtungen zwischen ihm, der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI und der Baubranche ans Licht brachte. Auf diese Weise bindet er wachsende Teile der nationalen Kapitalfraktionen an seine Führerschaft, was sich im Zuge der Beschlagnahmung der mit Gülen assoziierten Besitzstände nach dem Putschversuch im Sommer 2016 noch einmal beschleunigte. In paternalistischem Gestus des Machthabers verwandelt er den staatlichen Versorgungsauftrag in generöse Geschenke an die Bevölkerung, die an der erfurchtgebietenden Größe der Monumente das Ausmaß seiner Güte messen und mit ihrem eigenen Stolz kreuzen sollen. Die Frage, ob diese Flughäfen, Brücken, Tunnel und Kanäle ihr Leben wirklich verbessern und wem das repressive Regime tatsächlich zum Vorteil gereicht, verblaßt zur Unkenntlichkeit, wenn es heißt: "Türkiye büyüktür" - die Türkei ist groß!


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/339943.arbeitskampf-in-der-türkei-wir-sind-keine-sklaven.html

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-hunderte-arbeiter-bei-streik-festgenommen-a-1228304.html

[3] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_78785814/tuerkei-istanbul-erdogan-protzt-mit-neuer-bosporus-bruecke.html

[4] www.heise.de/tp/features/Erdogans-Bauprojekte-Das-neue-Gesicht-der-Tuerkei-3318559.html

17. September 2018


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