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RAUB/1219: Frankreich - Streiks und Kämpfe zu erwarten ... (SB)



Das sind keine Neujahrswünsche, das ist eine Kriegserklärung an die Millionen Franzosen, die seine Reform ablehnen. Ein Außerirdischer hat gesprochen.
Jean-Luc Mélenchon über die Neujahrsansprache Präsident Macrons [1]

In seiner mit Spannung erwarteten Neujahrsrede hat Präsident Emmanuel Macron unterstrichen, daß er die höchst umstrittene Rentenreform durchsetzen will. Da das Land seit dem 5. Dezember durch zahlreiche Streiks und Blockaden in erheblichen Teilen lahmgelegt ist und die Gewerkschaften unter dem Druck der Basis selbst einen befristeten Weihnachtsfrieden abgelehnt hatten, war nicht auszuschließen, daß sich Macron zu gewissen Zugeständnissen genötigt sehen könnte. Der Präsident hatte sich während der Streiks sehr zurückgehalten und Premierminister Edouard Philippe für die Verhandlungen vorgeschickt. Nur einmal schaltete er sich von einem Afrikabesuch vor Weihnachten ein und bat um eine "Waffenruhe" zu den Festtagen, doch niemand erhörte ihn.

Für Macron ist es der zweite Winter der sozialen Proteste. Im vergangenen Jahr war er nach den landesweiten Blockaden und massenhaften Demonstrationen der Gelbwesten zurückgerudert und hatte die geplante Kraftstoffsteuer zurückgenommen wie auch weitere Zugeständnisse gemacht. Diesmal verhält er sich völlig anders, bleibt hart und unnachgiebig, um die wichtigste Reform seiner Amtszeit durchzudrücken, die er bereits im Präsidentschaftswahlkampf angekündigt hatte. Als der damalige Premierminister Alain Juppé 1995 versuchte, das Rentensystem zu reformieren, mußte er sein Vorhaben nach drei Wochen Streiks zurückziehen. Macron setzt hingegen auf Konfrontation und scheint entschlossen zu sein, in einem Machtkampf gegen weite Teile der Bevölkerung seine Präsidentschaft an einen Erfolg zu binden.

Macron gab sich in der traditionellen Neujahrsansprache aus dem Elysée-Palast weder spontan noch festlich, sondern erweckte den Eindruck, als lese er starren Blicks in die Kamera jedes Wort ab. Zwar zeichnete er ein Bild von Frankreich, in dem die Arbeitslosigkeit zurückgeht, die Wirtschaft besser läuft und der Umweltschutz hoch auf der Agenda steht, doch beschwor er ein ums andere Mal die Einheit der Nation und forderte, man dürfe vor weiteren Reformen nicht zurückschrecken. Die wichtigste Botschaft seiner 17 Minuten langen Rede war denn auch: "Die Rentenreform wird weiter verfolgt." Er verteidigte sein Projekt mit den Worten, er wolle "das Land verwandeln, stärker und gerechter machen". Er könne nachvollziehen, daß "die getroffenen Entscheidungen verletzen und Befürchtungen und Widerstand wecken können". Dies sei jedoch kein Grund, auf Änderungen zu verzichten. Ein Festhalten an den bisherigen Regelungen bedeute "Verrat an unseren Kindern und deren Kindern, die dann den Preis für unseren Verzicht zahlen müssen", griff Macron tief in die ideologische Mottenkiste. [2]

Das französische Rentensystem wird als veraltet bezeichnet, weil es 42 verschiedene Pensionsregelungen umfaßt. Dabei variieren Renteneintrittsalter und Pensionsleistungen, so können beispielsweise Bahnangestellte wesentlich früher in Rente gehen als andere Beschäftigte. Entscheidend für die Reformpläne ist jedoch das Milliardendefizit der Rentenkassen, das Macron abbauen will, wobei natürlich auf der Hand liegt, wer die Zeche bezahlen soll. Der Präsident erklärt das System für unfair und zu teuer, weshalb er auf Rentenpunkte umstellen will, die für alle gleichermaßen gelten sollen. Insbesondere aber soll das Eintrittsalter von derzeit 62 auf künftig 64 Jahre angehoben werden, was zur Folge hätte, daß eine reduzierte Rente erhält, wer vor 64 Jahren in den Ruhestand geht, es sei denn, er profitiert wie Polizeibeamte oder Soldaten von Sonderregelungen aufgrund des Berufs. In einer Welt, in der die Menschen immer später anfangen zu arbeiten und immer länger leben, sei es unerläßlich, länger zu arbeiten, verkündete Macron. Er verteidigte auch das Punktesystem und versprach zudem, daß bei der Reform Rücksicht auf Menschen genommen werde, die körperlich anstrengende Berufe ausüben. Sie sollen weiterhin früher in Rente gehen können. [3]

