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RAUB/1229: Chile - Proteste gegen Gewalt wachsen an ... (SB)



Soziale Bewegungen in Chile wurden immer von Frauen vorangetrieben. Vor Jahrzehnten, während der Diktatur, führten Frauen den Widerstand an - von der Organisation von Suppenküchen bis zum Kampf für die Menschenrechte. Unsere Rolle ist auch heute noch von zentraler Bedeutung.
Belén Calcagno (Chilenische Aktivistin aus Concepción) [1]

Am Internationalen Frauenkampftag sind in Santiago de Chile nach Schätzungen der Polizei am Sonntag über 125.000, laut den Organisatorinnen rund 500.000 Demonstrierende auf die Straße gegangen. Die Menge der Protestierenden erstreckte sich nach Beobachtung von Journalistinnen der AFP über eine Länge von vier Kilometern. Als Demonstrierende versuchten, Barrieren rund um den Präsidentenpalast zu überwinden, wurden sie von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern zurückgetrieben. "Wir werden heute Geschichte schreiben", hatte die Sprecherin des Organisationsbündnisses 8M, Javiera Mani, in der Zeitung El Mercurio angekündigt. Die Demonstrantinnen protestierten vor allem gegen die Gewalt gegen Frauen und forderten eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Viele trugen grüne Kopftücher, die den Kampf für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch symbolisieren. Sie forderten eine Stärkung der Frauenrechte in der neuen Verfassung und zeigten an vielen Stellen die Performance "Un violador en tu camino" (ein Vergewaltiger auf deinem Weg) der chilenischen Gruppe Las Tesis, die in den vergangenen Monaten zur globalen Hymne der Feministinnen geworden war. [2] Beim feministischen Generalstreik am Montag versammelten sich landesweit sogar zwei Millionen Menschen auf den Straßen und Plätzen.

"Un violador en tu camino" wurde erstmals am 20. Oktober 2019 in Valparaíso aufgeführt, als Tausende Frauen vor einer Kathedrale gegen die Gewalt an Frauen protestierten. Die chilenischen Frauen wollen so gegen Frauenhaß und Vergewaltigung zu Felde ziehen. Die Täter werden nicht bestraft und Frauen verschwinden spurlos. Daher singen die chilenischen Frauen auch: "Das Patriarchat ist ein Richter, der uns verurteilt für unsere Geburt. Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du jetzt siehst". Das Video wurde in kurzer Zeit weltweit geteilt, und Frauen in zahlreichen Ländern schlossen sich dem Protest an.

Seit Beginn der massenhaften Proteste in Chile Mitte Oktober 2019 ist es nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) in einem großen und organisierten Maße zu sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen in Polizeigewahrsam gekommen. Es wurden etwa 200 Fälle von sexualisierter Gewalt in Polizeiwachen registriert. Die Fotojournalistin Albertina Martinez Burgos wurde brutal ermordet, weil sie Fälle sexueller Gewalt von Polizisten während der Demonstrationen dokumentierte. Am 23. November 2019 fand man sie in ihrem Haus in Santiago de Chile. Die 38jährige war vor ihrem Tod verprügelt worden und ihr Körper war mit Stichwunden übersät. Ihre Kamera und der Computer waren verschwunden. Als weitere Warnung für alle Frauen, die gegen die Regierung protestieren, wurde Daniela Carrasco vergewaltigt, gefoltert und umgebracht. Die 36 Jahre alte Straßenkünstlerin, bekannt als La Mimo, wurde zuletzt bei ihrer Verhaftung durch die Polizei gesehen. Wenig später fand man sie an einem Zaun südlich von Santiago aufgehängt. Andere Aktivistinnen mußten ins Ausland fliehen, nachdem sie wiederholt Morddrohungen erhalten hatten.

Seit Oktober letzten Jahres wird Chile von einem sozialen Aufstand erfaßt, der in den größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes kulminierte. Die Protestwelle war von Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe initiiert worden, die gegen hohe Preise im Nahverkehr zu massenhaftem Schwarzfahren aufriefen. Die Proteste weiteten sich binnen kürzester Zeit zu landesweiten Unruhen und Streiks aus, die den Zorn angesichts steigender Kosten in vielen Bereichen, aber bald auch die extreme Ungleichheit und die staatliche Gewalt zur Sprache brachten. Verschiedene Berufsverbände schlossen sich dem Protest an, Lehrer, Krankenhauspersonal und Bergarbeiter streikten, wichtige Verkehrsadern wurden blockiert.

