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RAUB/1179: Hartz IV - und was dann ... (SB)



Der Nebeneffekt von Hartz IV war ja nicht nur, dass die Erwerbslosen drangsaliert werden und dass sie sich mehr oder weniger nackt ausziehen müssen, sondern hat ja auch einen unendlich großen Druck gehabt auf die Menschen, die beschäftigt sind, weil die Philosophie war, dass man jede Arbeit annehmen muss, sei sie noch so niedrig bezahlt und sei sie noch so schlecht. Diese Philosophie lehnen wir ab. Die ist unwürdig für einen Sozialstaat.
Bernd Riexinger im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [1]

Während die Älteren dem abgeschafften Sozialstaat nachtrauern und die Jüngeren nie einen kennengelernt haben, drehen die Sachwalter der Herrschaftssicherung und die Produzenten des Unwerts das Rad weiter. Was kommt nach Hartz IV? Überläßt man die Antwort denselben Clustern aus Denkfabriken, Administratoren des Arbeitszwangs und Technokraten des Elendsregimes, läuft dies auf eine bislang ungekannte Form der Verfügung hinaus, welche selbst die Armutsverwaltung und Ausgrenzung der Agendapolitik in den Schatten stellt. Bezeichnenderweise ist die Kritik an den Hartz-Gesetzen ausgesprochen defensiv aufgestellt, als sei eine mehr oder minder weitgehende Rücknahme der gravierendsten Auswüchse dieser Kürzung der Einkünfte und Abstrafung aus nichtigstem Anlaß die einzig denkbare Option. Hat nicht das totgesagte Kapital noch immer eine Antwort auf die Krise gefunden und die Ausbeutung auf eine höhere Stufe transformiert? Und treibt nicht der Sicherheitsstaat sein repressives Potential weit über die aktuellen Erfordernisse hinaus in Umsetzung seiner Präventivlogik unablässig voran? Nostalgische Rückschau auf weniger schlechte Zeiten oder gar unbegründete Hoffnungen, die krisengeschüttelte Profit- und Wachstumsökonomie werde sich eher früher als später selbst zu Grabe tragen, könnten ungeeigneter nicht sein, den strategischen Zukunftsentwurf hiesiger Eliten zu erahnen und sich für kommende Auseinandersetzungen zu rüsten.

Wenn sich deutsche Parteipolitik 15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV in vollmundigen Versprechen auf Abhilfe überschlägt, ist Argwohn das Gebot der Stunde. Nichts wäre gegen die vollständige Abschaffung dieses Zwangsregimes einzuwenden, würde es denn durch ein Solidarprinzip ersetzt, daß diesen Namen auch verdient. Statt dessen ist zumeist von Reformen die Rede, was doch wohl nur bedeuten kann, einen minderen Bruchteil sozialer Grausamkeiten zu entschärfen, um das Instrumentarium der Drangsalierung erst recht zu versiegeln und zu verstetigen. Schlimmer noch lugt hinter der unverhofften Bereitwilligkeit, die Agendapolitik zur Disposition zu stellen, der Drang zur Durchsetzung eines Gesellschaftsentwurfs hervor, der die Zwangsjacke des sozialen Kerkers schnürt, die Grenzen zwischen Ein- und Ausschluß zur Undurchdringlichkeit verdichtet und Sphären des Überlebens von Sterbenszonen scheidet.

Wollte man von noch vorhandenen Restbeständen eines ansonsten kahlgeschlagenen Sozialstaats sprechen, die zumindest einem bescheidenen Versorgungsanspruch Anhaltspunkte böten, droht selbst diesem arg eingeschränkten Konfliktpotential der Boden entzogen zu werden. Auf der Tagesordnung steht das Ende der kapitalistischen Klassengesellschaft - jedoch nicht durch deren Überwindung in Gestalt einer Umwälzung, sondern durch die vollendete Entsorgung jeglicher Angriffsflächen im Denken und Handeln des für nichtexistent erklärten Kollektivs der lohnabhängig Beschäftigten und aus dem Erwerbsleben entsorgten Surplusbevölkerung. Da man nur insofern relevant von einer Klasse der Kapitalisten sprechen kann, als diese von einer im Kampf erwachten antagonistischen Klasse konfrontiert wird, trachtet erstere stets danach, ihren Widerpart zu atomisieren und dessen Beteiligung an den herrschenden Verhältnissen zur einzig vorstellbaren Maxime zu versiegeln.

Hartz IV ist eine Kernkomponente der sozialen Kriegsführung und läßt sich nur in deren Kontext angemessen analysieren und angreifen. Wenn sich das Bundesverfassungsgericht nun der Frage annimmt, wie hart der Staat Hartz-IV-Empfänger bestrafen darf, wird die Schuld der Mehrheitsbevölkerung an ihrem eigenen Schicksal höchstrichterlich präzisiert und damit als solche vorausgesetzt. Die Verfassungsrichter wollen klären, ob die aktuellen Sanktionsregeln mit dem Grundgesetz vereinbar sind: Erlaubt die Verfassung, daß ein Mensch eine Zeitlang mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muß? Und wenn ja, darf dies so geschehen, wie es das Sozialgesetzbuch vorschreibt und durch die Jobcenter umgesetzt wird? [2] Dabei läßt sich schon vorweg prognostizieren, daß zwar einige Sanktionen nach dem Urteil modifiziert werden dürften, aber das Karlsruher Gericht die Sanktionen keinesfalls in Gänze abschaffen, sondern eher noch vom Grundsatz her bekräftigen wird.

Sie sind als Instrumente der Disziplinierung unverzichtbar, weil aus staatlicher Sicht das Erfolgsmodell der deutschen Ökonomie damit steht und fällt, das Arbeitsregime durchzusetzen. Während die Hartz-IV-Sanktionen Hunderttausende Menschen unmittelbar betreffen, zielen sie zugleich als Damoklesschwert im Nacken aller Lohnabhängigen und von der Arbeitsgesellschaft Ausgespuckten auf eine umfassende Zurichtung, Reglementierung und Unterwerfung um der Sicherung der herrschenden Verhältnisse und deren Zukunftsfähigkeit willen ab.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/riexinger-linke-zu-hartz-iv-sanktionen-das-system-der.694.de.html

[2] www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/hartz-iv-vor-dem-verfassungsgericht-verstossen-sanktionen-gegens-grundgesetz-a-1247915.html

16. Januar 2019


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