Die präsidiale Hiobsbotschaft zum Jahresbeginn rief harsche Kritik auf den Plan. Nicht nur der eingangs zitierte Mélenchon brachte die Stoßrichtung des elitären Auftritts auf den Punkt, vielmehr wurde Macron in vielen Kommentaren als "selbstherrlich" und "arrogant" bezeichnet. Der konservative Abgeordnete Eric Ciotti sah die Rede als "emotionslos" und "ohne Perspektive", der Generalsekretär der französischen Grünen, Julien Bayou, beschimpfte Macron als "billigen Abklatsch von Sarkozy". Auch die Avancen des Präsidenten an die Gewerkschaftsführungen, er hoffe auf einen "schnellen Kompromiss", fielen auf keinen fruchtbaren Boden.

Der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes CGT, Philippe Martinez, rief für kommende Woche zu Streiks sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor auf. Er sehe keine neue Position der Regierung und habe das alles schon tausendmal gehört. Macron sei "ein Präsident, der in seiner Blase eingeschlossen ist und denkt, dass alles gut ist im Land. Das Alarmsignal muss lauter werden. Wir brauchen überall Streiks". Martinez erklärte sich "natürlich" bereit zu der nächsten Verhandlungsrunde mit der Regierung am 7. Januar, forderte aber weiterhin die Rücknahme der Pläne. Kritisch äußerte sich auch der Generalsekretär der drittgrößten Gewerkschaft Force Ouvrière (FO). Der Präsident habe nicht überzeugen können, erklärte Yves Veyrier. Die CFDT, der als größter Gewerkschaft eine Schlüsselrolle in den Verhandlungen mit der Regierung zukommt, reagierte zunächst nicht auf die Neujahrsrede. Sie befürwortet die Reform im Grundsatz, doch ist für ihren Vorsitzenden Laurent Berger angeblich mit dem geplanten Eintrittsalter von 64 Jahren eine "rote Linie überschritten".

Ab dem 7. Januar wollen die Angestellten des Energiesektors drei Tage lang Ölraffinerien und Treibstoffdepots blockieren, wodurch Benzin knapp werden könnte. Für den 9. Januar sind die nächsten Massenproteste geplant, dann wollen sich Lehrer, Hafenarbeiter, Krankenhausangestellte und Mitarbeiter anderer Bereiche des öffentlichen Dienstes den Streiks in den Verkehrsunternehmen anschließen. Sollte Macron darauf setzen, daß die Proteste abflauen, die verhandlungsbereiten Gewerkschaftsführungen einknicken und die Rentenreformpläne daraufhin ohne nennenswerte Abstriche durchgesetzt werden können, scheint er sich mit seiner konfrontativen Neujahrsrede einen Bärendienst erwiesen und für eine erneute Mobilisierung der breiten Protestbewegung gesorgt zu haben.

Warum versteift sich Emmanuel Macron auf eine Kriegserklärung, anstatt wie vor Jahresfrist Zuflucht zu einem angetäuschten Rückzugsmanöver zu nehmen, mit dem er den Protest der Gelbwesten zu befrieden hoffte? Zum einen hat das schon damals nicht wirklich funktioniert, worauf die Regierung massive Polizeirepression auffahren ließ. Zum anderen ist die Rentenreform ein Kernelement nicht nur der Präsidentschaft Macrons, sondern der französischen Eliten, die das Land nach deutschem Vorbild im Sinne einer höheren Profitrate des einheimischen Kapitals, eines gebändigten Widerstands von unten und eines Wiedererstarkens nationaler Größe auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesrepublik zurichten wollen. Nachdem seine Vorgänger Sarkozy und Hollande mit dem Vorhaben gescheitert sind, entsprechende Reformen durchzusetzen, bot sich Macron als neue Heilsfigur des Neoliberalismus europäischer Prägung zur Realisierung dieses Gewaltakts an. Bei seinem Amtsantritt äußerte er den Wunsch nach einer jupiterhaften Regentschaft, womit er eine heimliche royalistische Sehnsucht vieler Landsleute bediente. Er setzte dies zu Beginn seiner Amtszeit durch und gebärdete sich seiner Herkunft gemäß arrogant bis elitär, wovon er später aus taktischem Kalkül etwas Abstand genommen hat.