Mit Beginn der Weihnachtszeit und der Sommerpause flachten die landesweiten Demonstrationen dann zunächst etwas ab. Inzwischen hat das neue Schuljahr und Hochschulsemester begonnen, womit für viele Familien die Urlaubszeit endet. Seither gewinnen die sozialen Proteste wieder an Fahrt. Am ersten Montag im März erwachte Santiago mit über 80 Barrikaden an zentralen Plätzen der Hauptstadt, die den Verkehr weitgehend zum Erliegen brachten. Im Laufe des Tages wurden Dutzende Schulen und Universitäten besetzt, während Tausende Menschen in allen Teilen der Stadt die U-Bahn-Stationen übernahmen, so daß die Züge ohne gelöste Fahrkarten benutzt werden konnten. Gegen Abend wurden weitere Barrikaden errichtet, und vielerorts versammelten sich Menschen, um ihrem Unmut durch das Schlagen mit Löffeln gegen Töpfe und Pfannen Luft zu machen.

Am vorangegangenen Freitag war mit dem 24jährigen Ariel Montero bereits das 46. Todesopfer durch Polizeigewalt zu beklagen. Die Polizei ging massiv gegen die Protestierenden vor, am Montag schoß sie zwei weiteren Menschen die Augen aus und in der Stadt Antofagasta nach Angaben von Augenzeugen mit scharfer Munition auf eine junge Demonstrantin. Dort wie auch in Concepción und Temuco kam es ebenfalls zu Aktionen. Regionale Probleme wie Wasserknappheit, der Kampf der Indigenen gegen Rassismus und Landraub oder die Räumung von Siedlungen trugen zur größeren Mobilisierung bei. Im März sind weitere Proteste gegen die Fahrpreise im Nahverkehr, das marode und privatisierte Bildungssystem und die niedrigen Löhne zu erwarten. Soziale Bewegungen und Initiativen gegen das Rentensystem, für sozialen Wohnungsbau oder gegen Wasserprivatisierung haben Demonstrationen angekündigt. Zudem geht die Kampagne für eine neue Verfassung, über die am 26. April abgestimmt werden soll, in die heiße Phase. Vorläufiger Höhepunkt sind jedoch der Weltfrauentag und der darauf folgende Generalstreik, die abermals unterstreichen, daß die Kämpfe der Frauen die diversen Strömungen des Protests anführen. [3]

So rief das Bündnis 8M (Coordinadora Feminista 8M - CF8M) zusammen mit weiteren Organisationen zu einem "feministischen März" auf und kündigte einen sogenannten "Mobilisierungskalender" an. Fast täglich sind politische Aktionen geplant, und die 16 Hauptforderungen vereinen sich unter dem Motto "Gegen die Prekarisierung des Lebens". Darin enthalten ist die Bekämpfung von Sexismus und Rassismus im Alltag wie auch die Verbesserung von Sozialleistungen etwa bei Wohn- und Arbeitsrechten oder der sozialen Absicherung. Am Tag des Generalstreiks legen Frauen ihre produktive und reproduktive Arbeit nieder, um auch die Hausarbeit und die informelle Arbeit sichtbar zu machen. Die feministische Bewegung hat in Chile wie auch in vielen Nachbarländern massiven Zuwachs erfahren.

Präsident Miguel Juan Sebastián Piñera Echenique hatte zunächst versucht, den anwachsenden Protest mit massiver Repression niederzuschlagen. Als das Land jedoch einer Staatskrise entgegensteuerte, da sich die sozialen Bewegungen sehr schnell radikalisierten und weit über Tagesforderungen hinaus eine grundsätzliche Änderung des Gesellschaftssystems forderten, täuschte der Staatschef in einer vorgeblichen Kehrtwende plötzlich Einsicht und Kompromißbereitschaft vor. Seither geht die Regierung doppelgleisig vor und erfüllt dem Schein nach einige Forderungen, während die Polizei mit unverminderter Härte zuschlägt. Nach Angaben des INDH wurden seit Beginn der Proteste im letzten Oktober bereits 46 Menschen getötet, rund 3.700 verletzt und mehr als 10.300 festgenommen, wobei die Generalstaatsanwaltschaft sogar von mehr als 22.000 Festnahmen spricht. Bei zwölf Prozent davon handelt es sich um Kinder und Jugendliche.