Während der Reformprozeß in Deutschland sehr viel länger gedauert hatte und auf eine jahrzehntelang ausgebaute Sozialpartnerschaft mit zahnlosen Gewerkschaftsführungen zurückgreifen konnte, machte sich Macron daran, die Reformen im eher widerborstigen Frankreich in rasantem Tempo durchzuziehen. Den zweiten Teil des Arbeitsgesetzes verfügte er sogar per Verordnung, statt ihn parlamentarisch absichern zu lassen. Das hat den nationalen Eliten und der EU sehr gefallen, aber das Faß zum Überlaufen gebracht. Im französischen Arbeitsrecht hat das Gesetz Vorrang vor allen anderen Vereinbarungen um Tarife oder in den Betrieben, während in Deutschland ein Gesetz über Betriebsvereinbarungen ausgehebelt werden kann. In Anpassung an das deutsche Modell stärkt Macrons neues Arbeitsrecht die Betriebsebene, die Gesetze beispielsweise zu Arbeitszeiten unterlaufen kann. Zudem ist dies der entscheidende Schub für die Präkarisierung aller Lebensverhältnisse, da es keine fest garantierten Arbeitsverträge wie bei den Eisenbahnern mehr gibt. Dementsprechend heftig entfaltete sich der Widerstand gegen die neuen Arbeitsgesetze, der zwar letzten Endes nicht erfolgreich war, aber viele Erfahrungen sammelte, die in die nachfolgenden Kämpfe einflossen.

Macrons Bild eines Landes, in dem sich positive Entwicklungen deutlich abzeichnen, könnte irreführender nicht sein. Das gesellschaftliche Szenario ist von Krisen gekennzeichnet: Deindustrialisierung, hohe Arbeitslosigkeit, permanentes Außenhandelsdefizit, öffentliche Verschuldung bei 99 Prozent. Auch in Frankreich wird die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Anliegen der Menschen und dem Machtanspruch der Regierung immer größer. Etwa 8,8 Millionen Menschen haben weniger als 1000 Euro im Monat zur Verfügung, davon 5 Millionen weniger als 850 Euro. Die Hälfte der Bevölkerung verfügt über weniger als 1500 Euro monatlich. Diese Verelendung, Ausgrenzung und Entwürdigung verschärft Macron mit seinen am Hartz-IV-Modell angelehnten Reformen.

Es kommt ihm gelegen, daß er es im aktuellen Konflikt nicht in erster Linie mit den Gelbwesten, sondern den Gewerkschaften zu tun hat, mit denen seit Monaten verhandelt wird. Das gesellschaftliche Klima hat sich jedoch im Kontext der Gilets Jaunes spürbar verändert, und da die Rentenreform alle Menschen betrifft, stehen die Gewerkschaftsführungen unter wachsendem Druck der Basis, sich nicht nur kampfbereit zu gebärden, sondern auch keinen Kuhhandel mit der Regierung einzugehen. Im vergangenen Jahr mobilisierten Klimaprotest, Gelbwesten und Gewerkschaften unter dem Motto "Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit", um auf der Straße deutlich zu machen, daß diese Fragen nicht voneinander zu trennen sind. Der französische Staat faßte eine mögliche "Konvergenz" verschiedener Protestbewegungen als Bedrohung auf und begegnete dieser mit Verboten, einem enormen Polizeiaufgebot und massiver Repression. Ihm geht es darum, die Menschen einzuschüchtern, die Bewegungen zu spalten, den Protest zu kriminalisieren und die Kontrolle der Straße wie auch der Deutungsmacht wiederzugewinnen.

Im Jahr 2015 wurde unter Hollande der Ausnahmezustand verhängt und seither mehrfach verlängert. Macron hob ihn auf, indem er die darin vorgesehenen erweiterten Möglichkeiten der Exekutive ins Gesetz schrieb und damit zur Regel machte. Hinzu kam ein neues Demonstrationsgesetz, das präventive Verhaftungen gestattet. Vor kurzem wurde auch ein Vermummungsverbot erlassen, wie es in Deutschland schon lange gilt. Die Brutalität der französischen Polizei, die sich in der Banlieue und bei großen Streiks schon seit Jahrzehnten austobt, richtete sich voller Wucht auch gegen die Gelbwesten. Die Staatsgewalt steht bereit, die ausbrechenden Klassenkämpfe im Keim zu ersticken, steckt damit jedoch die Lunte an ein Pulverfaß sozialer Verwerfungen und anwachsenden Zorns, das zur Explosion drängt.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/gewerkschaft-ruft-zu-neuen-streiks-in-frankreich-auf-heftige-kritik-nach-macrons-silvesterrede/25379956.html

[2] www.welt.de/newsticker/news1/article204689534/Rente-Gewerkschaften-durch-Macrons-Neujahrsrede-nicht-besaenftigt.html

[3] www.faz.net/2.1677/frankreich-macron-haelt-an-umstrittener-rentenreform-fest-16560491.html

3. Januar 2020


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