Inmitten erneut anwachsender Proteste erließ Piñera Ende Februar eine Steuerreform, die Teil der Kompromisse sei, welche die Regierung mit der parlamentarischen Opposition ausgehandelt habe. Der Präsident hatte mehrfach Verbesserungen in Aussicht gestellt und erklärte nun, die Reform solle durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 40 Prozent die Besserverdienenden stärker belasten und darüber neue Investitionen sowie die Umsetzung der Forderungen der sozialen Bewegungen finanzieren. Die Reform stößt jedoch auf breite Kritik, da sie durch mögliche vorzeitige Abschreibungen und eine explizite Investitionsorientierung die Unternehmen und nicht die breite Bevölkerung begünstige, während die Steuererhöhung für Besserverdiener nur symbolisch sei. Zudem würde die Durchsetzung der Mehrwertsteuer verstärkt, die proportional stets die ärmeren Bevölkerungsteile stärker treffe. Während Teile der parlamentarischen Opposition von einem Betrug sprachen, betonte die Regierung ungerührt, daß die vorbildliche Zusammenarbeit mit der Opposition dieses Gesetzesvorhaben ermöglicht habe. Ungeachtet der tagtäglich auf der Straße vorgetragenen Forderung nach seinem Rücktritt erklärte Piñera: "Chile muss heute mehr denn je diesen Geist des Dialogs, der Zusammenarbeit und der Vereinbarungen am Leben erhalten. Die Herausforderungen, die vor uns stehen, sind zu groß, um sich über Kleinigkeiten zu zerstreiten." [4]

Die vom Präsidenten nicht näher ausgeführten "Kleinigkeiten" haben dazu geführt, daß in Chile 0,1 Prozent der Superreichen 19,5 Prozent des Gesamteinkommens und 1 Prozent 35 Prozent des Reichtums auf sich vereinen. Daß im "ungleichsten Land der Welt" für den Rest der Bevölkerung wenig übrigbleibt, außer diesen Reichtum für andere zu erwirtschaften, liegt ebenso auf der Hand wie die berechtigte Sorge in Kreisen der sechs bis acht Familien, welche die Wirtschaft des Landes kontrollieren, daß sie von einer massenhaften sozialen Erhebung weggefegt werden könnten.

Die Verfassung Chiles stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur und wurde nach deren Ende 1990 nur graduell verändert. Die Protestbewegung nahm die Forderung nach einer neuen Verfassung auf. Ende vergangenen Jahres lenkte Piñera schließlich ein und legte den 26. April als Termin eines ersten Referendums über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung fest. Während die Mobilisierung für dieses Vorhaben an Schwung gewinnt, wagt sich die chilenische Rechte nach Monaten in der Defensive aus der Deckung und hält mit einer Medienkampagne wie auch Aktionen in der Öffentlichkeit dagegen. Dabei ist es bereits zu Zusammenstößen zwischen den beiden Lagern gekommen. So versammelten sich mehrere hundert Demonstranten unter chilenischen und US-Fahnen wie auch Bildern Pinochets vor der Militärschule im Reichenviertel Las Condes und griffen Andersdenkende mit Holzstöcken an. Zudem beschimpften und schlugen sie Journalisten des Magazins The Clinic und zerstörten deren Presseausweise. [5]

Es steht zu erwarten, daß die Auseinandersetzungen an Schärfe zunehmen werden, je näher der 26. April rückt. Da nicht nur darüber abgestimmt werden soll, ob Chile eine neue Verfassung bekommt, sondern auch wer diese gegebenenfalls erstellen wird, bleibt der Inhalt zwangsläufig hoch umstritten. Die Regierung legt es zweifellos darauf an, die Protestbewegung damit auf ein Abstellgleis zu lenken und ruhigzustellen, notfalls zahnlose Änderungen in Kauf zu nehmen, welche die herrschenden Verhältnisse weitgehend festschreiben. Ob eine neue Verfassung mehr als ein Befriedungsmanöver sein kann, hängt maßgeblich vom Druck auf der Straße ab. Bislang konnte Piñera Zeit schinden und hoffen, daß sich die Proteste irgendwann erschöpfen und sich das veränderte gesellschaftliche Klima nicht in konkreten Umbrüchen zu Lasten der Eliten niederschlägt. Sollten die Auseinandersetzungen auf eine gravierende Zäsur zusteuern, steht zu befürchten, daß der Präsident eher zur Waffengewalt greifen als seinen Platz räumen und einem tatsächlichen Umbruch den Weg freigeben wird.


Fußnoten:

[1] www.netzfrauen.org/2020/03/08/chile-8/

[2] www.orf.at/stories/3157066/

[3] www.amerika21.de/2020/03/237888/chile-pinera-protest-maerz-schueler-unis

[4] www.amerika21.de/2020/03/237987/chile-proteste-steuerreform-pinera

[5] www.jungewelt.de/artikel/372833.proteste-in-chile-rechtes-aufbäumen.html

9. März 2020


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